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„Einzelfälle mit negativen Erfahrungen“
Hilfsmittelbürokratie aus Sicht des GKV-Spitzenverbands
DAZ: Frau Meyerhoff-Grienberger, das Thema „Hilfsmittelversorgung“ beschäftigt Sie schon seit rund 30 Jahren. Wie haben sich die Anforderungen und Rahmenbedingungen verändert?
Meyerhoff-Grienberger: In den 1990er-Jahren versuchte die Politik die Ausgaben durch Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen deutlich zu reduzieren. Damals wurde der Zuschuss in Höhe von 20 DM für Brillenfassungen ersatzlos gestrichen. Gleichzeitig wurden Zuzahlungen für die Versicherten eingeführt, wie der 20-prozentige Eigenanteil bei Einlagen, Bandagen und bei Hilfsmitteln zur Kompressionstherapie. Fast wären diese Hilfsmittel aus der Erstattungsfähigkeit gefallen. Mit Beginn der 2000er-Jahre fand aber dann ein Umdenken statt.
DAZ: Inwiefern?
Meyerhoff-Grienberger: Die Verantwortlichen haben bewusster wahrgenommen, dass Hilfsmittel in den allermeisten Fällen für schwerstkranke und schwerstbehinderte Menschen erforderlich sind und gerade diese Versicherten nicht durch höhere Selbstkosten und Leistungsausgrenzungen belastet werden dürfen. Der Hilfsmittelmarkt hat für die Versorgung eine sozialethisch hohe Bedeutung. Im Vergleich zu anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind die Ausgaben auch relativ gering. Deswegen ging es in den letzten beiden Jahrzehnten nicht primär darum, Einsparungen durch Leistungsaus- oder -eingrenzungen zulasten der Versorgung zu realisieren, sondern die Versorgung mit Hilfsmitteln in qualitativer und wirtschaftlicher Hinsicht zu verbessern.
DAZ: Wie wurde das gesetzgeberisch umgesetzt?
Meyerhoff-Grienberger: Mit der Zulassung wurden die fachlichen und sachlichen Anforderungen an die Leistungserbringer überprüft. Dies erfolgt heute im Rahmen der Präqualifizierung. Im Hilfsmittelverzeichnis, das vom GKV-Spitzenverband erstellt wird, sind die Anforderungen an die Produkte und die mit ihrer Abgabe verbundenen Dienstleistungen definiert. Es bildet die Grundlage für die vertraglichen Regelungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen. Infolge des 2017 verabschiedeten Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes (HHVG) wurden zudem Regelungen zur Sicherstellung der Ergebnisqualität geschaffen.
DAZ: Dabei wird der Kostenaspekt doch sicherlich nicht komplett außen vor sein, oder? Bis 2019 gab es immerhin noch die Hilfsmittelausschreibungen, die von der Großen Koalition schließlich abgeschafft wurden.
Meyerhoff-Grienberger: Bei den Hilfsmitteln reden wir immerhin über jährliche Ausgaben in Höhe von inzwischen rund 10 Milliarden Euro. Wenn wir als Krankenkassen viel bezahlen, dann wollen wir, dass bei unseren Versicherten natürlich auch eine gute Qualität ankommt. Das Ausschreibungsinstrument hat den Wettbewerb angeheizt und führte tatsächlich zu einer moderateren Ausgabenentwicklung. Obwohl nur verhältnismäßig wenige Ausschreibungen durchgeführt wurden, haben diese aber eine Qualitätsdebatte ausgelöst und wurden letztendlich für Hilfsmittel gekippt. Meines Erachtens wurde von den Versicherten am wenigsten akzeptiert, dass nur die Ausschreibungsgewinner in Anspruch genommen werden durften und sie u. U. durch andere Leistungserbringer und mit anderen Produkten versorgt wurden, weil der neue Leistungserbringer über ein anderes Portfolio verfügte. Dies erforderte in der Regel eine Umgewöhnung.
DAZ: Seit 2007 müssen Leistungserbringer keine Zulassung mehr haben, sondern, nachdem sie sich präqualifiziert haben, gelten für sie die Versorgungsverträge. Ist das alles in Ihren Augen ein Fortschritt?
Meyerhoff-Grienberger: Um nach alter Rechtslage eine Zulassung zu erhalten, mussten die Leistungserbringer wie heute bei der Präqualifizierung die Anforderungen an eine ausreichende, zweckmäßige und funktionsgerechte Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel nachweisen. Weitere Voraussetzung der Zulassung war seinerzeit zudem die Anerkennung der bereits geschlossenen Verträge, sofern es diese im jeweiligen Produktbereich gab. Nach Umstellung auf das Vertragsprinzip mussten sich Leistungserbringer innerhalb bestimmter Übergangsfristen um Verträge mit den Krankenkassen bemühen, denn die Versorgung mit Hilfsmitteln setzte nach geändertem Recht Verträge mit den Krankenkassen voraus.
DAZ: Welche Vorteile sehen Sie im nun geltenden Vertragsprinzip?
Meyerhoff-Grienberger: Das Vertragsprinzip hat aus meiner Sicht insofern Vorteile, weil es die Vertragspartner rechtlich enger bindet, Verträge individueller ausgestaltet werden können und die Vertragsinhalte als Maßstab für die Prüfung der Ergebnisqualität herangezogen werden können. Im Gegensatz zur Zulassung haben außerdem Präqualifizierungen fünf Jahre Gültigkeit. Früher galt die Maxime „Einmal zugelassen, immer zugelassen“. Es kam mitunter vor, dass sich die Betriebe einzelner Leistungserbringer z. B. nach 20 Jahren grundlegend verändert hatten und gar nicht mehr über die personellen, räumlichen oder technischen Voraussetzungen verfügten. Das neu geschnürte Gesamtpaket trägt meines Erachtens zur Qualitätssicherung bei. Der GKV-Spitzenverband hatte die Umstellung vom Zulassungs- auf das Vertragsprinzip auch zum Anlass genommen, die bis dahin geltenden Zulassungsanforderungen an den fortentwickelten Versorgungsstandard anzupassen und diese nach Produktarten weiter zu differenzieren.
DAZ: Zum Beispiel?
Meyerhoff-Grienberger: Früher gab es nur drei Zulassungsgruppen, in die man die Hilfsmittel einordnete: handwerkliche Fertigung, Anpassung oder Abgabe von Hilfsmitteln ohne nennenswerte Dienstleistung. Bei der Präqualifizierung sind es je Versorgungsbereich – und davon gibt es weit mehr als 100 – differenzierte Kriterien, und das spart sogar Bürokratie ein. Denn die Leistungserbringer bieten in der Regel ein ausgewähltes Produktportfolio an und müssen nunmehr nur die Anforderungen erfüllen, die sich auf ihre Sortimentsprodukte beziehen. Wenn Apotheken z. B. Kompressionsstrümpfe anbieten, dann ist unter anderem eine Liege für die Anpassung vorgeschrieben. Für andere Produkte, die derselben Zulassungsgruppe zugehörten, die aber nicht im Liegen angepasst werden müssen, musste diese Anforderung damals auch erfüllt werden. Heute sind die Produkte unterschiedlichen Versorgungsbereichen zugeordnet und es ist nur das zu erfüllen, was für die Abgabe des jeweiligen Produkts tatsächlich relevant ist. Das kann man doch nur als Vorteil ansehen.
DAZ: Aus Ihrer Sicht scheint das eine Erleichterung zu sein. Aber hat man mit der Umstellung vom Zulassungs- auf das Vertragsprinzip, inklusive der Einführung einer Präqualifizierung, nicht den bürokratischen Aufwand auf die Apotheken und die anderen Leistungserbringer abgewälzt?
Meyerhoff-Grienberger: Leistungserbringer wurden im Zulassungssystem für jede Krankenkassenart gesondert von den Kassen selbst bzw. ihren Landesverbänden zugelassen. Nach Umstellung auf das Vertragsprinzip wurde ein Präqualifizierungsverfahren etabliert, sodass die Befähigungsnachweise durch die Leistungserbringer einmalig erbracht werden müssen und kassenartenübergreifend gelten. Dies trägt zur Entbürokratisierung und auch zur einheitlichen Rechtsanwendung bei.
DAZ: Aber wie erklären Sie sich dann, dass die Apotheken die von Ihnen erwähnten Vorteile so nicht wahrnehmen? Im Rahmen der Präqualifizierung werden Anforderungen an die Betriebe gestellt, die im Versorgungsalltag offenbar als nicht notwendig erachtet werden.
Meyerhoff-Grienberger: Bei der Erstellung dieser Anforderungen haben wir seit Anbeginn sehr viel mit Leistungserbringerorganisationen und Praktikern gesprochen, so auch mit dem Deutschen Apothekerverband (DAV). Auch bei der Fortentwicklung der Anforderungen erhält er die entsprechenden Entwürfe von uns. Er kann jederzeit Stellungnahmen, Ideen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Wir nehmen alle Hinweise sehr ernst und haben viele auch umgesetzt. Im Großen und Ganzen funktioniert das sehr gut und die allermeisten Apotheken finden sich in dem System zurecht. Und in diesem Zusammenhang noch mal exemplarisch zurück zur Kompressionstherapie und der viel kritisierten Liege: Diese wird von versierten Apothekerinnen und Apothekern für erforderlich gehalten, denn die Strümpfe müssen am entstauten Bein angemessen werden.
DAZ: Für Sie sind kritische Stimmen in diesem Zusammenhang also eher Einzelmeinungen?
Meyerhoff-Grienberger: Wir haben in Deutschland rund 18.500 präqualifizierte Apotheken, wo das offenbar hervorragend klappt. In der Presse liest man dagegen von Einzelfällen mit negativen Erfahrungen. Zum Teil sind es Vorwürfe, die meines Erachtens jeglicher Grundlage entbehren. Da werden Versorgungsbereiche genannt, wie beispielsweise Trinknahrung, bei denen wir angeblich einen Spiegel fordern würden. Das entspricht nicht den tatsächlichen Anforderungen für die jeweiligen Versorgungsbereiche, die auf unserer Homepage zu finden sind. Die Präqualifizierungsstellen geben auch sehr viel Unterstützung.
DAZ: Das klingt so, als ob sich die Apotheken gezielt für Hilfsmittelproduktgruppen entscheiden könnten und diese dann anbieten. Die Realität ist vielmehr, dass Apotheken aufgrund ihres Versorgungsauftrags und des Bedarfs in ihrem Umfeld Hilfsmittel aus mehreren Produktgruppen gleichzeitig vorhalten müssen. Es geht also um eine Reihe von Anforderungen, die manche Betriebe nur unter hohem Aufwand umsetzen können – wie beispielsweise barrierefreie Toiletten für Kunden …
Meyerhoff-Grienberger: Keine Apotheke ist gezwungen, jedes Hilfsmittel vorzuhalten. Es obliegt der freien Entscheidung, ob und welche Hilfsmittel neben den Arzneimitteln angeboten werden und ob die Apotheke hierüber Verträge schließt. Das Kriterium der behindertengerechten Toilette ist nur bei Produktbereichen zu erfüllen, wenn verstärkt zu erwarten ist, dass gehbeeinträchtigte Menschen in die Räumlichkeiten des jeweiligen Leistungserbringers kommen. Dies ist z. B. bei Rollstühlen der Fall, die aber nicht zum apothekenüblichen Sortiment zählen. Barrierefreiheit ist für die Versorgung dieser Versichertengruppe von enormer Wichtigkeit. Trotzdem sind Ausnahmen möglich, z. B. wenn ein Umbau zur behindertengerechten Toilette nicht möglich ist oder eine in unmittelbarer Nähe des Ladenlokals genutzt werden darf, sofern sie nicht öffentlich ist.
DAZ: … oder die Bohrmaschine bei der Abgabe der Bandagen.
Meyerhoff-Grienberger: Die Bohrmaschine zu den Bandagen war tatsächlich ein Versehen, das uns – aber auch den Praktikern vor Ort – lange Zeit nicht aufgefallen war. Solche Dinge korrigieren wir nach Kenntnisnahme dann auch umgehend.
DAZ: Die Apotheken geben beispielsweise Lanzetten, Inhaliergeräte und Blutdruckmessgeräte ab und müssen dafür Unterlagen vorlegen, die bereits im Rahmen der Beantragung ihrer Betriebserlaubnis notwendig waren. Warum reicht dann nicht die Betriebserlaubnis?
Meyerhoff-Grienberger: Wenn Nachweise zu den Präqualifizierungsanforderungen z. B. Bestandteil der Betriebserlaubnis wären, könnten diese anerkannt werden. Allerdings bezieht sich die Betriebserlaubnis auf andere Voraussetzungen, die eine Apotheke erfüllen muss. Daher konnten wir bisher keine Doppelnachweise feststellen. Auch der DAV hat uns dies bisher nicht belegt. Ganz grundsätzlich: Bei der Präqualifizierung werden Nachweise grundsätzlich anerkannt, die schon im Rahmen anderer Verfahren erbracht wurden, sofern sie sich auf die Präqualifizierungsanforderungen konkret beziehen. Die Präqualifizierung selbst kann aber nicht ersetzt werden, da sie gesetzlich vorgeschrieben ist.
„Wir haben in Deutschland rund 18.500 präqualifizierte Apotheken, wo das offenbar hervorragend klappt. In der Presse liest man dagegen von Einzelfällen mit negativen Erfahrungen. Zum Teil sind es Vorwürfe, die meines Erachtens jeglicher Grundlage entbehren.“
DAZ: Aber bei Apotheken handelt es sich doch um überwachte Einrichtungen des Gesundheitswesens. Die Revisionen finden regelmäßig statt und würden aufdecken, wenn Betriebe nicht den hohen Qualitätsansprüchen räumlicher oder personeller Art entsprechen. Weshalb existieren im Bereich der GKV-Hilfsmittelversorgung also noch mehr Kontrolle und Evaluation?
Meyerhoff-Grienberger: Die von Ihnen angesprochenen Revisionen beziehen sich auf das Kerngeschäft der Apotheken, die Arzneimittelversorgung, und nicht auf die Anforderungen für die Abgabe bestimmter Hilfsmittel. Diese Anforderungen sind von allen gleichermaßen zu erfüllen, auch z. B. von Sanitätshäusern oder Homecare-Unternehmen. Bei tatsächlichen Doppelprüfungen werden – wie bereits erwähnt – geeignete Nachweise anerkannt, wenn die Leistungserbringer darlegen, dass sich diese auf identische Anforderungen beziehen, wie sie für die Präqualifizierung gelten.
DAZ: Auf welcher Ebene muss ein Austausch Ihrer Ansicht nach stattfinden, um konstruktive und langfristige Lösungen zu finden? Zwischen Apotheke und Präqualifizierungsstelle oder zwischen DAV und GKV-Spitzenverband?
Meyerhoff-Grienberger: Beides. Wir sind aber immer dankbar, wenn uns die Informationen gebündelt über eine Leistungserbringerorganisation oder über eine Präqualifizierungsstelle zur Verfügung gestellt werden. Wenn für bestimmte Versorgungsbereiche Leistungserbringer nicht in Verbänden organisiert sind, greifen wir auch Argumente von einzelnen Betrieben oder Apotheken auf, die begründet sind.
DAZ: Aus der Apothekerschaft und der Standesvertretung kommen ja durchaus konkrete Vorschläge, wie sich die Hilfsmittelversorgung bürokratisch verschlanken lässt: Hilfsmittel im Zusammenhang mit der Arzneimittelabgabe sollten für Apotheken generell von der Präqualifizierung ausgenommen werden und der DAV-Vizevorsitzende Dr. Hans-Peter Hubmann forderte jüngst eine Abschaffung der Präqualifizierung für alle Hilfsmittel, bei denen die Apotheken selbst nicht handwerklich tätig sind. Was ist davon zu halten?
Meyerhoff-Grienberger: Eine Applikationshilfe für ein Arzneimittel bleibt nun mal ein Hilfsmittel, und die zur Abgabe erforderlichen Kenntnisse werden nicht dadurch erlangt, dass man sich mit dem zu applizierenden Arzneimittel auskennt. Die Forderung ist für mich nicht nachvollziehbar, da die Präqualifizierungsanforderungen bei Hilfsmitteln wie Lanzetten, Pen-Nadeln, Kanülen, Spritzen oder Infusionsbestecken gerade für Apotheken keine unüberwindbaren Hürden darstellen. Wenn es für bestimmte Produkte sachliche Gründe gäbe, dass für deren Abgabe keine Präqualifizierung notwendig wäre, müsste sie für alle Leistungserbringer in diesen Bereichen aufgehoben werden. Dann wäre es nicht mehr möglich, die Qualität zu steuern und man könnte mit gleichen Qualitätsergebnissen auch andere Vertriebskanäle, z. B. Drogeriemärkte und andere Geschäfte nutzen. Wäre dies im Interesse der Apotheken?
DAZ: Frau Meyerhoff-Grienberger, vielen Dank für das Gespräch. |
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