Aus den Ländern

Nicht schön, aber selten

Wie soll es mit Orphan Drugs weitergehen?

mp | An keiner anderen Stelle greifen Staaten der pharmazeutischen Industrie so sehr unter die Arme wie bei der Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen, auch Orphan Drugs genannt. Doch weil die Krankenkassen immer mehr Geld für diese ausgeben und Patienten ärmerer EU-Staaten keinen Zugang zu den teuren Mitteln haben, könnte sich der politische Umgang mit ihnen ändern. Bei einem Expertentreffen in Frankfurt am Main wird klar: Viele Akteure im Gesundheitswesen fordern ein neues Geschäftsmodell der Pharmafirmen – und das nicht nur bei Orphan Drugs.

Sandfarbene Steinplatten türmen sich zu gewaltigen Blöcken und leuchten grell. Es ist das IG Farben-Haus in Frankfurt am Main. Der ehemalige Firmensitz des weltgrößten Pharmaunternehmens der 1920er-Jahre strahlt, wenn er sich in die frühe Herbstsonne schiebt. So war es geplant. Denn er sollte einst die Stärke, Macht und Expertise der deutschen Pharmaindustrie repräsentieren. Am 28. September 2021 treffen wiederum Leuchttürme der Pharmabranche ­aufeinander – und zwar im Casino-Gebäude, direkt gegenüber des IG Farben-Hauses.

Neun Experten referieren zu einem Thema, das lange als blinder Fleck der Pharmaforschung galt: Arzneimittel zur Behandlung seltener Erkrankungen. Ein Versorgungsforscher, ein Patientenvertreter, drei Vertreter der Industrie, drei habilitierte Klinikärzte und ein forschender pharmazeutischer Chemiker sollen das Thema von jeder Perspektive aus beleuchten und diskutieren (s. Kasten „Die Experten im Überblick“). Den Anstoß zum Treffen gaben der Verein „House of Pharma & Healthcare“ und die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft (DPhG).

Für die Europäische Union ist eine Erkrankung „selten“, wenn nicht mehr als eine von 2.000 Personen betroffen ist. Was diesen Krankheiten an Häufigkeit fehlt, machen sie mit Vielfältigkeit wieder wett: Derzeit sind rund 8.000 solcher Diagnosen beschrieben. In der Europäischen Union leiden 30 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung, 4 Millionen davon allein in Deutschland.

Neue Therapien für seltene Erkrankungen zu entwickeln, ist für Firmen nicht lukrativ. Bei Orphan Drugs genügt allein ihr Verkauf nicht, um die Kosten zu decken, die bei der Entwicklung und Produktion anfallen. Daher auch der Name der Arzneimittel: Es sind die Therapien zur Behandlung der „Orphan Diseases“, vom englischen Wort „orphan“ (Waise), da jene Erkrankungen von der Industrie nicht nur stiefmütterlich behandelt werden, sondern gar nicht – wenn die Politik nicht eingreifen würde.

Die Experten im Überblick

Zum Expertentreffen „Seltene Erkrankungen“ am 28. September in Frankfurt am Main wirkten neun Redner mit. ­Jeder hielt einen 15-minütigen Vortrag, anschließend wurde fünf Minuten lang diskutiert. Die Vorträge hielten die ­folgenden Teilnehmer:

  • Prof. Dr. Bertram Häussler ist ­Vorsitzender der Geschäftsführung beim IGES Institut
  • Katja Standke arbeitet beim Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) und ist zuständig für den Geschäftsbereich Gesundheitspolitik-Europa
  • Dr. Magnus Walter ist Senior Director und Head of Discovery Operations bei AbbVie Deutschland
  • Prof. Dr. Jürgen Schäfer leitet das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg
  • Joachim Sproß ist Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke
  • Prof. Dr. Stefan Knapp ist Professor für pharmazeutische Chemie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und koordiniert den internationalen Forschungsverbund EUbOPEN
  • Prof. Dr. Dr. Christoph Klein ist Direktor der Kinderklinik und Kinderpoliklinik des Dr. von Haunerschen Kinderspitals in München
  • Peter Kuiper ist General Manager bei Sanofi Genzyme Germany
  • Prof. Dr. Bernhard Wörmann ist medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie

Der Gesetzgeber hilft nach

In den 1970er-Jahren gründeten sich in den USA Patientenverbände, die forderten, dass Regierungen in Aktion treten. Sie hatten Erfolg: Seit 1983 gilt in den USA der „Orphan Drug Act“. Darin sieht die Regierung vor, Anreize für Firmen zu setzen, damit diese Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen entwickeln. Die Europäische Union zog im Jahr 2000 mit der „EU Orphan Drug Regulation“ nach. Die Regierungen finanzieren einen Großteil der Forschung und erlassen Kosten für die Arzneimittelzulassung teilweise vollständig. Zudem garantiert der Gesetzgeber den Herstellern, als Orphan Drugs zugelassene Arzneimittel für zehn Jahre exklusiv vermarkten zu dürfen – aber nur dann, wenn die Indikation für die Therapie weiterhin als selten gilt.

Beim Expertentreffen in Frankfurt stimmen die Redner überein: Die Maßnahmen der Europäischen Union kurbelten erfolgreich die Entwicklung an. In den letzten 20 Jahren konnte die EU fast 200 neue Orphan Drugs zulassen. Und diejenigen Teilnehmer, die beim Treffen gegenüber des IG Farben-Hauses die Industrie verkörpern, fordern: Die EU-Regulierungen sollen so bleiben, wie sie sind. Das verwundert nicht, denn 70% der Gelder, die in neue Orphan Drugs investiert werden, stammen aus öffentlicher Hand. Gleichzeitig lädt die zehnjährige Marktexklusivität Hersteller ein, die Arzneimittel zu höheren Kosten als üblich zu verkaufen. Hersteller vertreiben Orphan Drugs im Durchschnitt 23-mal teurer als andere Präparate, deren Patentschutz gilt.

Neue Finanzierungswege gesucht

Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sind damit unzufrieden. Sie geben allein für reguläre Arzneimittel in jedem Jahr 3,5% mehr Geld aus. Bei Orphan Drugs steigen die Ausgaben sogar jährlich um 19%. Sie mutmaßen: Pharmakonzerne könnten den Orphan-Drug-Status gezielt ausnutzen, um Arzneimittel zu hohen Preisen auf den Markt zu bringen, die gar nicht als Orphan Drugs vorgesehen sind. Zunächst könnten sie die Unterstützung vom Staat abgreifen und später die Indikationen erweitern.

Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) führt als Gegenposition an: Insgesamt seien die Ausgaben für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen sogar gesunken. Denn für viele sei der Orphan-Drug-Status entfallen und einige der Präparate mittlerweile generisch erhältlich.

Trotzdem könnte die Politik bald eingreifen. Denn die GKV-Ausgaben stiegen während der SARS-CoV-2-Pandemie erheblich. Versorgungsforscher vermuten, dass sich die Marktexklusivität für Orphan Drugs ändern könnte. In GKV-Kreisen wird zudem ein „Cost-based-pricing“-Modell als Lösung erwogen. Nach diesem müssten Pharmafirmen den Preis, den sie für ein Arzneimittel verlangen, begründen. Sie müssten etwa offenlegen, wie viele Kosten für sie in der Entwicklung und Produktion entstanden sind und welchen Umsatz sie bei der Vermarktung erwarten.

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Das IG Farben-Haus in Frankfurt am Main repräsentierte einst das größte Pharmaunternehmen der Welt. Später diente es als Europa-Zentrale US-amerikanischer Streitkräfte. Heute beherbergt es einen Teil der Goethe-Universität.

EU strebt nach Solidarität

Aber was bedeutet das für die Betroffenen seltener Erkrankungen? Deutsche Patienten werden im europäischen Vergleich gut mit Orphan Drugs versorgt. In der Regel übernehmen die Krankenkassen die Therapiekosten – auch, wenn behandelnde Ärztinnen und Ärzte ausführliche Einzelfallanträge stellen müssen. Patienten mit seltenen Erkrankungen, die in wenig wohlhabenden EU-Staaten wie Albanien oder Mazedonien leben, haben ­quasi keinen Zugang zu Orphan Drugs. Die nationalen Gesundheits­systeme dort übernehmen die Kosten für die teuren Arzneimittel in den ­wenigsten Fällen.

Während der Pandemie zeigte sich, dass die Europäische Union solidarischer agieren will. Der VfA erwartet, dass die Kommission die Orphan-Drug-Regularien anpassen wird. Und das schon sehr bald. Seit Ende 2020 arbeitet die Kommission an ihrer neuen Arzneimittelstrategie. Ziel soll sein, dass Arzneimittel sicher, erschwinglich und für alle EU-Bürger zugänglich sind – auch in Krisenzeiten. Im vierten Quartal 2022 will die EU-Kommission ein Maßnahmen-Paket der Arzneimittelstrategie fertiggestellt haben, die auch Änderungen im Umgang mit Orphan Drugs umfassen wird.

Patentrecht - für oder gegen die Patienten?

Arzneimittelhersteller warnen: Würde die EU ihre Hilfen einschränken, ­würde die Industrie weniger Orphan Drugs entwickeln, ohne dass mehr ­Patienten in der EU Zugang zu be­stehenden Mitteln hätten. Industrielle unterstreichen: Ihr Modell habe Erfolg. Sie würden mit Konkurrenz auf dem „freien“ Markt das beste Ergebnis für die Patienten erzielen.

Nach der Pause betritt der pharmazeutische Chemiker Prof. Dr. Stefan Knapp die Bühne. Als sechster Redner beim Expertentreffen in Frankfurt vertritt er diejenigen, die an den Universitäten Mittel gegen seltene Erkrankungen erforschen. Er widerspricht den Firmen, dass ihr Weg das beste Ergebnis für den Patienten erziele. „Aus akademischer Sicht dient das Patentrecht nur der Kapitalgenerierung – und nicht, um Arzneimittel so schnell wie möglich in die klinische Praxis zu bringen.“ Viele wissenschaftliche Abteilungen der Pharmaindustrie arbeiten parallel an denselben Fragestellungen, ohne zu wissen, wie weit die Konkurrenz sei. Dabei würde eine gezielte Zusammenarbeit der Forschung helfen. „Können wir uns in diesem Bereich Konkurrenz überhaupt leisten?“, fragt Knapp in die Runde und präsentiert ein etwas anderes Projekt der Firma M4K-Pharma. Sie entwickelten auf Basis eines Open-Science-Modells Arzneimittel gegen seltene Hirntumoren bei Kindern. Hauptsächlich auf Spendenbasis arbeiteten hier viele Forscher aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Abteilungen zusammen. Ihr Ziel: Expertisen vereinen und wirksame Arzneimittel zu erschwinglichen Preisen auf den Markt bringen. Knapp erhofft sich in Zukunft mehr politische Unterstützung für vergleichbare Projekte.

Was wird die Zukunft bringen?

Utopisten träumen von der personalisierten Medizin. Bald soll ein einziger Patient ein Arzneimittel mit einer bestimmten Zusammensetzung erhalten. Solch eine Therapie wäre nicht nur selten, sondern einzigartig. Tendenziell wird die Diagnosestellung kleinteiliger und spezieller. Schon heute sind seltene Erkrankungen nicht mehr selten. Viele Lungenkrebs-Patienten sind nach einer differenzierten Diagnose plötzlich Betroffene eines speziellen, seltenen Tumors, für dessen Behandlung ein Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status infrage kommt. Dem ­Gesetzgeber wird sich irgendwann die Frage stellen: Für welchen Preis kann die Medizin von morgen verkauft ­werden, um möglichst viele Patienten versorgen zu können?

Das Expertentreffen zu Orphan Drugs endet mit einer Ankündigung: Ein ­Positionspapier soll entstehen, an dem alle neun Redner des Nachmittages mitwirken. Damit möchte der Verein „House of Pharma“ schon bald auf Politik und Wirtschaft zugehen. Es bleibt spannend, welche Forderungen genau das Papier enthalten wird – denn derselben Meinung sind die Gäste am 28. September nicht. Jeder verfolgt seine Interessen: Die einen wollen Geld verdienen, die anderen wollen sparen, andere wollen heilen, und die Patienten wollen gesund werden. Lösungen können wohl nur zusammen entstehen. Als die Veranstaltung endet, geben sich die Experten die Hand, reden noch ein wenig oder trinken einen Kaffee. Die ersten verlassen das Casino-Gebäude in Frankfurt, das plötzlich heller zu strahlen scheint als vor wenigen ­Stunden das IG Farben-Haus. Wolken ziehen über das Denkmal aus einer Zeit, in dem ein Teil der deutschen Industrie als unantastbar galt. |

Literatur

Morgan MR et al. Ideation and implementation of an open science drug discovery business model – M4K Pharma. Wellcome Open Res 2018, doi:10.12688/wellcomeopenres.14947.1

Schröder M, Telschow C. Arzneiverordnungsreport 2018: Lieblinge der Pharmabranche. Gesundheit und Gesellschaft, Ausgabe 9 2019

Seltene Erkrankungen – im Spannungsfeld zwischen Rahmenbedingungen und therapeutischen Herausforderungen. Expertentreffen des House of Pharma & Healthcare und der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) am 28. September 2021

Orphan designation. Übersicht der European Medicines Agency, abgerufen am 29. September 2021, Orphan designation: Overview | European Medicines Agency (europa.eu)

Orphan Drug Act - Relevant Excerpts. Artikel der U.S. Food & Drug administration, 3. September 2018, www.fda.gov

Zamora B et al. Comparing access to orphan medicinal products in Europe. Orphanet J Rare Dis 2019, https://doi.org/10.1186/s13023-019-1078-5

Zum Tag der Seltenen Erkrankungen - Wie viel Kassen für Orphan Drugs ausgeben (ajo). Meldung der Ärztezeitung vom 25. Februar 2021, www.aerztezeitung.de

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