Arzneimittel und Therapie

(K)ein Freispruch für sedierende H1-Blocker

Eine kommentierende Analyse zur Sicherheitsstudie von Antihistaminika

Vor gut einem Jahr hatte der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht empfohlen, die H1-Antihistaminika Diphenhydramin und Doxylamin zur Behandlung von Schlafstörungen bei Erwachsenen ab dem 65. Lebensjahr der Verschreibungspflicht zu unterstellen. Die Kritik an dieser Empfehlung war groß. Zu willkürlich erschien die Altersgrenze von 65 Jahren und zudem nicht kontrollierbar. Außerdem wurde vor allem von Herstellerseite angezweifelt, ob diese Antihistaminika-haltigen Schlafmittel tatsächlich das Sturzrisiko erhöhen. Um das zu widerlegen, hat Stada eine retrospektive Sicherheitsstudie durchgeführt. Prof. Dr. med. Sebastian Harder hat sich die Datenlage angeschaut.

Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Facharzt für klinische Pharmakologie und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klinische Pharmakologie der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Antihistaminika wirken sedierend. Vor diesem Hintergrund wird eine erhöhte Sturzneigung bei Gebrauch dieser Substanzklasse postuliert, die sich auch in epidemiologischen Studien als signifikant abbildet. Eine relativ aktuelle Metaanalyse von zwei dieser Einzelstudien (Fall-Kontroll-Studien) zeigt für die Erstgenerationsantihistaminika eine signifikante Verdoppelung der Fraktur/Sturzrate [Cho et al. 2018]. Die bisher vorgelegten Studien differenzieren allerdings nicht die verschiedenen Wirkstoffe und Indikationen. Insoweit ist ein Mehr an Evidenz wünschenswert. Die von Stada durchgeführte Studie mit dem im Titel („Retrospective post-authorisation safety study investigating the relationship of first-generation antihistamines with sedative effect and the risk of falls in older patients“) ausgewiesenen Ziel, die Beziehung von Antihistaminika und Sturzrisiko bei älteren Patienten zu untersuchen, und das mit einer imposanten Zahl an Patienten (s. Kasten „Die Sicherheitsstudie zu Antihistaminika“), könnte hier tatsächlich einen Wissenszuwachs und damit ein gewisses Maß an Evidenz generieren.

Die Sicherheitsstudie zu Antihistaminika

Design:retrospektive Querschnittsstudie

Sponsor:Stada Arzneimittel AG

Fragestellung:Gibt es einen Zusammenhang zwischen Sturzereignissen bei Senioren über 65 Jahren und der Einnahme von sedierend wirkenden Antihista­minika der ersten Generation? Welche Altersgruppen stürzen besonders häufig? Kommen andere Ursachen infrage?

Methodik:

Per Onlineumfrage wurden 14.000 Hausärzte und niedergelassene Neurologen kontaktiert.

Diese hatten in den sechs Monaten vor der Studie insgesamt 313.000 Patienten behandelt und 9922 Sturzereignisse dokumentiert. Die Daten von 379 Patienten mit 505 Ereignissen waren aussage­kräftig genug und flossen in die Analyse ein.

Ergebnisse:

Die meisten Sturzereignisse traten in der Altersgruppe zwischen 65 und 84 Jahren auf (69,1% vgl. 8,1% unter 65 Jahren, 22,8% über 85 Jahren).

Bei 123 Sturzereignissen konnte eine nach den Auswertungskriterien relevante Korrelation mit der Einnahme der Antihistaminika ausgemacht werden.

Jedoch gaben bei mehr als 95% dieser 123 Fälle die Mediziner mögliche andere Sturzursachen wie kardiovaskuläre oder neurologische Begleiterkrankungen an.

Fazit: Aufgrund der ausgewerteten Daten gehen die Studienautoren nicht davon aus, dass die Einnahme von sedierend wirkenden Antihistaminika der ersten Generation relevant für das Auftreten von Stürzen sind.

Gomez Perez S et al. Retrospective post-authorisation safety study investigating the relationship of first-generation antihistamines with sedative effect and the risk of falls in older patients. Pharmazie 2020;75:666-670

Evidenz nach Oxford-Schema

Evidenz (= Gewissheit, im Sinne eines Beweisschlusses) lässt sich nach dem Oxford-Schema hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden Quellen (externe Evidenz) in vier verschiedene Stufen einteilen, wobei in die unterste Evidenzstufe, die Stufe 4, Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten, Expertenkommissionen und beschreibende Studien eingeordnet werden. Auch retrospektive Studien sind hier einzugliedern, weil eine strukturierte und auf Vollständigkeit zielende Datenerhebung nur bei prospektivem Vorgehen gesichert ist und ein Selektionsbias bei prospektiver Datenerhebung weniger wahrscheinlich ist als bei retrospektivem Vorgehen. Während die oben genannten Fall-Kontroll-Studien zwar ebenfalls auf retrospektiven Daten beruhen, wurde dabei jedoch ein kontrolliertes und systematisches Vorgehen (Fälle gematcht mit Kontrollen) unternommen, welches epidemiologischen Qualitätsstandards entspricht, außerdem wurde eine ebenso systematisch angelegte Metaanalyse vorgelegt. Die beiden der Metaanalyse zugrunde liegenden Studien wurden ferner ausweislich der Angaben der Autoren ohne Industriebeteiligung durchgeführt.

Die jetzt zur Evidenzgenerierung ins Feld geführte retrospektive Studie weist bei genauer Analyse der – ansonsten handwerklich nicht zu beanstandenden – Publikation jedoch viele Schwächen auf:

Da ist zunächst die Art der Datenerhebung, die auf einem Online-Survey beruht. Die teilnehmenden Ärzte wurden gebeten, ihre Patientenakten anhand einer definierten Liste von Fragen auf spezifische Informationen zu überprüfen. Wie der Wahrheitsgehalt der Daten überprüft wurde, ob die Angaben zu Stürzen und Begleiterkrankungen sowie der Medikamente korrekt sind, wird nicht erläutert. Es ist aber – allein aus datenschutzrechtlichen Gründen – nicht anzunehmen, dass eine „Source Data Verification“ (Quelldatenvergleich) stattgefunden hat, beispielsweise hinsichtlich der Diagnosen. Angaben, ob OTC-Präparate (eine Domäne der Firma Stada) mit berücksichtigt wurden (z. B. über das grüne Rezept erfasst) und dazu, welche Substanzen genau gegeben wurden, liegen nicht vor, obwohl diese Daten erhoben wurden. Ebenso wird nicht beschrieben, ob das Antihistaminikum wegen einer Schlafstörung oder wegen anderer Ursachen gegeben wurde. Auch wird nicht darauf eingegangen, ob die teilnehmenden Ärzte honoriert wurden. Die Statistik weist lediglich deskriptive Analysen aus.

Foto: lotharnahler – stock.adobe.com

Drohende Sturzgefahr in der Nacht? Die Autoren einer retrospektiven Querschnittsstudie sehen keinen Zusammenhang mit der Einnahme von sedierend wirkenden Antihistaminika.

Repräsentative Stichprobe?

Da ist im Weiteren die Repräsentativität der Stichprobe. Die Studie bezieht sich auf 313.046 Patienten, die bei 169 Ärzten (vorwiegend Hausärzten) in Behandlung sind. Eigentlich wurden sogar 13.866 Ärzte kontaktiert, aber nur 524 öffneten den Studienlink und bei nur 169 konnten die eingegebenen Daten validiert werden (wie das geschah, wurde nicht berichtet). Dies sind 1,2% aller kontaktierten Ärzte. Die 313.046 Patienten beziehen sich auf den gesamten Patientenstamm dieser Ärzte. Die eigentliche Datenbasis ist die Schnittmenge aus jenen 8942 Patienten, die nach Angabe der Ärzte ein Antihistaminikum der ersten Generation innerhalb der letzten sechs Monate eingenommen hatten, und jenen 9922 Patienten, für die wenigstens ein Sturzereignis bekannt war, dies waren 940 Patienten. Für wiederum 379 Patienten waren die von den Ärzten zur Verfügung gestellten Angaben dann ausführlich genug, um in die eigentliche Bewertung des Zusammenhangs zwischen Einnahme und Sturz einbezogen zu werden. Für diese Patienten wurden 505 Sturzereignisse angegeben.

Da sind ferner die Bewertungsgrundlagen, die zu weiteren „Verdünnungsschritten“ der Inzidenz führen: Die in der Pressemitteilung genannten 505 Ereignisse (s. Kasten „Die Sicherheitsstudie zu Antihistaminika“) wurden seitens der Ärzte dem bekannten Bewertungsschema hinsichtlich einer Zusammenhangswahrscheinlichkeit (möglich, wahrscheinlich, unwahrscheinlich, kein Zusammenhang) unterzogen. Diese Bewertung wurde dann noch (durch wen?) auf Plausibilität geprüft, was die Gesamtzahl der 505 bewerteten Ereignisse um weitere 57 reduzierte. Immerhin bleiben 123 Ereignisse (25%) übrig, bei denen eine Zusammenhangswahrscheinlichkeit von „möglich“ und „wahrscheinlich“ als „relevant“ beurteilt wurde. Ferner befragten die Wissenschaftler die beteiligten Mediziner nach der Schwere des Sturzereignisses, gemäß den einschlägigen SAE-Definitionen (SAE: engl.: serious adverse event, schwerwiegendes un­erwünschtes Ereignis). Für 18 der 123 Ereignisse mit hoher Zusammenhangswahrscheinlichkeit wurde dieses Kriterium zuerkannt, am häufigsten traten Hospitalisierungen auf. Wie viele Patienten sich hinter der Ereigniszahl verbergen, wurde nicht berichtet.

Stellungnahme der Stada Arzneimittel AG

Wir haben der Firma Stada Arzneimittel AG die Möglichkeit einer Stellungnahme zu den Kritikpunkten der Einordnung von Prof. Dr. Sebastian Harder eingeräumt, die Sie im Folgenden lesen:

„Angestrebt war die Generierung von Daten bis zur Sachverständigenausschuss-Abstimmung, daher wurde als Design der retrospektive Medical Chart Review (ohne Quelldatenvergleich und Kontrollen) gewählt. Eine Fall-Kontroll-Studie wurde verworfen, da es als aussichtslos erachtet wurde, detaillierte Daten einer genügend großen Anzahl an Kontrollen zu erhalten.

Die Datenvalidierung erfolgte primär durch die Ärzte (Bestätigung der Datenkorrektheit am Ende der Umfrage). Zudem wurden die Daten durch das Studienmanagement auf Konsistenz geprüft. Bei fehlender Bestätigung sowie bei unplausiblen Daten wurden die Ärzte direkt kontaktiert.

Die Kategorisierung der Stürze erfolgte gemäß der Definition in Studienbericht und Publikation [1] basierend auf standardisierten Kausalitätskriterien [2]. Nach Analyse der Dokumentation durch das Studienmanagement wurde die Kategorisierung durch den Leiter der Pharmakovigilanz und die Studienleitung (EU QPPV) geprüft.

Zur alternativen „Interpretation“:

Gemäß Definition in Studienbericht und Publikation [1] ist bei einem „relevanten“ Sturz ein Kausalzusammenhang nicht vollständig auszuschließen. Der Kausalzusammenhang ist aber nicht gesichert, insofern ist die Interpretation einer Sturz-UAW-Rate von 2,5% sachlich falsch. Die Ärzte berichteten bei fast allen Stürzen alternative Sturzursachen, das bedeutet Stürze sind in der Regel multifaktoriell. Es ist bekannt, dass unbehandelte Schlafstörungen ebenso zu Stürzen führen können wie therapierte Schlafstörungen – dies auch bei rezeptpflichtigen Schlafmitteln. Das BfArM verweist in seiner Stellungnahme [3] zum Antrag des Sachverständigenausschusses darauf, dass die Datenlage insgesamt keine Rückschlüsse auf ein erhöhtes Sturzrisiko bei Älteren zulasse. Bislang waren keine aussagekräftigen Daten vorhanden, weshalb wir trotz der bekannten Limitationen die Ergebnisse dieser peer-reviewed publizierten Studie für relevant halten. Darüber hinaus haben wir eine weitere Studie [4] mit prospektiver Datenerhebung gestartet; Ergebnisse werden für das Jahr 2022 erwartet.“

Literatur

[1] Perez S G et al. Retrospective post-authorisation safety study investigating the relationship of first-generation antihistamines with sedative effect and the risk of falls in older patients. Pharmazie 2020. doi: 10.1691/ph.2020.0784

[2] The use of the WHO-UMC system for standardised casecausality assessment. Informationen der WHO, www.who.int/medicines/areas/quality_safety/safety_efficacy/WHOcausality_assessment.pdf

[3] Diphenhydramin. Informationen des Sachverständigen-Ausschuss für Verschreibungspflicht, BfArM, 23. Januar 2020

[4] Apothekenbasierte, nicht-interventionelle Unbedenklichkeitsprüfung von Hoggar® Night Tabletten/Schmelztabletten unter Alltagsbedingungen. Informationen des ENCePP Secretariats der European Medicines Agency, www.encepp.eu/encepp/viewResource.htm?id=39165

Kontrolliertes Studiendesign fehlt

Das Pferd muss nach meiner Ansicht von vorne aufgezäumt werden: In einer Kohorte von 8942 Patienten mit Antihistaminika-Gebrauch erleiden 940 (10,5%) wenigstens ein Sturzereignis. Aus einer detaillierter betrachteten Gruppe von 379 dieser knapp 9000 Patienten können immerhin 25% dieser Ereignisse mit einer belastbaren Zusammenhangswahrscheinlichkeit dem Medikament zugeordnet werden. Da kein kontrolliertes Design (z. B. eine Fall-Kontroll-Studie, die grundsätzlich mit dem Studienansatz auch möglich wäre, wenn die Ärzte nicht nur Patienten mit Sturzereignis dokumentiert hätten, sondern auch gematchte Patienten ohne Ereignis) vorlag, muss die Rate der Sturz-UAW unkorrigiert bleiben und liegt bei knapp 2,5% („häufig“), die Rate schwerer Sturzereignisse bei etwa 0,4% („gelegentlich“).

Auch wurden die Ärzte nach alternativen Ursachen für das Sturzereignis gefragt, beispielsweise Begleiterkrankungen. Hier zeigte sich kein Unterschied zwischen „relevanten“ Ereignissen und den übrigen Ereignissen, außer einer Häufung der Angabe zu „unbehandelten oder inadäquat“ behandelten Schlafstörungen, die in der Gruppe der relevanten Fälle etwa doppelt so häufig angegeben wurde. Suggeriert wird, dass der (trotz Antihistaminikum) schlaflose Patient nachts desorientiert herumirrt und deswegen fällt. Insoweit ist dann die Schlussfolgerung der Autoren, „ein Zugang zu einer angemessenen Behandlung von Schlafstörungen mit niedriger Schwelle ist daher sehr wichtig“, im Kontext der OTC-Palette des Sponsors der Studie sehr durchsichtig, zumal gar nicht angegeben wird, ob die inzidente Gabe des Antihistaminikums wegen einer Schlafstörung erfolgte. Vielleicht wäre es aber gerade eine Verschreibungspflicht, die eine angemessene Behandlung einer Schlafstörung ermöglicht, unter Umständen auch mit der kontrollierten Verschreibung eines Antihistaminikums. |

Literatur

Gomez Perez S. et al. Retrospective post-authorisation safety study investigating the relationship of first-generation antihistamines with sedative effect and the risk of falls in older patients. Pharmazie 2020; 75: 666-670

Cho H, et al. Antihistamine use and the risk of injurious falls or fracture in elderly patients: a systematic review and meta-analysis. Osteoporos Int 2018; 10: 2163–2170

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