Praxis

Die Kittelfrage

Halbgott in Weiß oder Dienstleister auf Augenhöhe?

mp | Nach dem zweiten Staatsexamen erlebt jeder Pharmazeut eine Metamorphose. Um für die Beratung adrett gekleidet zu sein, weicht der von Säuren und Laugen durchlöcherte Labormantel einem eleganten weißen Kittel. Erstaunt stellt ­jeder Pharmaziepraktikant fest: ­Patienten unterstellen den Trägern dieses Gewandes grundsätzlich Fachkompetenz. Seinen ursprüng­lichen Beitrag zur Hygiene in der Offizin hat der Kittel verloren. Nun ist es an der Zeit zu hinterfragen, was hinter diesem Symbol steckt.

Das Wort „Kittel“ wird seit dem 13. Jahrhundert nachweislich für leichte Oberhemden für Männer und Frauen verwendet. Doch allzu weit in die Vergangenheit reicht die Geschichte des weißen Kittels, das Herausstellungsmerkmal vieler Vertreter der Heilberufe nicht. Noch im 19. Jahrhundert trug ein Gros der Ärzte und Apotheker schwarze Gewänder oder Anzüge. Erst als Forscher wie Ignaz Semmelweis oder Robert Koch die Hygiene in der Medizin etablierten, sollten auf der Kleidung Verunreinigungen wie Blut sichtbar werden. Nach der Jahrhundertwende trugen fast alle Ärzte weiße Kittel, nach und nach hielt der Mantel der Reinheit auch in Offizinen und Laboratorien Einzug. Allerdings hat der Kittel seine ursprüngliche Bedeutung für die Hygiene verloren. Denn wenn pharmazeutisches Personal aseptisch arbeitet, muss er der tatsächlichen Reinraumbekleidung weichen. „Einen Einfluss auf das Infektions­risiko hat der Kittel im öffentlichen Bereich von Apotheken ganz sicher nicht“, sagt die Krankenhaushygie­nikerin Professor Ines Kappstein. Auch das Gesundheitsministerium in England empfiehlt seit mehr als einem Jahrzehnt Ärzten, im Krankenhaus auf ihren Kittel zu ver­zichten, da gerade diese das Infek­tions­risiko steigern. „Der Kittel für pharmazeutisches Personal hat vor allem eine symbolische Funktion und soll Sauberkeit ver­mitteln“, so Kappstein.

Foto: sharaku1216/AdobeStock

Das Beratungsgespräch stützt sich auf die Asymmetrie zwischen ratsuchender und beratender Partei. Der Kittel unterstreicht dies.

Die Macht der Gewohnheit

Die Farbe Weiß wird im westlichen Kulturkreis mit Frieden, Reinheit und Unvoreingenommenheit assoziiert – man denke an die weiße Friedens­taube oder an Tabula rasa – das unbeschriebene Blatt. Außerdem geht mit dem Kittel – gerade für ältere Patienten – ein gewohntes Muster einher. Medizinisches Fachpersonal trägt weiß und dient als Träger spezifischen Wissens, das üblicherweise unzugänglich in dicken Büchern großer Universitäten steht. Aber verbessert dieses gewohnte Symbol tatsächlich das Verhältnis zwischen Behandelnden und Behandelten? Wissenschaftler am Universitätsspital in Zürich untersuchten diese Frage empirisch und veröffentlichten die Ergebnisse 2018 im „BMJ Open“. Die Forscher zeigten 834 Patienten Fotos von Ärztinnen und Ärzten mit unterschied­licher Kleidung und befragten sie, wie kenntnisreich, vertrauenswürdig, fürsorglich und nahbar sie die Abgebildeten einschätzen. Für 36% der Befragten spielte die Kleidung eine wichtige Rolle bei der Behandlung. Die meisten Patienten fühlten sich am wohlsten, wenn behandelnde Ärzte weiße Kittel mit weißen Hosen trugen. Die Autoren schätzen, dass auf den Kontext abgestimmte Arbeitskleidung in Gesundheitssystemen die Adhärenz steigern und potenziell patientenrelevante Outcomes verbessern kann. In der Studie zeigten sich auch altersabhängige Unterschiede: Die Befragten unter 65 Jahren bevorzugten öfter als ältere Patienten alltägliche Kleidung an Medizinern. Kinder schätzten Ärztinnen und Ärzte in weißen Kitteln als kompetent aber „nicht freundlich“ ein.

Stoffliches zum Kittel

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Im Labor bietet der Kittel Schutz vor Säuren und Laugen. Dafür sollte er eng anliegend sein und keinen V-Ausschnitt aufweisen. Der Laborkittel sollte aus Baumwolle hergestellt sein, da sie schlechte Brenneigenschaften aufweist und weniger stark mit Chemikalien reagiert als synthe­tische Gewebe. Kittel aus synthetischen Mischgeweben werden bevorzugt in der Offizin getragen, da sie weniger knittern und nicht so „steif“ erscheinen.

Kleidung betont Asymmetrie

Der Kittel betont in erster Linie einen Unterschied: Medizinisches Fachpersonal trägt ihn, Kunden in der Apotheke tragen ihn nicht. Diese Asymmetrie spiegelt sich in medizinischen Phänomenen wider: etwa bei der Weißkittel-Compliance, bei der Patienten ihr Arzneimittel über die Behandlungsdauer nicht einnehmen – bis sie kurz vor dem Arztbesuch den Blister innerhalb weniger Tage leeren. Bei der Weißkittel-Hypertonie laufen Patienten, die in Gegenwart des Arztes einen höheren Blutdruck aufweisen, Gefahr, fälschlicherweise die Diagnose essenzielle Hypertonie zu erhalten und folglich mit blutdrucksenkenden Arzneimitteln behandelt zu werden.

„Das Potenzial des Beratungsgesprächs in der Apotheke beruht auf der Asymmetrie der Situation“, sagt Sprechwissenschaftlerin Afia-Ayélé Vissiennon. Für ihren Masterabschluss forschte sie zum Beratungs­gespräch in der öffentlichen Apotheke. „Die eine Partei hat das spezifische Fallwissen – sie erlebt die Krankheit, hat den Ausschlag gesehen und weiß, welche Mittel sie schon probiert hat. Die andere Partei verfügt über das Fachwissen, die Beratungskompetenz und den Blick von außen auf die Situation.“ Der Beratende könne somit helfen, wenn sich das Problem von der ratsuchenden Partei nicht aus eigener Kraft lösen lässt. „Eine Berufskleidung hebt die Asymmetrie hervor. Sie kann die Unterschiede zwischen beiden Parteien unterstreichen, Distanz aufbauen und so die Legitimierung der Beratung stärken“, so Vissiennon.

Es kann zu viel Asymmetrie sein

Gerade diese Distanz könnte die ratsuchende Person jedoch auch als hinderlich empfinden und abstoßen. Manche Patienten assoziieren mit dem Kittel den „Halbgott in Weiß“, eine professionelle Unnahbarkeit und einen Umgang „von oben herab“. „Ob der Kittel tatsächlich Ausdruck eines Paternalismus ist, darüber lässt sich streiten“, sagt Mediziner und Philosoph Professor Giovanni Maio gegenüber der DAZ. „Der Paternalismus würde bedeuten, dass sich der Apotheker anmaßen würde, besser als der Kunde oder der Patient zu wissen, was gut für ihn ist. Aber der Kittel transportiert eine Botschaft der Seriosität, Unparteilichkeit und Wissenschaftlichkeit.“ Der Kittel ist also nicht ausschlaggebend, wenn zwischen Apothekern und Patienten eine zu große Distanz herrscht. „Jemand ohne Kittel könnte genauso paternalistisch sein, hängt diesem nur ein anderes Mäntelchen um“, so Maio. Doch für manche Patienten könnte der Kittel einen Unterschied des Bildungsstandes symbolisieren, der untrennbar mit der sozialen Stellung innerhalb der Gesellschaft verflochten ist. „Die Asymmetrie zwischen Apothekern und Patienten kann nur hinsichtlich des Fachwissens wertgeschätzt werden und für die Beratung helfen. Jegliche persönliche oder gesellschaftliche Asymmetrie hat in der Beratung nichts zu suchen“, betont Sprechwissenschaftlerin Vissiennon. „Gleichzeitig könnte das Fehlen einer Uniform dem Beratungsgespräch an Professionalität nehmen. In der Apotheke handelt es sich um sensible Themen, die die Ratsuchenden nicht mit jeder Person besprechen würden. Daher ist eine Berufskleidung wichtig, um Vertrauen zu fassen und dem professionellen Gespräch einen Rahmen zu geben, der die Funktion der beratenden Person als Apothekerin und eben nicht als Privatperson etabliert.“

Steht der Kittel im Weg?

Wird es auch in Zukunft der Kittel sein, der die Funktion von Pharmazeutinnen und Pharmazeuten symbolisiert? Langsamer als in anderen Ländern wie Australien oder Kanada wandelt sich das Bild von Apothekern – vom Arzneimittelexperten mit spezifischem chemischen Fachwissen hin zu einem pharmazeutischen Dienstleister, der sein Wissen über Arzneimittel mit kommunikativen Fähigkeiten bündelt, um die Arzneimitteltherapie für Patienten sicherer zu machen. Gleichzeitig hat die Apotheke ihren Status als bequemste Anlaufstelle bei Fragen zu gesundheitlichen Themen an „Dr. Google“ abgeben müssen. Grundsätzlich geht die Kommunikationswissenschaft davon aus, dass sich in der Apotheke ratsuchende Personen auch selbst hätten helfen können. Der lückenlose Zugang zum Internet bietet Patienten die Möglichkeit, sich direkt selbst gesundheitsrelevante Informationen zu holen – seien diese evidenzbasiert oder nicht. Apothekerinnen und Apotheker be­gegnen in der Offizin der Spitze des Eisbergs der Fragen, die Kunden mitbringen. Hier gilt es, das Vorwissen des Patienten einzuordnen und zu analysieren. Die ­Medizin des 21. Jahrhunderts geht von mündigen Patienten aus, die zusammen mit Heilberuflern zusammen eine Lösung für ein medizinisches Problem erarbeiten. Viele Patienten wollen heute nicht mehr den hoch qualifizierten Entscheider, den Heilung und Erlösung bringenden „Halbgott in Weiß“. Sie wollen gut ausgebildete Fachkräfte, die die Ausgangssituation transparent und verständlich erklären und die möglichen Optionen mit all ihren Vor- und Nachteilen aufzeigen können. Diese ­Situation profitiert davon, dass die Berufskleidung eine Asymmetrie hervorhebt. Könnte es aber sein, dass der ­Kittel eine zu große Distanz für ein gelingendes „Shared Decision Making“ – also eine gemeinsame Entscheidungsfindung zum weiteren Vorgehen – aufbaut? Welche Berufskleidung in der ­Offizin könnte Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz, Asymmetrie im besten Sinne und gleichzeitig Augenhöhe verkörpern?

Im Kasten „Stärke in Weiß oder zivile Nähe zeigen?“ diskutieren ein Apo­theker und eine Apothekerin diese Fragestellung. |

Literatur

Thomas de Padova. Aha: Warum tragen Ärzte weiße Kittel? Der Tagesspiegel, Kolumne vom 25. Februar 2009

Understanding patient preference for physician attire in ambulatory clinics. BMJ Open 2019, doi:10.1136/bmjopen-2018-026009

Sartorial eloquence: does it exist in the paediatrician-patient relationship? BMJ 1994 doi: 10.1136/bmj.309.6970.1710

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