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Ärzten ist das Ausmaß meist nicht bewusst

Anticholinerge Last bei Heimbewohnern erkennen und beseitigen

dm | Apothekerin Dr. Stefanie Brune machte in ihrem Vortrag deutlich, wie und mit welchen Hilfsmitteln die anticholinerge Last der Arzneimittel von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern ermittelt werden kann – und warum das so wichtig ist. Denn zwar handelt es sich um ein altbekanntes Problem, aber kein unlösbares.
Foto: DAV/Hahn

Bei älteren Menschen findet man neben Polypharmazie und Multimorbidität häufig auch eine „anticholinerge Hypersensitivität“, berichtete AMTS-Expertin Dr. Stefanie Brune.

Apothekerin Dr. Stefanie Brune leitet seit 2014 die medizinisch-wissenschaftliche Abteilung der SCHOLZ Datenbank und stellte im Rahmen ihres Vortrags das Risiko der anticholinergen Last bei Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern in den Mittelpunkt. Denn diese kann je nach Ausmaß zu Mundtrockenheit bis hin zum Delir führen. Schon auf einer ihrer ersten Folien machte Brune deutlich: „Ärzten ist das Ausmaß der anticholinergen Belastung ihrer Patienten meist nicht bewusst“, und das ist nicht ihre persönliche Meinung, sondern ein Zitat aus der S3-Leitlinie Multi­medikation (Version 2.00, 05/2021).

Dabei sind anticholinerge Nebenwirkungen freilich keine neue Entdeckung, wie Brune anhand einer Studie aus dem Jahr 1983 verdeutlichte. Und noch heute sollen beispielsweise fast 90 Prozent der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit hyperaktiver Blase anticholinerge Substanzen bekommen, wovon fast 30 Prozent eine hohe anticholinerge Last haben. Doch wann ist die Last so hoch, dass sie klinisch relevant wird?

Anticholinerge Hypersensitivität im Alter

Brune machte deutlich, dass alte Patienten ein besonders hohes Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen haben – und zwar nicht nur aufgrund einer häufigen Polypharmazie und Multimorbidität, sondern weil eine „anticholinerge Hypersensitivität“ vorliegen kann. Diese ergebe sich aus Veränderungen in der Pharmakodynamik (z. B. altersbedingte cholinerge Degeneration) und Pharmakokinetik (z. B. erhöhte Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke) alter Menschen.

Speziell warnte sie vor einem Teufelskreis, der entstehen könne, wenn Cholinesterase-Inhibitoren wegen Demenz verordnet werden, bei denen als Nebenwirkung Dranginkontinenz auftreten kann, die dann potenziell mit anticholinergen Spasmolytika behandelt wird – welche wiederum als Nebenwirkungen zu kognitiven Beeinträchtigungen führen könnten. Brune ist der Meinung, dass Demenzpatientinnen und -patienten gar keine anticholinergen Arzneimittel erhalten sollten, und schärfte insbesondere den Sinn für zentrale anticholinerge Effekte. Speziell sensibilisierte sie für das Delir als mögliche Konsequenz. Bis zu 30 Prozent der Ursachen eines Delirs seien auf Arzneimittel zurückzuführen, sodass eine Reduktion der anticholinergen Medikation zur Verbesserung einer Delir-Symptomatik führen kann. Dennoch wies sie ebenso darauf hin, dass auch Symptome wie Mundtrockenheit die Lebensqualität stark beeinträchtigen können.

Neben den typischen bekannten Listen für Arzneimittel im Alter verwies Brune auf die Berechnung der anticholinergen Last mithilfe von Punkten – beispielsweise mit dem ACB Calculator, der jedoch nicht auf den deutschen Markt ausgelegt ist. Auch die DAZ hatte sich dem Delir im Rahmen der Arzneimittelsicherheit gewidmet (Sebastian Baum: „Gefürchtetes Delir – Wenn der Geist die Spur verlässt“. DAZ 2020, Nr. 25, S. 66): Dort findet sich eine Liste mit leicht, mittelstark und stark anticholinergen Arzneimitteln. Als häufiges Beispiel nannte Brune daraus den Einsatz von Trospiumchlorid bei Dranginkontinenz anstelle von Oxybutynin, Darifenacin oder Solifenacin, weil Trospiumchlorid weniger ZNS-gängig ist.

Foto: DAV/Hahn

Auch an Arzneimittel mit geringer anticholinerger Last denken!

Angesichts des übergeordneten Themas Delir stehen auch in der Krankenhauspharmazie vor allem die zentralen anticholinergen Neben­wirkungen im Zentrum. Eine weitere allgemeine Liste mit den entsprechenden Punkt-Zahlen, die Brune empfahl, war die „German Anticholinergic ­Burden ­Scale“ (GABS) von Kiesel et al. aus dem Jahr 2018. Denn es sei auch an Arzneimittel mit geringer anticholinerger Last zu denken, die sich mit anderen zu einer hohen Last addieren kann. Zudem sei es ein Problem, dass es zwar sehr viele, aber uneinheit­liche Listen mit verschiedenen Punkte-Skalen gibt: Ein Goldstandard fehlt bislang.

Oxybutynin besser transdermal?

Zur Ermittlung der kumulativen anticholinergen Last können je Arzneimittel zwischen 0 bis 3 Punkten vergeben werden, diese werden addiert. Kommt man insgesamt auf einen Wert von 3 oder mehr, soll nach Alternativen gesucht oder eine Dosisüberwachung erwogen werden. Jedenfalls sollten die Patienten dann auf anticholinerge Effekte überwacht werden. Außerdem machte Brune darauf aufmerksam, dass manchmal auch ein Wechsel der Applikationsform helfen kann: In Kentera® ist Oxybutynin in transdermalen Pflastern enthalten, was zu weniger Mundtrockenheit führen soll.

Ist die anticholinerge Last erst einmal erkannt, gilt es natürlich auch noch, diese allen Beteiligten verständlich zu machen – nicht nur dem Arzt oder der Ärztin, sondern auch den medizinischen Fachangestellten, dem Pflegepersonal und den Angehörigen – , das betonte Brune mehrfach. Aber auch in Apotheken ohne Heimversorgung gilt: „Keine Abgabe anticholinerger (Selbst)Medikation an Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen und bestehender anticholinerger Medikation“ – zu denken ist dabei an Klassiker wie „Hoggar night“, aber auch „Dulcolax“, wie Brune in einem Fallbeispiel deutlich machte. |

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Foto: DAV/Hahn

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