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Arzneimittel und Therapie

Die Therapie der ADHS

Ein multimodales Konzept gegen die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung

Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist bei Kindern und Jugend­lichen eine der häufigsten psychischen Störungen. Sie wird meist im Kindesalter diagnostiziert, bleibt jedoch in etwa 70% der Fälle bis ins Erwachsenenalter hinein bestehen. Betroffene sind in ihrer Lebensqualität meist stark beeinträchtigt. Dazu trägt auch die regelhaft vorkommende Stigmatisierung bei, die den Leidensdruck erheblich erhöhen kann. Für die Behandlung der ADHS stehen im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts neben Aufklärung, Beratung und psychosozialen Interventionen auch pharmakotherapeutische Maßnahmen zur Verfügung. | Von Daniela Leopoldt

Charakteristisch für eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyper­aktivitätsstörung sind folgende drei Hauptsymptome [2]:

  • Hyperaktivität (übersteigerter Bewegungsdrang)
  • Unaufmerksamkeit (gestörte Konzentrationsfähigkeit)
  • Impulsivität (unüberlegtes Handeln)

Die einzelnen Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und müssen nicht immer alle gleichzeitig auftreten. Voraussetzung für eine Diagnosestellung ist das eindeutige Vorliegen eines abnormen Ausmaßes von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Unruhe – immer bezogen auf das Alter und den Entwicklungsstand. Die Symptome müssen situationsübergreifend auftreten und im Zusammenhang damit stehen Funktions- bzw. Leistungsbeeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen (z. B. Schule, Arbeit, Familie, Sportverein).

Lernziele

  • in Deutschland zugelassene Wirkstoffe zur Behandlung der ADHS sowie das Nutzen-Risiko-Verhältnis der medikamentösen Therapie
  • mögliche Nebenwirkungen und ihre Kontrolle
  • Vergleich empfohlene Behandlungsmöglichkeiten einer diagnostizierten ADHS in Deutschland, USA und Groß­britannien
  • multimodales Therapiekonzept mit altersspezifischen Unterschieden bei Kindern und Jugendlichen ab sechs Jahren in Abhängigkeit vom Schweregrad

Für die medikamentöse Therapie der ADHS sind in Deutschland sowohl Stimulanzien wie Methylphenidat (Concerta®, Ritalin®) und Amphetamine (Attentin®, Elvanse®) als auch nicht stimulierende Wirkstoffe wie Atomoxetin (Strattera®) und Guanfacin (Intuniv®) zugelassen. In den USA ist darüber hinaus auch das als Antihypertensivum bekannte Clonidin (USA: Kapvay®) für diese Indikation zugelassen (siehe Tab. 1). Weltweit betrachtet steigt die Prävalenz medikamentöser Behandlungen. „In Deutschland hingegen gab es in den letzten Jahren keine relevanten Veränderungen in den Verschreibungszahlen“, sagt Prof. Dr. Tobias Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit der Medizinischen Fakultät Mannheim. Dies sind auch die Ergebnisse einer aktuellen Studie [5], die zudem darauf hindeutet, dass in Deutschland zumindest bei Kindern ein eher rückläufiger Trend beobachtet wird (s. Kasten „10-Jahres-Trend bei Verordnungen von ADHS-Arzneimitteln in Deutschland“). In einer kürzlich im „New England Journal of Medicine“ erschienenen Übersichtsarbeit hat Samuele Cortese, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Southampton, UK, neue Evidenzen bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit der FDA-zugelassenen pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten zusammengefasst und nationale Behandlungsempfehlungen (USA, UK und Deutschland) gegenüber­gestellt [1].

Tab. 1: Arzneimittel zur Behandlung der ADHS (nach [1], Fachinformation der Arzneimittel). Bei den Stimulanzien handelt es sich in Deutschland um verkehrs- und verschreibungsfähige Betäubungsmittel nach dem Betäubungsmittelgesetz.
Wirkstoff
Präparate (Auswahl)
Wirkmechanismus
Stimulanzien
Methylphenidat
Concerta®, Equasym Retard®, Medikinet®, Ritalin®
  • Erhöhung extrazellulärer synaptischer Dopamin- und Noradrenalinlevel durch Hemmung der Dopamin- und Noradrenalintransporter und Redistribution des vesikulären Monoamintransporters VMAT-2;
  • agonistische Aktivität am 5-HT1A-Rezeptor
Amphetamine
  • Erhöhung extrazellulärer synaptischer Dopamin- und Noradrenalinlevel durch Hemmung der Dopamin- und Noradrenalintransporter;
  • erhöhte Freisetzung von vesikulärem Dopamin durch VMAT-2-Hemmung und Freisetzung von zytosolischem Dopamin nach Rücktransport durch den Dopamintransporter;
  • Hemmung der Monoaminoxidase;
  • Interaktion mit Acetylcholin, Serotonin, Opioiden und Glutamat
  • Dexamphetamin
  • Lisdexamphetamin (Prodrug)
Attentin®
Elvanse®
Nicht-Stimulanzien
Atomoxetin
Agakalin®, Strattera®
  • selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung durch ­Hemmung des präsynaptischen Noradrenalintransporters;
  • Erhöhung extrazellulärer synaptischer Noradrenalin- und Dopamin-Level im präfrontalen Cortex
Guanfacin (verzögerte Freisetzung)
Intuniv®
  • Stimulierung postsynaptischer alpha2A-adrenerger Rezeptoren im ZNS (unter anderem im präfrontalen Cortex)
Clonidin (verzögerte Freisetzung)
  • in Deutschland nicht zur Behandlung der ADHS zugelassen
Kapvay® (USA)
  • Stimulierung postsynaptischer alpha2-adrenerger Rezeptoren im ZNS (unter anderem im präfrontalen Cortex)

10-Jahres-Trend bei Verordnungen von ADHS-Arzneimitteln in Deutschland

Laut einer aktuellen Beobachtungsstudie, auf Grundlage von Verordnungen zwischen den Jahren 2008 und 2018, blieb in Deutschland die Anzahl der Gesamtverordnungen an ADHS-Mitteln in den letzten Jahren stabil. Während bis 2012 insgesamt ein jährlicher Anstieg an Verordnungen zu verzeichnen war, gab es danach eine Trendwende. Für Kinder bis zum Alter von 16 Jahren war die Anzahl der verordneten ADHS-Arzneimittel seitdem rückläufig, für Jugendliche über 16 Jahren und Erwachsene dagegen wurde ein Anstieg der Verordnungen beobachtet [5].

Weniger Unfälle und Verletzungen bei besserer Leistungsfähigkeit

Eine Metaanalyse über randomisiert-kontrollierte Doppelblindstudien ergab, dass der Schweregrad der ADHS-Leitsymptome durch die zugelassenen Arzneimittel im Vergleich zu Placebo stärker gesenkt werden konnte. Dabei waren in Gruppenanalysen Amphetamine effektiver als Methylphenidat, Atomoxetin und Guanfacin. In Cross-over-Studien auf Patientenlevel sprachen jedoch etwa 41% der Studienteilnehmer gleichermaßen auf Amphetamine und Methylphenidat an, 28% reagierten besser auf Amphetamine und 16% besser auf Methylphenidat. Die übrigen Patienten reagierten auf keines der beiden Arzneimittel ausreichend. Studien mit On-/Off-Medikationsphasen in ein und derselben Person (within-person-design) zeigten während der Medikationsphasen eine signifikante Abnahme von möglichen Folgestörungen und negativen Ereignissen wie z. B. unbeabsichtigte Verletzungen, Autounfälle (bei männlichen Patienten), Sub­stanzmissbrauch und kriminelle Handlungen sowie eine bessere akademische Leistungsfähigkeit der Patienten.

Kardiovaskuläre Nebenwirkungen

Ein Anstieg der Herzfrequenz und des Blutdrucks werden als häufige Nebenwirkungen von Stimulanzien und Atomoxetin genannt, wohingegen bei einer Behandlung mit Guanfacin eine orthostatische Hypotension auftreten kann. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass eine im Kindesalter begonnene und über zehn Jahre fortgesetzte Behandlung mit Stimulanzien zwar zu einem moderaten Anstieg der Herzfrequenz führt, nicht aber des Blutdrucks. Ergebnisse einer Metaanalyse belegen, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen medikamentöser ADHS-Behandlung und plötzlichem Tod, Schlaganfall, Myokardinfarkt und der Gesamtmortalität besteht. Ein moderat erhöhtes Risiko ist jedoch laut Cortese nicht ausgeschlossen, weshalb insbesondere bei Patienten mit kardiovaskulären Vorerkrankungen und bei einer familiären kardialen Anamnese besondere Vorsicht geboten ist. Als Konsequenz sollen Puls und Blutdruck bei jeder Dosisanpassung sowie alle sechs Monate im Rahmen der Routineuntersuchungen kontrolliert werden.

Das Längenwachstum bei Kindern kontrollieren

Immer wieder diskutiert wird auch die appetitmindernde Wirkung und ein Einfluss der ADHS-Arzneimittel auf Körpergröße und/oder Körpergewicht. Cortese geht anhand verschiedener Studien und Reviews auf die Thematik ein. So ist bei Kindern, die mit Stimulanzien behandelt wurden, ein vermindertes Längenwachstum von ca. 1 cm pro Jahr innerhalb der ersten drei Jahre beobachtet worden. Daten von Studien mit sechs bis sieben Jahre alten Kindern zeigten, dass nach einer zweijährigen Behandlung mit Atomoxetin das Längenwachstum etwa 2,7 cm geringer ausfiel als erwartet. Eine erst kürzlich im Jahr 2020 erschienene Arbeit zeigte, dass Patienten, die in der Kindheit eine Behandlung mit Stimulanzien begonnen und diese an mindestens 50% der Tage fortgeführt hatten, nach 16 Jahren durchschnittlich 4,1 cm kleiner waren als diejenigen, die ihre Medikamente seltener eingenommen hatten. Andere Studien zeigten, dass nach ­Beendigung der Therapie die Körpergröße im Erwachsenenalter nicht betroffen war.

In Deutschland soll eine medikamentöse ADHS-Therapie, unabhängig von der Wahl des Arzneimittels, mit regelmäßiger Kontrolle und Dokumentation des Körpergewichts einhergehen, bei Kindern und Jugendlichen auch mit Bestimmung der Körpergröße und der entsprechenden Altersperzentile. So können bei Bedarf rechtzeitig Gegenmaßnahmen (z. B. Änderung der Essgewohnheiten, zusätzliche oder gehaltvollere Mahlzeiten, Arzneimitteleinnahme zu anderen Zeiten, Pausieren der Arzneimitteleinnahme – sogenannte drug holidays, Wechsel des Präparates) eingeleitet werden. „Für das seit 2016 in Deutschland zugelassene Guanfacin gibt es nach bisherigen Erfahrungen keinen Hinweis auf eine Beeinflussung des Längenwachstums“, sagt Banaschewski.

Therapieabbruch auch aufgrund von Stigmatisierung

In seinem Review kommt Cortese zum Schluss, dass die zur Behandlung der ADHS eingesetzten Arzneimittel effektiv sind zur kurzzeitigen Reduktion der Leitsymptome Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit, möglicherweise auch langfristig. Ein Problem in der Behandlung stellt jedoch die oftmals unbefriedigende Adhärenz der Patienten dar, die laut Banaschewski „den Therapieerfolg erheblich ­limitiert“. Neben eventuell auftretenden Nebenwirkungen führen häufig auch eine als unzureichend empfundene Wirksamkeit, die Abneigung gegen die Einnahme von Medikamenten sowie eine Stigmatisierung zum Therapieabbruch.

Deutschland: Pharmakotherapie von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit vom Schweregrad

Grundlage für die Behandlung in Deutschland bildet die S3-Leitlinie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalter. Wie in den USA und dem Vereinigten Königreich soll die Therapie im Rahmen eines multimodalen Gesamtkonzepts erfolgen, in dem psychosoziale (einschließlich psychotherapeutische), pharmakologische und ergänzende Interventionen kombiniert werden. Bezüglich des Einsatzes der Pharmakotherapie bei Kindern wird in Deutschland ein eher konservativer Ansatz verfolgt, denn die Behandlung von mindestens sechs Jahre alten Kindern und Jugendlichen erfolgt hier in Abhängigkeit vom Schweregrad (s. Tab. 2), in den sowohl die Symptomausprägung als auch der Grad der Funktionsbeeinträchtigung einfließen. Bei leichter Symptomatik sollte zunächst mit nichtmedikamentösen Maßnahmen versucht werden, eine Besserung zu erreichen. Bei Vorliegen einer schweren Symptomatik und starker Funktionsbeeinträchtigung dagegen sollte den Patienten nach gründlicher Psychoedukation primär eine Pharmakotherapie empfohlen werden, wenn dies mit den Präferenzen des Patienten und der Eltern vereinbar ist. Ebenso ist bei entsprechender Präferenz und moderater Ausprägung/Funktionsbeeinträchtigung oder unzureichender Wirksamkeit vorher angewandter nichtmedikamentöser Maßnahmen die Indikationsstellung für eine Pharmakotherapie gegeben. Im Gegensatz dazu empfehlen die aktuellen NICE-Guidelines in Großbritannien sowie die Leitlinien der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry und der American Academy of Pediatrics den Einsatz der ADHS-Pharmakotherapie unabhängig vom Schweregrad. Im Erwachsenenalter ist die Pharmakotherapie aufgrund der vorhandenen Evidenz auch bei leichter und moderater Ausprägung primäre Therapieoption in Deutschland. Kindern unterhalb von drei Jahren soll eine ADHS-Pharmakotherapie nicht angeboten werden. Kinder unterhalb von sechs Jahren sollen in erster Linie psychosozial behandelt werden. Aufgrund unzureichend vorhandener Evidenz kommt eine medikamentöse Behandlung hier nur als Zweitlinien-Therapie infrage, wenn nichtmedikamentöse Therapieoptionen ausgeschöpft wurden. Dann soll die Therapie nur durch einen Arzt mit besonderen Kenntnissen auf dem Gebiet von Verhaltensstörungen in dieser Altersklasse durchgeführt werden.

Tab. 2: Behandlung von Jugendlichen und Kindern ab sechs Jahren in Deutschland, wenn eine Psychoedukation nicht aus­reichend ist [1, 2].
Schweregrad
Erstlinien-Behandlung
Zweitlinien-Behandlung
mild bis moderat
Elterntraining oder familienbasierte Interventionen; eventuell Schul- oder Arbeitsplatz-­basierte Interventionen
Pharmakotherapie in absteigender Rangfolge: Stimulans (vorrangig Methylphenidat) - ­Atomoxetin - Guanfacin
moderat bis schwer
Pharmakotherapie in absteigender Rangfolge: Stimulans (vorrangig Methylphenidat) - ­Atomoxetin - Guanfacin
Elterntraining oder familienbasierte Interventionen; eventuell Schul- oder Arbeitsplatz-­basierte Interventionen

Therapieeinstellung nur durch qualifizierten Facharzt

Generell ist die medikamentöse Behandlung nur nach einer gesicherten Diagnosestellung basierend auf einer sorgfältigen Anamnese und Untersuchung indiziert und soll nur von einem entsprechend qualifizierten Facharzt (z. B. Kinder- und Jugendpsychiater, bei Erwachsenen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) initiiert und beaufsichtigt werden. Dieser soll neben Kenntnissen auf dem Gebiet der ADHS auch über Kenntnisse bei der Überwachung pharmakothera­peutischer Behandlungen verfügen. Ist die medikamentöse Therapie durch den Spezialisten einmal erfolgreich eingestellt, können Folgeverordnungen und damit im Zusammenhang stehende Kontrolluntersuchungen laut Leitlinie in Ausnahmefällen auch von Hausärzten vorgenommen werden. Regelmäßige Vorstellungen beim Spezialisten sind jedoch angezeigt, um Wirksamkeit und Notwendigkeit der Therapie zu überprüfen und diese erforderlichenfalls anzupassen.

Individuelle Unterschiede bei der Auswahl eines geeigneten Arzneimittels

Aufgrund eines noch immer mangelhaften Verständnisses der neurobiologischen Grundlagen der ADHS beruht die Auswahl eines geeigneten Arzneimittels für jeden Patienten laut Cortese nach wie vor auf einer Versuchsbasis (trial-and-error). Auch Banaschewski ist der Meinung, dass es „bislang nicht möglich ist, das Ansprechen auf ein bestimmtes Medikament vorherzusagen“. Nach Empfehlungen der deutschen S3-Leitlinie sollten neben dem Zulassungsstatus insbesondere die erwünschte Wirkdauer, das zu erwartende Wirkprofil sowie das Spektrum unerwünschter Wirkungen bei der Auswahl des Präparates berücksichtigt werden. Auch Komorbiditäten und koexistierende Störungen (wie Angststörungen, Tics oder Störungen des Sozialverhaltens) sowie die Adhärenz beeinträchtigende Umstände sollten in die Entscheidungsfindung einfließen. Darüber hinaus spielen Missbrauchsgefahr und Präferenzen des Patienten bzw. der Familie oder Sorgeberechtigten eine entscheidende Rolle.

Die initiale Behandlung soll mit Stimulanzien erfolgen, sofern keine relevanten Komorbiditäten oder koexistierende schwere Störungen des Sozialverhaltens vorliegen. Dabei wird in Deutschland den diversen Methylphenidat-Präparaten der Vorrang gegeben. Die Initialbehandlung mit Amphet­aminen ist hierzulande (im Gegensatz zu den USA) außerhalb des Zulassungsbereiches. Vor deren Einsatz muss ein Behandlungsversuch mit Methylphenidat unternommen werden, dessen Erfolg als klinisch unzureichend bewertet wurde. Im Erwachsenenalter kann die Behandlung auch mit Atomoxetin begonnen werden. Auch bei gleichzeitigen Tic-Störungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 17 Jahren stehen neben Stimulanzien Atomoxetin oder Guanfacin für die Initialbehandlung zur Verfügung. Dabei bewegt sich die Behandlung mit Guanfacin nur dann im Rahmen der Zulassung, wenn die Therapie mit Stimulanzien keine Option darstellt bzw. sich diese als unwirksam oder unverträglich erwiesen haben. Bei Vorliegen eines erhöhten Risikos für Substanzmissbrauch bzw. nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch sollte auf langwirksame Stimulanzien bzw. Atomoxetin oder Guanfacin als Alternative zurückgegriffen werden. Patienten mit koexistierenden Angststörungen sollen Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin erhalten. Im Gegensatz zu dem rasch wirkenden Methylphenidat stellt sich der Effekt von Atomoxetin aber erst im Laufe einer Woche ein und bis zur vollen Wirksamkeit können vier bis sechs Wochen vergehen.

Zum Anfang einer medikamentösen Behandlung mit Stimulanzien, Atomoxetin oder Guanfacin sollte bei jeder Änderung der Dosierung die Wirksamkeit auf die ADHS-Symptomatik überprüft werden und engmaschig (z. B. wöchentlich) auch das Auftreten unerwünschter Wirkungen durch eine Befragung des Patienten oder einer Betreuungsperson erfasst werden, so die Forderung in der ADHS-Leit­linie. Weiter heißt es, „auch im weiteren Verlauf müssen regelmäßige Wirksamkeit und unerwünschte Wirkungen erfasst werden. Mindestens alle sechs Monate sollte überprüft werden, ob eine weitere Verabreichung indiziert ist, einmal jährlich soll die Indikation für die Fortführung der medikamentösen Behandlung im Rahmen einer behandlungsfreien Zeit überprüft werden“ [2].

Auf einen Blick

  • Die drei Kernsymptome der ADHS sind: Hyper­aktivität, Impulsivität und/oder Unaufmerksamkeit.
  • Das multimodale Therapiekonzept besteht aus Aufklärung und Beratung, psychosozialen Interventionen (insbesondere Verhaltenstherapie, Elterntrainings) sowie zunehmend auch medikamentöser Behandlung.
  • Für die medikamentöse Behandlung stehen Stimulanzien (Methylphenidat und Amphetamine) sowie Nicht-Stimulanzien (Atomoxetin und Guanfacin) zur Verfügung.
  • Kinder unterhalb von drei Jahren sollen nicht medikamentös behandelt werden und Kinder zwischen drei und sechs Jahren primär psychosozial.
  • Die medikamentöse Therapie von Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 18 Jahren erfolgt in Deutschland in Abhängigkeit vom Schweregrad.
  • Im Erwachsenenalter ist die Pharmakotherapie primäre Behandlungsoption, wenn die Psychoedukation allein nicht ausreichend ist.
  • Das Nutzen-Risiko-Verhältnis der ADHS-Arzneimittel ist als positiv zu bewerten. Eventuell ­auftretende Nebenwirkungen sind gut kontrollierbar und lassen sich durch entsprechende ­Gegenmaßnahmen minimieren.

Neben dem Wirkstoff ist die Arzneiform ­entscheidend

Viele ADHS-Arzneimittel sind in verschiedenen Arzneiformen verfügbar und können somit entsprechend der pharmakokinetischen Profile abhängig von den Anforderungen im Tagesverlauf und passend für die individuelle Situation verordnet werden. Vorteile nichtretardierter Arzneiformen sind eine genaue Dosisanpassung innerhalb der Initialphase und eine höhere Flexibilität bei der Dosierung.

Langwirksame Formulierungen von Stimulanzien dagegen sind bei einem bestehenden Risiko für Substanzmissbrauch geeignet, aber auch um eine bessere Adhärenz zu fördern. Eine vereinfachte und nicht so häufige Arzneimitteleinnahme ist benutzerfreundlich und kann auch einer möglichen Stigmatisierung entgegenwirken (z. B. keine Einnahme in der Schule).

Kombination von Wirkstoffen möglich

Spricht ein Patient weder auf Stimulanzien noch auf Atomoxetin oder Guanfacin an oder führt die Therapie mit einem der genannten Präparate zu nicht tolerierbaren unerwünschten Wirkungen, kann auch eine Kombinationstherapie aus verschiedenen Wirkstoffen in Betracht gezogen werden. Der Off-Label-Einsatz anderer Substanzen wie z. B. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Modafinil ­(Vigil®), Selegilin (Selegilin-neuraxpharm®) und Bupropion (Elontril®) wird nach aktuellem Standard nicht empfohlen. Laut S3-Leitlinie soll auch Cannabis nicht zur Behandlung der ADHS eingesetzt werden. |

Literatur

[1] Cortese S. Pharmacologic treatment of attention deficit-hypractivity disorder. N Engl J Med 2020;383:1050-1056

[2] Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalter. S3-Leitlinie 2017, Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. AWMF Registriernummer: 028-045

[3] Fachinformationen der Arzneistoffe

[4] Banaschewski T. Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, persönliche Mitteilung

[5] Grimmsmann T, Himmel W. The 10-year-trend in drug prescriptions for attention-deficit/hyperactivity isorder (ADHS) in Germany. European J Clin Pharmacol 2020, https://doi.org/10.1007/s00228-020-02948-3

Interessenkonflikte

Die Autorin versichert, dass keine Interessenkonflikte ­bestehen.

Autorin

Dr. Daniela Leopoldt ist Apothekerin und Pharmakologin. Nach ihrer Promotion an der FU Berlin war sie mehrere Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in den USA und anschließend in der öffentlichen Apotheke sowie der pharmazeutischen Industrie tätig. Seit 2017 schreibt sie als freie Medizinjournalistin unter anderem Beiträge für die DAZ.

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