Pandemie Spezial

Testen bei fehlenden Symptomen?

Falsch positive Ergebnisse häufen sich bei niedriger Inzidenz

Seit im März die ersten Antigen-Selbsttests in Deutschland zugelassen wurden, wird über ihren sinnvollen Einsatz im Rahmen der nationalen Teststrategie diskutiert. Mit dem Auf und Ab der Fallzahlen der letzten Monate ändern sich jedoch wesentliche Rahmenbedingungen in dieser Diskussion. Im Fokus steht der fallende Vorhersagewert der Schnelltests bei niedrigen Inzidenzen, die das Vertrauen in die Testungen untergraben könnten.

Fallende Inzidenzzahlen rücken eine alte Frage wieder in den Vordergrund: Wie sinnvoll ist bei niedriger Prävalenz von SARS-CoV-2 der Einsatz von Antigentests bei asymptomatischen Personen? Denn die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mittels Lateral-Flow-Schnelltest korrekt als SARS-CoV-2-positiv oder -negativ bewertet wird, hängt nicht nur von der operativen Testgenauigkeit ab, sondern wesentlich von der geschätzten Prävalenz der Infektion, und auch vom ­klinischen Bild, das die Person mitbringt. Die Mindestkriterien für Antigentests liegen laut Robert Koch-Institut bei 70% Sensitivität und 97% Spezifität. Wie sich bei dieser – eher bescheidenen Performance – die Fallzahlen auf den Vorhersagewert auswirken, sollen zwei Beispiele zeigen:

1. Vorhersagewert höhere Inzidenz.

Auf dem Höhepunkt der „3. Welle“, Mitte April, waren die bundesweiten Neuinfektionen der letzten sieben Tage pro 100.000 Einwohner von 50 auf ca. 200/100.000 gestiegen, regional auch weit höher. Um auf eine halbwegs realistische Prävalenz zu kommen, muss die „Dunkelziffer“ geschätzt werden. Das Robert Koch-Institut (RKI) schätzt die Untererfassung an infizierten Personen gegenüber den gemeldeten Fallzahlen auf den Faktor 1,8 [1] , eine Münchner Studie auf den Faktor 4, ­Daten aus Spanien und Island deuten auf einen Faktor 5 hin [2]. Legt man einen Faktor 5 zugrunde, wäre von 5 × 200 = 1000 Infizierten/100.000 im April auszugehen, entsprechend einer Prävalenz von 1%. Ein Antigentest, der den Mindestkriterien entspricht, würde unter diesen Bedingungen sieben der zehn Infizierten richtig erkennen, dabei drei falsch negative und 30 falsch positive Ergebnisse generieren [3]. Der positive Vorhersagewert, als Wahrscheinlichkeit, dass die Person tatsächlich infiziert ist, läge bei 19% (die negative bei 99,7%).

2. Vorhersagewert niedrige Inzidenz.

Bis Anfang Juli sanken die Inzidenzen auf 10/100.000. Bei sonst gleichen Bedingungen, aber einer Prävalenz von 0,05%, würde der gleiche Test keine der infizierten Personen erfassen, aber wiederum 30 falsch positive Ergebnisse liefern, trotz des 20-fach niedrigeren Anteils Infizierter. Die positive Vorhersagewahrscheinlichkeit läge bei nur 1,15% (die negative bei 99,98%). Der Schnelltest wäre also nur zuverlässig, fiele er negativ aus.

Foto: imago images/KS-Images.de

Nicht weniger, sondern mehr testen

Dieses Dilemma, das grundsätzlich auch bei den sensitiveren PCR-Tests besteht, muss kein Grund sein, die Teststrategie zu verwerfen. Aus mehreren Gründen können Antigentests auch in Settings mit niedriger Prävalenz sinnvoll sein.

1. Das RKI sieht von Anfang an vor, dass jedes positive PoC-Testergebnis umgehend durch einen PCR-Test zu bestätigen ist. Man sieht diesen Zweittest als essenziell bei der Anwendung von PoC-Schnelltests an, ob in der Hand von Laien oder von Profis. Denn ein positiver Schnelltest bedeutet keine SARS-CoV-2-Diagnose, sondern eine Momentaufnahme und einen Verdacht [4].

2. Ausschlaggebend für die Größe der Falsch-positiv-Rate ist seitens des Tests die Spezifität. Experten rechnen bei guten Antigentests mit einer Spezifität deutlich oberhalb des Mindestmaßes von 97%, nämlich mit 99,0 – 99,9% [5]. Schon bei 99% Spezifität ist in den ­obigen Rechenbeispielen nur mit jeweils zehn falsch positiven Ergebnissen/1000 zu rechnen, und zwar sowohl bei hoher als auch bei niedriger Basisprävalenz.

3. Höhere Aussagekraft gewinnen Antigentests bei serieller, also regelmäßig wiederholter Anwendung – etwa alle zwei Tage, wie es sich z. B. an Schulen etabliert hat. Denn entscheidend für die Verbreitung des Virus ist die etwa einwöchige Phase der Infek­tiosität, beginnend mit den ersten Symptomen. Dieses Zeitfenster, gekennzeichnet durch hohe Viruslast, muss das Testintervall sicher ab­decken, was bei zwei bis drei Testungen pro Woche gegeben ist.

4. Englische Infektionsmediziner haben jüngst vorgeschlagen, einem positiven Antigentest in Settings niedriger Prävalenz einfach einen zweiten Antigentest unter Überprüfung der Testbedingungen folgen zu lassen. Idealerweise unter Verwendung eines Tests eines anderen Herstellers, falls verfügbar, zumindest einer anderen Charge desselben Herstellers. Letzteres könnte eine „underperformance“ fehlerhafter oder falsch gelagerter einzelner Testchargen aufdecken [6] . Falsche Lagerung (Überwärmung/Kälte) und falsche Arbeitstemperatur zählen zu den häufigsten Fehlerquellen [7].

Ein Kommentar im britischen Lancet weist einerseits auf die persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Quarantänemaßnahmen hin, die auf Basis fehlerhafter Testergebnisse entstehen können. Andererseits müssten diese „Kollateralschäden“ gegen den Nutzen der Tests für die rasche Identifikation infektiöser Personen und die Unterbrechung von Infektionsketten abgewogen werden. Unterm Strich sind die Autoren überzeugt, dass es ein Fehler wäre, das Testen asymptomatischer Personen aufzugeben, angesichts des Potenzials von PoC-Tests, bei richtiger Anwendung Infektionsketten zu unterbrechen.

Britische Tests fehlerhaft?

Anlass zu dem Lancet-Kommentar war, dass das britische Massenscreeningprogramm massiv unter Druck steht. Die Regierung hatte am 9. April eine ähnliche Regelung wie in Deutschland am 8. März auf den Weg gebracht: Alle Briten konnten zwei Antigenschnelltests pro Woche für eine Selbsttestung kostenlos ordern. Umgehend wurde über eine mögliche Ressourcenverschwendung und Ineffektivität der Tests gestritten. Angesichts niedriger Prävalenzzahlen von 0,04% in London (0,12% landesweit) brauche es in der Hauptstadt 16.000 Testungen, um eine infizierte Person zu finden, rechnete Jon Deeks, Professor für Biostatistik in Birmingham, am 15. April vor. Nach den offiziellen Zahlen werde der Anteil falsch positiver Ergebnisse nach Antigenschnelltests den Anteil der richtig positiven überholen, sobald die Prävalenz von SARS-Cov-2-Infektionen unter 0,1% fällt [8]. – Diese Zahlen sind inzwischen Makulatur, die täglichen Neuinfektionen sind bis 11. Juni auf knapp 28.000 hochgeschossen, und die Tests stoßen ­wieder auf steigende Inzidenzen. Mittlerweile lastet auf dem britischen Testprogramm eine neue Hypothek: Mit dem Test der US-Firma Innova ein System zu verwenden, das die FDA gerade als nicht etabliert und absolut mangelhaft beurteilt hat [9]. |

Literatur

[1] Corona-Monitoring bundesweit (RKI-SOEP-Studie). Stand 9. Juni 2021 https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/lid/lid_node.html

[2] Gudbjartsson et al. Humoral Immune Response to SARS- CoV-2 in Iceland. N. Engl. J. Med. 2020,383:1724-1734

[3] https://diagnostics-global-health.github.io/rechner/

[4] Was ist bei Antigentests zur Eigenanwendung (Selbsttests) zum Nachweis von SARS-CoV-2 zu beachten? Epidem. Bulletin 8/2021 v. 25.2.2021

[5] Vgl DAZ 10/2021 v. 11.3.2021

[6] Fearon E et al. SARS-CoV-2 antigen testing: weighing the false positives against the costs of failing to control transmission. Lancet Respiratory Medicin 2021;9:685-687

[7] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2021/05/07/positiv-negativ-ungueltig

[8] Halliday J. Rapid covid testing in England may be scaled back over false positives. https://www.theguardian.com/world/2021/apr/15/rapid-covid-testing-in-england-may-be-scaled-back-over-false-positives

[9] Grover N, Allegretti A: Rapid Covid tests used in mass UK programme get scathing US report: https://www.theguardian.com/world/2021/jun/11/us-health-agency-gives-innova-lateral-flow-covid-tests-scathing-reviewGuardian, 11 Jun 2021

Apotheker Ralf Schlenger

 

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