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„Mehr Rückendeckung für Apotheker“
Der EU-Abgeordnete Peter Liese kämpft gegen Lieferengpässe und sieht die Politik in der Pflicht
DAZ: Die EU-Kommission hat ein Strategiepapier gegen Arzneimittelengpässe vorgestellt. Sie sprechen bei den kurzfristigen Maßnahmen von einer Notoperation – wie groß ist denn die Überlebenschance des Patienten?
Liese: Das Thema ist sehr ernst – vor allem mit Blick auf den Winter. Es gibt oft keine optimale Therapie und es ist für Apotheker:innen, Ärzt:innen und medizinisches Personal eine extreme Belastung. Der Patient stirbt nicht, aber es ist eine ernsthafte Krankheit. Es gibt aus meiner Sicht als Arzt und aus Patientensicht zurzeit in Deutschland neben Migration und wirtschaftlichen Problemen kein anderes Thema, das so wichtig ist und bei dem sich die Menschen so konkret Sorgen machen.
DAZ: Es ist für diesen Winter ein Solidaritätsmechanismus vorgesehen. Wie wollen Sie besser verteilen, was gar nicht oder zu wenig vorhanden ist?
Liese: Die Probleme sind vielschichtig. Der erste Schritt ist: Die Europäische Kommission hat nun mehr Rechte, den Markt zu überwachen. Trotzdem fehlt es an Transparenz. Ein Großhändler sagte mir, dass sie in manchen Außenstellen-Lagern Probleme mit Amoxicillin haben – das ist aber der Europäischen Arzneimittelstelle nicht bekannt, weil die Hersteller sagen: Wir haben genug. Es ist also ein Verteilungsproblem. Möglicherweise hat der „Keine Hamsterkäufe“-Appell von Bundesgesundheitsminister Lauterbach eine umgekehrte Wirkung hervorgerufen: Viele Leute haben sich erst recht mit knappen Arzneimitteln eingedeckt. Der jetzt vorgesehene Solidaritätsmechanismus ist ein Instrument, das dazu dient, EU-Mitgliedstaaten in Ausnahmefällen zu unterstützen, wenn sie mit kritischen Engpässen bei der Versorgung mit wichtigen Medikamenten konfrontiert sind. Er greift nur, wenn ein Mitgliedstaat alle anderen verfügbaren Optionen zur Behebung des Engpasses ausgeschöpft hat und keine therapeutischen Alternativen zur Verfügung stehen.
Neuer Verteilmechanismus der Arzneimittel auf EU-Ebene
DAZ: Wie funktioniert der Verteilmechanismus genau?
Liese: Die Verteilung von knappen medizinischen Ressourcen im Rahmen dieses Mechanismus basiert auf dem Prinzip der Solidarität und der koordinierten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Hierbei geht es nicht darum, nicht vorhandene Ressourcen zu verteilen, sondern um die effiziente Allokation und Nutzung von vorhandenen, aber begrenzten Ressourcen innerhalb der EU, um eine Versorgungskrise zu verhindern oder zu mildern. Konkret funktioniert das so, dass ein Mitgliedstaat, der einen Engpass meldet, durch die Medicines Shortages Steering Group (MSSG) unterstützt wird. Diese Gruppe evaluiert die Anfrage und koordiniert die Kommunikation zwischen den Mitgliedstaaten, um zu ermitteln, ob andere Länder die benötigten Medikamente zur Verfügung stellen können. Die Entscheidungen darüber, wie die vorhandenen Medikamente verteilt werden, basieren auf den dringendsten Bedürfnissen und darauf, den größtmöglichen Nutzen für die Patienten in der ganzen EU zu erzielen. Die EMA spielt eine zentrale Rolle, indem sie Informationen sammelt und die logistische Organisation unterstützt, um sicherzustellen, dass die Medikamente dorthin gelangen, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Ein Mediziner für Brüssel
Dr. med. Peter Liese (58) sitzt seit 1994 als Europaabgeordneter der CDU für Nordrhein-Westfalen im Europäischen Parlament. Der Mediziner aus Meschede ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament und Sprecher der größten Fraktion (EVP-Christdemokraten) für Umwelt, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen. Von 2012 bis 2018 war Peter Liese zudem Mitglied im Bundesvorstand der CDU.
DAZ: Greifen die Maßnahmen nicht viel zu spät? Bereits im vergangenen Winter gab es Lieferengpässe. Und nach der Corona-Pandemie wollte man Produktion und Lieferketten auch schon krisenfest machen – ohne erkennbare Folgen.
Liese: Aus meiner Sicht geht es noch weiter zurück. Die Aktivitäten sowohl der deutschen Bundesregierung als auch der Europäischen Kommission kommen vier Jahre zu spät. Wir haben schon 2019 mit Experten auf dieses Problem hingewiesen. Die Warnungen sind leider verhallt. In meinem ersten offiziellen Antrag beim Europäischen Parlament 2019 habe ich die Frage nach systematischen Arzneimittelengpässen aufgeworfen. Von den anderen Fraktionen – Sozialdemokraten, Grüne, Linke und Liberale – gab es die lapidare Antwort: Wir haben den Green Deal und keine Zeit, uns mit Gesundheitsfragen zu beschäftigen. Es ist sträflich, dass wir auf taube Ohren gestoßen sind.
„Bei Generika liegen die Tagestherapiekosten teils bei 1 Cent – das ist nicht auskömmlich für Produzenten in Europa. Wir müssen bei den Generika mehr Geld ins System geben.“
DAZ: Gibt es jetzt eine höhere Priorität auf EU-Ebene?
Liese: Ja, bei den Akteuren ist das angekommen – auch bei der Kommissionspräsidentin und der Kommissarin. Ich hoffe, dass die Mitgliedstaaten mitziehen – da bin ich mir aber nicht bei allen sicher. Meine Kritik an Gesundheitsminister Lauterbach ist, dass er auf europäischer Ebene nicht sehr interessiert und nicht sehr gut vernetzt ist. Er hat auf meine Fragen bisher nicht geantwortet. Wir können das Problem aber nur gemeinsam lösen. Niemand wird eine Arzneimittelfabrik in Europa bauen, nur weil Deutschland irgendwelche Prioritäten setzt. Herr Lauterbach vermittelt den Eindruck, er habe mit seinen Initiativen in den vergangenen Monaten das Problem schon gelöst. Das ist es aber ganz sicher nicht.
DAZ: Was ist Ihr Hauptkritikpunkt an den Lauterbach-Vorschlägen auf nationaler Ebene?
Liese: Es ist richtig, Arzneimittel für Kinder besser zu honorieren und bei den Ausschreibungen stärker darauf zu achten, dass neben dem Preis auch die Produktion innerhalb der EU zählt. Aber erster Kritikpunkt: auch Arzneimittel für Erwachsene sind knapp und das führt zu dramatischen Situationen – etwa bei Herz- oder Krebsarzneimitteln sowie bei Mitteln gegen psychische Erkrankungen. Dort hat er keine Initiativen ergriffen. Zweitens: Die Kostenträger, also die Krankenkassen, sehen keine Notwendigkeit, bei Generika mehr Geld in das System zu geben. Ich sehe das anders: das müssen wir tun. Allerdings ist die Kritik der Kassen berechtigt, dass die Maßnahme allein in Deutschland die Produktion in Europa zu honorieren, verpufft. Lauterbach müsste die Maßnahmen mit seinen europäischen Kollegen gemeinsam umsetzen. Damit würde man den Herstellern das Signal geben: Das lohnt sich für euch – weil der Markt deutlich größer ist.
„Minister Lauterbach hätte die Engpässe viel früher angehen und auf europäischer Ebene arbeiten müssen.“
DAZ: Um die Arzneimittelproduktion zurück nach Europa zu holen – von welchen Zeiträumen sprechen wir da?
Liese: Es gibt zwei Punkte auch mit kurzfristiger Wirkung. Es gibt hierzulande Produktionsstätten und Kapazitäten, die nicht genutzt werden. Ein Generika-Hersteller erzählte mir, dass er sofort mit der Produktion starten könnte: Anlagen und Kapazitäten und Personal stünden bereit, aber er geht nicht in den Markt, weil er kein Minus machen will. Der zweite Punkt ist: wir brauchen sechs bis sieben Jahre, bis eine neue Arzneimittelfabrik in Europa genehmigt und gebaut ist. Die Hälfte der Zeit vergeht für Genehmigungsverfahren. Das muss man beschleunigen. Wir werden in Deutschland weder Arzneimittelengpässe, Wirtschaftskrise noch Energiewende schaffen, wenn wir nicht schneller mit Genehmigungsprozessen werden. Bürokratieabbau und schnellere Entscheidungen – das ist wichtig. Während Corona haben wir vieles schneller geschafft: das Impfstoff-Werk von Biontech in Marburg wurde in acht Monaten umgebaut.
DAZ: Der Preisdruck bei Generika ist enorm. Wie wollen Sie da die Preisschraube zurückdrehen?
Liese: Daran wird schon seit mehr als 20 Jahren gedreht, nicht erst seit den Rabattverträgen. Das hat sich über Jahre aufgebaut. Wir müssen Produktion und Lieferfähigkeit in Europa honorieren. Wer das zuverlässig garantieren kann und dort produziert, wo die Lieferketten einfacher sind, der sollte das bezahlt bekommen. Bei Generika liegen die Tagestherapiekosten teilweise bei 1 Cent – das ist nicht auskömmlich für Produzenten in Europa. Und der Generika-Anteil im Budget der Kassen ist nicht groß.
DAZ: Generika verursachen pro Jahr mit etwa zwei Milliarden Euro nur etwas mehr als 7 Prozent der GKV-Gesamtausgaben – decken aber 80 Prozent der Therapiedosen ab. Wie wollen Sie das Geld umverteilen?
Liese: Wenn ein Krankenhaus Kinder nicht nach Hause schicken kann, weil ein Antibiotikum oral fehlt, entstehen enorme Kosten in einem ohnehin überlasteten System. Der gesellschaftliche Schaden, der hier durch Arzneimittelknappheit entsteht, ist kaum zu beziffern. Es gibt in unserem Gesundheitssystem sehr viele Punkte, an denen wir effizienter werden können und müssen – auch außerhalb des Arzneimittelbereichs.
DAZ: Sehr teure, innovative Arzneimittel kommen wenigen Patienten zugute und machen nur etwa 5 Prozent der Tagestherapiedosen aus, verursachen aber den Hauptanteil der Gesamtkosten für Arzneimittel. Wäre hier eine Kosten-Umverteilung denkbar?
Liese: Ich bin sehr für Innovation und dafür, dass wir sie honorieren. Aber es gibt sehr viele Präparate, die nicht den gewaltigen therapeutischen Fortschritt bringen, sondern Metoo-Präparate sind und im ersten Jahr in Deutschland einen enormen Preis verlangen. Wenn wir all das in die Waagschale werfen, dann gibt es Grund, bei kritischen Generika mehr zu bezahlen. In Deutschland ist dieses Problem systematisch besonders ausgeprägt – hier wurde bei Generika besonders stark auf die Sparbremse gedrückt.
DAZ: Sie kritisieren hierzulande eine ausgeprägte „Billigmentalität“.
Liese: Ja – das hat mit der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und deren Berater Lauterbach angefangen. Allerdings muss man selbstkritisch anmerken, dass die CDU in ihrer Regierungszeit und auch die FDP mit Daniel Bahr und Philipp Rösler nicht die Kraft hatten, dies zu ändern. Es haben alle das Problem unterschätzt. Es wurde nicht entscheidend umgesteuert. Bei Jens Spahn (CDU) würde ich gewisse Gnade walten lassen, da er in der Pandemie andere Schwerpunkte setzen musste.
DAZ: Wie fällt Ihre Bilanz der Amtszeit von Minister Lauterbach aus?
Liese: Er hat zu Beginn eine zu hohe Priorität allein auf die Pandemie gelegt, obwohl nach Ansicht der Experten der Schrecken mit Omikron vorbei war – also spätestens im vergangenen Herbst. Er hätte früher die Engpässe angehen und auf europäischer Ebene arbeiten müssen. Wir können das Übel nur gemeinsam an der Wurzel packen.
„Die Apotheken stehen an der Front und müssen mehr Rückendeckung von der Politik bekommen, weil sie für Fehler der Politik nicht in Haft genommen werden dürfen.“
DAZ: In Deutschland streiken im November die Apotheker. Zu Recht?
Liese: Die Engpässe belasten die Apotheken enorm und bringen zusätzlichen Ärger und Arbeit mit sich. Die Apotheker stehen an der Front und müssen mehr Rückendeckung von der Politik bekommen, weil sie ihre Fachkompetenz einbringen und für die Fehler der Politik nicht in Haftung genommen werden dürfen. Zu Details in der deutschen Debatte erlaube ich mir kein umfassendes Urteil. Ich wertschätze das Apothekenwesen sehr. Die Attacken aus Brüssel auf das deutsche Apothekenwesen mit Blick auf das Wettbewerbsrecht haben wir erfolgreich mit der ABDA abwehren können.
DAZ: Was sagen Sie zu Lauterbachs „Apotheken light“-Plänen?
Liese: Wohnortnahe Versorgung ist extrem wichtig, das muss Politik berücksichtigen – bei allen Entscheidungen. Zu innenpolitischen Details habe ich keine abschließende Meinung - ich bezweifle, dass dies eine gute Idee ist. |
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