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Versorgung neu denken!

Dr. Thomas Müller-Bohn, DAZ-Redakteur

Die Begriffe Versorgungssicherheit und Lieferketten sind derzeit allgegenwärtig. Jahrzehntelang galt der billigste Preis als Inbegriff des Kundeninteresses. Eine ganze Ökonomengeneration wurde durch das Just-in-time-Konzept geprägt. Einzelteile direkt ans Fließband liefern zu lassen, galt als Vorbild an Effektivität. Die Autobahn ist dadurch zum Teilelager geworden. Die Pandemie brachte diese Idee ins Wanken, aber ­erstaunlicherweise nicht zum Einsturz. Zu tief saß die Überzeugung und zu weit weg waren die Gedanken an Notzeiten, Knappheit oder Vorsorgen.

Doch der Ukraine-Krieg hat das Blatt gewendet. Hier ist offensichtlich, wie sehr sich die Politik vom billigen Gas hat blenden lassen. Nicht einmal die gute kaufmännische Vorsicht, eine alternative Bezugsquelle in der Hinterhand zu haben, wurde beachtet. Beim Bau von LNG-Terminals und bei der Beschaffung des Gases von anderen Anbietern spielt Geld nun keine Rolle mehr. Die Prioritäten haben sich verschoben. Es wird allen bewusst, dass der Preis auch in der Ökonomie keineswegs das alleinige Maß ist. Noch wichtiger ist die zuverlässige Lieferung, sofern die betreffende Ware nicht substituierbar ist. Die Substituierbarkeit ist das entscheidende Kriterium. Denn eine Gasheizung arbeitet nun mal nicht mit Strom oder Öl. Genau diese Nicht-Substituierbarkeit ist auch eine wesentliche Eigenschaft von Arznei­mitteln. Der Arzneimittelmarkt als Ganzes ist ein abstrakter ökonomischer Begriff. Für die Anwendung geht es immer um einen bestimmten Arzneistoff oder bestenfalls um eine Arzneistoffgruppe. Die Wirkstoffsynthese an einem oder wenigen Orten hat sich spätestens in der Pandemie als heikel erwiesen. Die überzogenen Lockdowns aufgrund der No-COVID-Ideo­logie in China können das bald zu einem noch größeren Problem machen. Außerdem lehrt der Ukraine-Krieg, dass wir auch an einen militärischen Konflikt denken müssen. Niemand weiß, wie sich die Taiwan-Frage weiterentwickelt. Doch der Aufbau neuer Synthesekapazitäten für Arzneistoffe in der EU ist viel langsamer und aufwendiger als die Suche nach neuen Gaslieferanten. Darum müssen rechtzeitig und auf geordnetem Weg neue alternative Strukturen in der EU geschaffen werden. Das ist vernünftiges Handeln, kein Protektionismus.

Derzeit wissen wir viel zu wenig über die Lieferketten. Darum brauchen wir zu allererst Transparenz, um die Lage für jedes einzelne Arzneimittel zu bewerten. Dafür muss bekannt sein, welche Stoffe in welcher Menge von welchem Wirkstoffhersteller stammen. Außerdem brauchen wir die Bereitschaft der Gesellschaft, für Versorgungs­sicherheit zu zahlen. Was beim Gas jetzt selbstverständlich ist, sollte es für Arzneimittel erst recht sein. Darüber hinaus geht es um Prioritäten innerhalb des Gesundheitswesens. Bei Standardantibiotika, die für viele lebensrettend sein können, wird ohne Blick auf die Versorgungssicherheit um den letzten Cent gefeilscht. Zugleich werden enorme Beträge für neue Arznei­mittel aufgewendet, die für einige Patienten sicherlich segensreich, aber für die Stabilität des Versorgungssystems nicht entscheidend sind. Dies alles gilt es aufgrund neuer Erfahrungen neu zu bedenken.

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