Arzneimittel und Therapie

Für wen überhaupt noch niedrig dosierte ASS?

Erhöhtes Risiko für intrakranielle Blutungen in der Primärprävention

Wer profitiert eigentlich von niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (ASS)? Nützt sie in der Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse oder profitieren nur Patienten in der Sekundärprävention? Und welche „Rand-Indikation“ darf nicht vergessen werden?

Einer Sekundäranalyse der ASPREE-Studie („Aspirin in reducing events in the elderly”) zufolge nützt niedrig dosierte Acetylsalicylsäure nichts in der Primärprävention ischämischer Ereignisse [1]. Von 19.114 Personen erhielten 9525 täglich 100 mg ASS und 9589 Placebo. Ihr medianes Alter lag bei 74 Jahren, sie hatten keine symptomatischen kardiovaskulären Erkrankungen, wie Vorhofflimmern, Schlaganfälle, kardiale Ischämien oder Herzinfarkte und wurden im Median über 4,7 Jahre beobachtet. Das Ergebnis: ASS senkte die Inzidenz ischämischer Schlaganfälle nicht signifikant, erhöhte jedoch das Risiko für intrakranielle Blutungen.

Welche Patienten profitieren von niedrig dosierter Acetylsalicylsäure? Während der Thrombozytenaggregationshemmer in der Sekundärprävention unumstritten ist, werden Nutzen und Risiko in der Primärprävention diskutiert.

Keine explizite Empfehlung für ASS in der Primärprävention

Diese neuen Studienresultate stützen die aktuellen Empfehlungen der Leit­linie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (European Society of Cardio­logy, ESC) [2], denn die ESC spricht sich derzeit nicht für eine allgemeine Primärprävention mit dem Thrombozytenaggregationshemmer aus. Die Fachgesellschaft begründet ihre Einschätzung mit einer 2009 im Journal „The Lancet“ veröffentlichten Metaanalyse [3]. In dieser reduzierte Low-dose-ASS zwar das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse um 12%, führte aber gleichzeitig zu einem signifikanten Anstieg gastrointestinaler Blutungen. Eine 2019 veröffentlichte Metaanalyse [4] fand ebenfalls keinen Vorteil für ASS hinsichtlich der kardiovaskulären Mortalität oder Gesamtsterblichkeit. Die Risiken für nicht tödliche Myokard­infarkte und ischämische Schlaganfälle waren allerdings verringert – mit dem Preis einer signifikant erhöhten Blutungsgefahr (nicht tödliche, schwere, intrakranielle und schwere gastrointestinale Blutungen). Jedoch räumt die europäische Fachgesellschaft der Kardiologen auch individuellen Spielraum ein: „Insgesamt sollte ASS zwar nicht routinemäßig an Patienten ohne etablierte atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankungen (athero­sclerotic cardiovascular disease, ASCVD) verabreicht werden, doch können wir nicht ausschließen, dass bei einigen Patienten mit hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko die Vorteile die Risiken überwiegen“.

Profitieren Diabetiker?

So konnte in der 2018 publizierten ASCEND-Studie niedrig dosierte ASS bei Diabetikern (jeglichen Typs) ohne kardiovaskuläre Erkrankung das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse signifikant um 12% reduzieren, erhöhte aber auch das Risiko schwerer Blutungen (vor allem gastrointestinale und extrakranielle Blutungen) [5]. Der Schluss der Autoren damals: „Der absolute Nutzen wurde durch das Blutungsrisiko weitgehend aufgewogen“. In der ebenfalls 2018 publizierten, placebokontrollierten ASPREE-Studie hatte die tägliche Gabe von 100 mg Acetylsalicylsäure bei gesunden Erwachsenen die Inzidenz für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht reduziert, doch das Risiko für schwere Blutungen um 38% erhöht [6]. Doch eine Folgeanalyse dieser Studie zeigt aktuell ein ganz neues Potenzial von niedrig dosierter ASS auf. Denn bei ab 65-Jährigen senkte die tägliche Einnahme von niedrig dosierter ASS die Entstehung von Diabetes mellitus Typ 2. Von 16.209 Teilnehmern entwickelten 459 Personen in der ASS-Gruppe und 536 unter Placebo nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 4,7 Jahren einen Diabetes. Damit senkte niedrig dosierte ASS das Risiko für die Stoffwechselerkrankung um 15%. Auch bei den Nüchternplasmaglucose-Spiegeln fiel die ASS-Gruppe durch eine langsamere Anstiegsrate positiv auf. Die Ergebnisse sind bislang nicht veröffentlicht, wurden aber dem „Deutschen Ärzteblatt“ zufolge im Vorfeld des Jahreskongresses der European Association for the Study of Diabetes (EASD) in Hamburg kommuniziert [7]. Doch mit diesen Erkenntnissen ändere sich nichts an den klinischen Empfehlungen zur Verwendung von ASS bei älteren Menschen, betonen die Studien­autoren im „ Deutschen Ärzteblatt“. Auf keinen Fall solle daraus eine Diskussion zur präventiven Verordnung von ASS bei Personen mit erhöhtem Risiko für einen Typ-2-Diabetes entstehen.

Seit 2002 strengere Empfehlungen in den USA

Im Jahr 2022 passte die U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF) – ein vom US-Gesundheitsministerium ernanntes und finanziertes unab­hängiges Expertengremium – ihre Empfehlungen zu Low-dose-ASS an [8]. Seitdem gilt: Ab 60-Jährige sollen nicht mit der Einnahme von niedrig dosierter Acetylsalicylsäure beginnen, um kardiovaskulären Erkrankungen primär vorzubeugen. Auch sei die Entscheidung individuell zu treffen, ob jüngere Erwachsene (zwischen 40 und 59 Jahren) mit einem 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen von mindestens 10% niedrig dosierte ASS zur Primärprävention einnehmen sollten. Ab 75 Jahren sollte zudem aufgrund des erhöhten Blutungsrisikos über das Absetzen von ASS nachgedacht werden. Zur Prävention von Dickdarmkrebs empfiehlt die USPSTF den Plättchenhemmer ausdrücklich nicht mehr.
 

Zum Weiterlesen

Foto: sulit.photos/AdobeStock

In der DAZ 2023, Nr. 26, S. 20 berichtete Apothekerin Dr. Petra Jungmayr über „Negative Schlagzeilen für niedrig dosierte ASS“. Damals wurde in einer Post-hoc-Analyse der ASPREE-Studie ein erhöhtes Anämie- und Eisenmangel­risiko unter dem Thrombo­zytenaggregationshemmer festgestellt. Prof. Dr. med. Thomas Herdegen kommentierte die Studienergebnisse und wies auf die Bedeutung der Acetylsalicylsäure in der Sekundärprävention hin.

Bedeutung von ASS in der Sekundärprävention

Unumstritten ist derzeit der Nutzen von niedrig dosierter Acetylsalicyl­säure in der Sekundärprävention kardiovaskulärer Ereignisse, wie einem ischämischen Schlaganfall. „Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) sollen zur Sekundärprävention mit ASS 100 mg täglich behandelt werden, sofern keine Indikation zur Nutzung eines anderen Thrombozytenaggregationshemmers oder zur Anti­koagulation vorliegt“, heißt es in Teil I der deutschen S2k-Leitlinie „Sekundär­prophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke“ [9]. Auch Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit (KHK) sollen laut der Nationalen Versorgungsleit­linie „Chronische KHK“ täglich 100 mg Acetylsalicylsäure einnehmen [10]. Dies gilt ebenso für Patienten nach instabiler Angina, Myokardinfarkt oder symptomatischer peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK), wie man in der DEGAM-Leitlinie „Neue Thrombo­zytenaggregationshemmer“ liest, die auch auf ASS – die „am längsten bekannte Substanz“ – eingeht [11]. Nicht zu vergessen ist die Indika­tion von ASS nach koronarer Revaskularisation, sofern keine Indikation zur oralen Antikoagulation besteht.

ASS zur Prävention der Präeklampsie

Low-dose-Acetylsalicylsäure hat zudem eine Daseinsberechtigung bei Schwangeren mit „anamnestischem Risiko und/oder einem hohen Prä­eklampsierisiko im First-Trimester-Screening“ als „einzige effektive Prävention der Präeklampsie“, heißt es in der S2k-Leitlinie „Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen: Diagnostik und Therapie“ von 2019 [12]. Die betroffenen Frauen sollten ab der Frühschwangerschaft – am besten vor der 16+0 Schwangerschaftswoche (SSW) – täglich 150 mg ASS ein­nehmen. Dadurch lässt sich die Prä­eklampsiehäufigkeit vor der 37+0 SSW senken. Den Leitlinienautoren zufolge ist es in Deutschland üblich, dass schwangere Frauen mit Präeklampsierisiko Acetylsalicylsäure bis zur vollendeten 34. bis 36. SSW anwenden. Eine generelle ASS-Prophylaxe ist jedoch nicht angezeigt. |

Literatur

 [1] Cloud GC et al. Low-Dose Aspirin and the Risk of Stroke and Intracerebral Bleeding in Healthy Older People: Secondary Analysis of a Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open 2023;6(7):e2325803, doi: 10.1001/jamanetworkopen.2023.25803

 [2] Visseren FLJ et al. ESC National Cardiac Societies; ESC Scientific Document Group. 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur Heart J 2021 Sep 7;42(34):3227-3337, doi: 10.1093/eurheartj/ehab484

 [3] Antithrombotic Trialists‘ (ATT) Collaboration 1; Colin Baigent et al. Aspirin in the primary and secondary prevention of vascular disease: collaborative meta-analysis of individual participant data from randomised trials. Lancet 2009;373(9678):1849-1860, doi: 10.1016/S0140-6736(09)60503-1

 [4] Abdelaziz HK et al. Aspirin for Primary Prevention of Cardiovascular Events. J Am Coll Cardiol 2019;73(23):2915-2929, doi: 10.1016/j.jacc.2019.03.501

 [5] ASCEND Study Collaborative Group, Bowman L et al. Effects of Aspirin for Primary Prevention in Persons with Diabetes Mellitus. N Engl J Med 2018;379(16):1529-1539, doi: 10.1056/NEJMoa1804988

 [6] McNeil JJ et al. Effect of Aspirin on Cardiovascular Events and Bleeding in the Healthy Elderly. N Engl J Med 2018;379:1509-1518, doi: 10.1056/NEJMoa1805819

 [7] ASS zeigt antiinflamma­torisches Potenzial bei Diabetes. Meldung des Deutschen Ärzteblatts, 8. September 2023

 [8] Final Recommendation Statement – Aspirin Use to Prevent Cardiovascular Disease: Preventive Medication. Stellungnahme der U.S. Preventive Services Task Force, 26. April 2022

 [9] Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke – Teil 1: Plättchenhemmer, Vorhofflimmern, Hypercholesterinämie und Hypertonie. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (Hrsg.), AWMF-Register-Nr. 030/133, Stand: Mai 2022

[10] Chronische KHK. Nationale Versorgungsleitlinie der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, AWMF-Register-Nr. nvl-004 2022, Stand: September 2022

[11] Neue Thrombozytenaggregationshemmer: Einsatz in der Hausarztpraxis. S2e-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), AWMF-Register-Nr. 053-041, Stand: März 2021

[12] Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen: Diagnostik und Therapie. S2k-Leitlinie unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. AWMF-Register-Nr. 015/018, Stand: März 2019

Apothekerin Celine Bichay

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