Beratung

Empathie ist gefragt

Wie man ein Tabu anspricht und es bricht

Verlegen, rot und angespannt werden viele, wenn sie über etwas sprechen, was als Tabu gelten könnte. Zum Beispiel, wenn sie Blut in ihrem Stuhl entdecken – wie in unserem Beratungsbeitrag auf S. 52 in dieser DAZ. Daher werden solche Themen lieber ganz gemieden. Im Beratungsgespräch müssen Apothekerinnen und Apotheker aber das Unangenehme benennen können.
Foto: Tierney/AdobeStock

Ein Tabu ist ein Übereinkommen im Schweigen. Der Duden definiert den Begriff folgendermaßen:

Tabu, das:

1. Verbot, bestimmte Handlungen auszuführen, […] Gegenstände zu berühren, anzublicken, zu nennen.

2. ungeschriebenes Gesetz, das aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet, bestimmte Dinge zu tun.

Oft sind Tabus eng mit Erkrankungen oder dem Tod verbunden. Patienten schämen sich für ihre Symptome, weil sie denken, dass sie dadurch unattraktiv, alt oder gar abstoßend erscheinen. Dies kann für jegliche Krankheiten gelten, von Herz-Kreislauf-, Haut- bis hin zu Infektionserkrankungen. Nicht selten trägt zu einem gesellschaft­lichen Tabu bei, dass es vielen an Gesundheitskompetenz mangelt. Beispielsweise gilt eine HIV-Infektion noch immer als Tabu, wenngleich behandelte Patienten das Virus nicht übertragen können.

Andere Patienten fühlen sich für ihre Erkrankung schuldig, etwa weil sie fürchten, nicht hygienisch genug gewesen zu sein, sich nicht gesund genug ernährt zu haben, oder schlicht nicht vorsichtig genug gewesen zu sein. Als Folge fällt es den Betroffenen schwer, über das Problem zu sprechen. Eine Tabuzone steht der Diagnose­findung im Weg. Auch kann sie Non-­Adhärenz begünstigen: Einerseits sind Patienten beim Umgang mit ihrer Erkrankung verunsichert und zögern, die Anweisungen ihres Arztes zu befolgen. Andererseits ist Non-Adhärenz selbst tabu und wird in der Apotheke nicht angesprochen. Anstatt die Ängste und Sorgen im Rahmen einer Arzneimitteltherapie auszusprechen, weichen Patienten einer Beratung aus.

Selbstreflexion als Mittel

„Ich bin der Meinung, das sich niemand wegen seiner Krankheit schämen sollte“, sagt Almut Roth. Die Apothekerin lehrt seit über 20 Jahren in einer PTA-Schule. „In der Realität tritt trotzdem Scham auf. Aber in der Be­ratung kann ein Apotheker kommunizieren, dass er sein Gegenüber und sein Problem akzeptiert.“

Almut Roth setzte sich im vergangenen Jahr intensiv mit Tabus auseinander. 2022 erschien ihr Buch „Tabu­themen – zwischen Schweigepflicht und Redepflicht“ beim Deutschen Apotheker Verlag. Darin beleuchtet sie 50 schambehaftete Indikationsgebiete: Wie erkennt man Betroffene, was könnte gesagt werden und was sollte beachtet werden. Die Diagnosen reichen von Sucht, der Sexualfunktion, kosmetischen Problemen, Probleme des Verdauungs- oder Harntraktes bis hin zu psychischen Erkrankungen.

Bei der Beratung zu Tabuthemen kommt erschwerend hinzu: Was für den einen tabu ist, ist es für den anderen nicht. Dadurch sind die Themen nicht nur schwer zu entdecken. Sie können auch möglicherweise Fettnäpfchen eröffnen.

Im Zuge ihrer Recherchen beobachtete Roth: „Manchmal sprechen Kunden nicht gern über ihr Problem, weil ihnen zuvor mit wenig Empathie begegnet wurde.“ Empathisch zu sein sei das Wichtigste beim Umgang mit Menschen, die unter Erkrankungen leiden, die tabuisiert werden. Aber wie kann man Empathie lernen? „Bevor man zu Tabuthemen gut beraten kann, sollte man sich informieren und in betroffene Patienten hineinversetzen können“, erklärt Roth. Dies beginne mit Selbstreflexion. Jeder kann sich selbst die Frage stellen: Was sind für mich Tabuthemen, wo hege ich Selbstzweifel? Über welche Symptome würde es mir selbst schwer fallen, zu sprechen?

Ein Vier-Augen-Gespräch im Digitalen?

Ist einmal klar, dass zu einem Thema sensibler beraten werden muss, stellt sich die Frage, auf welchem Weg. Ist etwa die Apotheke leer und das Vertrauensverhältnis gut, könnte sich das Setting der Beratung nicht von dem eines normalen Gesprächs unterscheiden. Manchmal bietet es sich an, leise zu sprechen oder andere wartende Kunden zu bitten, Abstand einzuhalten. Zeigt ein Patient oder eine Patientin merklich, dass er oder sie sich schämt, könnte subtil ein Termin für ein Gespräch unter vier Augen angeboten werden. Auch dabei sei Feinfühligkeit gefragt, sagt Apothekerin und Autorin Almut Roth. Man sollte versuchen zu erkennen, was sich ein Patient wünscht. Auch kann es helfen, dem Patienten zu signalisieren, dass er sich nicht schämen muss.“

Aber was ist mit denjenigen Patienten, die sich zu sehr schämen, um einen Arzt oder Apotheker direkt anzusprechen? Was, wenn so jemand auf eigene Faust im Internet recherchiert, die Informationen aber nicht richtig einordnen kann? Eine Möglichkeit, mit der man in der Apotheke diesen Patienten helfen könnte, ist die Beratung über Video-Chats. „Die Telepharmazie bringt Intimität mit. Das ist ideal für tabuisierte Themen“, erklärt Sarah Wessinger. Die Apothekerin betreut mehrere digitale Projekte beim Deutschen Apotheker Verlag, unter anderem das Modul „Telepharmazie“ von mein.apotheken.de. Einen Aufschwung erlebte die Telepharmaziewährend der Pandemie. Hier war es günstig, die Fernberatung für Patienten anzubieten, die mit SARS-CoV-2 infiziert sein könnten. Heute können etwa 500 bis 1000 Apotheken in Deutschland telepharmazeutische Beratungen anbieten. Doch die Entwicklung stagniert, sagt Wessinger. „Dabei hat die Telepharmazie mehr Facetten, als wir glauben.“

Eine dieser Facetten: Apotheken könnten die Videoberatung einsetzen, um Patienten unter vier Augen zu Tabuthemen zu beraten. Manche Symptome oder Probleme sprechen die Kunden nur ungern in einer lebendigen Offizin an. Bei der telepharmazeutischen Beratung sitzt der beratende Apotheker in einem ruhigen Zimmer im Backoffice, der Patient wiederum ungestört bei sich daheim vor dem PC.

Mittlerweile stellen mehrere Anbieter eine umfassende und datenschutz­konforme Software für telepharma­zeutische Angebote zur Verfügung – zum Beispiel Apomondo, die Compu­group Media oder mein.apotheken.de.

Die Apotheke könnte Kunden auf das Angebot über Infos im Schaufenster, Gehwegaufsteller, über Flyer, auf der Website oder im Gespräch aufmerksam machen. Nimmt ein Patient die Videoberatung wahr, hat er mehrere Vorteile: Es kann mit Distanz ein vertrauliches Gespräch geführt werden und die Berater sind die bekannten Gesichter aus der Stammapotheke. Hinzu kommt die Schnelligkeit. Denn sollte der Apotheker bei der Beratung ein Arzneimittel empfehlen, könnte der Botendienst dieses kurzfristig liefern. Mit den Ratsuchenden könnten Apotheken ein Honorar vereinbaren. „Bei tabuisierten Beratungsthemen kann ein Gespräch länger dauern – und nicht immer ist eine Kaufempfehlung die Lösung.“ Sarah Wessinger schlägt vor, eine gewisse Zeitspanne kostenfrei anzubieten.

Verlegenheit abbauen

Nicht jeder kann die Telepharmazie anbieten, betont sie. Gerade Apotheken mit einem hohen Anteil an Laufkundschaft hätten oft nicht die Kapazitäten, Pharmazeuten für Videoberatungen bereitzustellen. Dennoch ist sich Wessinger sicher: „Apotheken müssen bereit sein, ihre Kommuni­kationswege zu erweitern.“

Die Idee, ein Vier-Augen-Gespräch ins Digitale zu verlegen, gefällt auch Almut Roth. Doch egal, wie und wo die Beratung stattfindet – erst im Gespräch wird das eigentliche Problem bei einem Tabuthema deutlich: Beratende und Ratsuchende geraten oftmals in Verlegenheit. Starke Emotionen können auftreten und zum Hindernis werden. Bei der Recherche für ihr Buch stieß Roth auf eine simple Technik, auf die sie seither schwört: Das NURSE-Modell. Es beschreibt fünf Aspekte, auf die man in der Beratung achten kann. Dazu hier Beispielsätze, die Apotheker oder Apothekerinnen ihren Patienten sagen können. Der ratsuchende Patient aus diesem Beispiel spricht beiläufig an, Blut im Stuhl zu haben.

  • Naming: Emotionen, die im Gespräch wahrgenommen werden, klar benennen: „Eventuell haben Sie Angst zum Arzt zu gehen, weil Sie befürchten, er könnte etwas Schlimmes finden.“
  • Understanding: Für die wahrgenommenen und benannten Emotionen Verständnis zum Ausdruck bringen: „Das kann ich gut verstehen. Ich selbst hole mir oft aus eben diesem Grund erst spät Hilfe.“
  • Respecting: Im Gespräch kann es helfen, dem Gegenüber Anerkennung zu zeigen und so dem Gesagten eine positive Konnotation zu verleihen: „Ich finde es gut, dass Sie das Problem angesprochen haben. Es zeugt davon, dass Sie ehrlich zu sich selbst sind.“
  • Supporting: Dem Ratsuchenden Unterstützung anbieten: „Kennen Sie Frau Dr. Mustermann? Sie konnte schon vielen Patienten unserer Apotheke mit ähnlichen Problemen helfen. Gern schreibe ich Ihnen die Kontaktdaten auf.“
  • Exploring: Eventuell stehen nach einer Beratung noch ungeklärte Fragen oder Emotionen im Raum. Exploring steht dafür, diese zu erfragen und zu klären: „Machen Sie sich keine zu großen Sorgen. Oft liegt dem Problem eine völlig harmlose Ursache zugrunde. Oder bedrückt Sie noch etwas anderes?“

Nicht jeder der fünf Punkte muss zwingend in einem Beratungsgespräch auftauchen. Dafür kann es manchmal sinnvoll sein, auf einzelne Aspekte mehrfach zurückzugreifen. Seit Almut Roth auf diese Technik stieß, ist sie fester Bestandteil ihrer Beratungspraxis. Auch in ihrer PTA-Schule übt sie mit den Auszubildenden sensible Kundengespräche.

Eine Beratung zu Tabuthemen kann herausfordernd sein, doch es gibt viele Möglichkeiten, die ein „schwieriges“ Gespräch erleichtern. So können Sie in der Apotheke Ihren Patienten entscheidend helfen. |

Literatur

Köpf M. Telepharmazie: Per App und Videochatfenster Kunden modern beraten. Apomio, Stand 28. Juni 2021, www.apomio.de

Roth A. Tabuthemen – zwischen Schweigepflicht und Redepflicht. Deutscher Apotheker Verlag 2022

Apotheker Marius Penzel

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