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Mordserie in Delmenhorst und Oldenburg
Womit tötete Niels H.?
Mindestens 33 Menschen soll der Krankenpfleger Niels H. umgebracht haben. Den Ermittlungsbehörden zufolge könnten es sogar noch weit mehr sein, denen er in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst Arzneimittel in tödlicher Dosis verabreichte.
2015 wurde der frühere Krankenpfleger Niels H. wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Kurz vor Ende des Prozesses kam heraus: Es gab noch mehr Opfer. Es selbst soll damals erklärt haben, dass er weit mehr Morde verübt habe. Seiner Aussage nach mehr als 30, tatsächlich könnten es aber weit mehr Patienten sein, die er in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst tötete, schreiben die Polizeidirektion Oldenburg und der Staatsanwaltschaft Oldenburg in einer gemeinsamen Erklärung.
Er soll den schwerkranken Patienten Ajmalin (Gilurytmal®), ein Indolalkaloid aus Rauwolfia serpentina injiziert haben. Das Klasse-I-Antiarrhythmikum blockiert die Bildung und Fortleitung der kardialen Erregung durch Hemmung spannungsabhängiger Natriumkanäle. Auf diese Weise wird der schnelle Natriumeinstrom in die Myokardzellen während der Depolarisation (Phase 0 des Aktionspotentials) verhindert. Die Erregbarkeit des Herzens nimmt ab. Somit wirkt Ajmalin negativ bathmotrop. Zudem hat es eine negative chronotrope Wirkung, es verlängert also die Refarktärzeit des Herzens.
Arzneimittel mit geringer therapeutischer Breite
Aufgrund der geringen therapeutischen Breite kann es bei zu hoher Dosis oder schneller Injektion Herzrhythmusstörungen verursachen. Diese können, wenn nicht sofort interveniert wird, tödlich enden. Daher darf Ajmalin nur unter strenger kardiologischer Überwachung eingesetzt werden. Außerdem sollten eine Reanimationsausrüstung und geeignete Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, heißt es in der Fachinformation. Niels H. soll die Patienten durch Injektion des Arzneimittels in Lebensgefahr gebracht haben. Die Betreffenden mussten reanimiert werden, zum Teil ohne Erfolg, so die Ermittlungsbehörden.
Zugelassen ist Ajmalin bei symptomatischen und behandlungsbedürftigen Herzrhythmusstörungen im Vorhof des Herzens (supraventrikulär) und lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen der Herzkammern (ventrikulär). In der Fachinfo wird allerdings explizit darauf hingewiesen, dass bisher für kein Antiarrhythmikum der Klasse I eine lebensverlängernde Wirkung bei Herzrhythmusstörungen nachgewiesen werden konnte.
Leitlinien raten ab
Die Leitline „Management von Vorhofflimmern“ rät vom Einsatz von Ajmalin zu pharmakologischen Kardioversion ab. Der Wirkstoff sei hier ineffektiv heißt es. Mittel der Wahl sind bei neu aufgetretenem Vorhofflimmern Flecainid oder Propafenon. Bei zusätzlicher struktureller Herzerkrankung ist intravenöses Amiodaron das Mittel der Wahl. Auch bei anhaltendem Kammerflimmern oder ventrikulären Tachykardien wird nach der aktuellen europäischen Leitlinie Ajmalin nicht empfohlen.
Eine Rolle spielt Ajmalin bei der Diagnostik des Brugada-Syndroms. Eine seltene Erbkrankheit des Herzens, die mit typischen EKG-Veränderungen (Rechtsschenkelblock-ähnlich) einhergeht. Diese können allerdings wechselnd ausgeprägt und nur zeitweise vorhanden sein. Ajmalin oder andere Natriumkanalblocker wie Flecainid oder Procainamid verstärken oder demaskieren diese und werden daher zu diagnostischen Zwecken verabreicht.
Alkaloid der Indischen Schlangenwurzel
Strukturell ist Ajmalin ein Indolalkaloid aus Rauvolfiae radix, dem pharmazeutisch verwendeten Bestandteil von Rauvolfia serpentina (Indische Schlangenwurzel). Die Wurzeldroge der in Indien an den Hängen es Himalaya sowie Pakistan, Birma, Thailand, Sumatra, Java und Bormeo heimischen Pflanze enthält über 50 Indol-Alakaloide. Neben Ajmalin zum Beispiel auch die ebenfalls arzneilich genutzten Stoffe Reserpin (enthalten im Antihypertonikum Briserin®) und Yohimbin (Yocon® Glenwood gegen erektile Dysfunktion). Aufgrund ihrer erheblichen Nebenwirkungen unterliegen Rauwolfia-Arten, ihre Zubereitungen und Alkaloide der Verschreibungspflicht. Ausgenommen in sind homöopathische Zubereitungen zur oralen Anwendung.
Auf die Schliche kam man Niels H. der Deutschen Presse Agentur zufolge im Jahr 2005, nachdem eine Krankenschwester einem Patienten mit unerklärlichen Komplikationen eine Blutprobe entnommen hatte, in der man Gilurytmal® nachweisen konnte. Das Antiarrhythmikum soll aber nicht die einzige Mordwaffe gewesen sein. So wurde den Ermittlungsbehörden zufolge bei vier Toten in Oldenburg eine Vergiftung mit Kalium nachgewiesen. Die Ermittler hegen jedoch den Verdacht, dass H. noch andere Medikamente nutzte als bisher bekannt.
Stationsapotheker sollen helfen
Staatsanwaltschaft und Polizei gehen dem derzeit nach. Auch gegen drei Verantwortliche des Klinikums Oldenburg läuft ein Verfahren wegen des Verdachts des Totschlags durch Unterlassen. So sollen sie bereits frühzeitig gewusst haben, dass es auffällige Zusammenhänge zwischen Reanimationen, Sterbefällen und der Dienstzeit des Pflegers Niels H. gegeben hatte, so die Ermittler.
Als Lehre der Mordserie hatte ein Landtags-Ausschuss empfohlen, zukünftig Stationsapotheker in allen Kliniken in Deutschland einzuführen. So soll die Arzneimittelsicherheit erhöht und potenziell auch Kriminalität verhindert werden.
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