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Arzneimittel und Therapie
Hoffnung für Tinnitus-Patienten?
Gleichzeitige Stimulation von Zunge und Ohren soll Durchbruch bringen
Schätzungen zufolge leiden weltweit etwa 10 bis 15 Prozent der Menschen unter einem Tinnitus. Betroffene nehmen dabei ein Pfeifen oder Brummen wahr, ohne dass eine äußere Klangquelle vorliegt. Phantomgeräusche sind je nach Schweregrad und Häufigkeit lästig oder beeinträchtigen massiv die Lebensqualität. Im Extremfall stellen Betroffene ihre Freizeitaktivitäten ein, ihre Beziehungen leiden, Depressionen entstehen, letztlich kann die Berufsunfähigkeit drohen. Psychotherapeutische Interventionen helfen meist nur, mit dem Tinnitus zu leben. Eine effektive medizinische Behandlung mit Arzneimitteln existiert bisher nicht.
Elektrische Stimuli sollen helfen
Als vielversprechender neuer Ansatz im Kampf gegen den Tinnitus gilt die Neuromodulation, bei der Nerven elektrisch stimuliert werden. Diese äußeren Reize sollen die bei einem Tinnitus fehlgesteuerten Neurone remodulieren. Die Firma Neuromod hat ein Gerät (Lenire®) entwickelt, bei dem Schall- und elektrische Zungenstimulation kombiniert werden (bimodale Neuromodulation). Das Medizinprodukt besteht aus kabellosen Kopfhörern, die Töne mit Breitbandrauschen an beide Ohren liefern und so den Hörnerv stimulieren sollen. Ein weiteres Gerät, das zwischen die Lippen gesteckt wird, schickt über 32 Elektroden milde elektrische Signale an die Zungenspitze. Takt und Stärke der Reize steuern die Patienten per Handregler. Schon 2016 hat eine irische Pilotstudie über praktische Versuche mit dem Gerät an 54 Patienten berichtet. Ergebnis: Die Ohrgeräusche reduzierten sich binnen zehn Wochen signifikant. Dabei hatten die Teilnehmer das Gerät täglich 30 bis 60 Minuten, also insgesamt zwischen 35 und 70 Stunden verwendet [3].
Neuromodulation im Test
In einer randomisierten klinischen Studie erprobten 326 weitere Teilnehmer mit chronischem, subjektivem Tinnitus am St. James´s Hospital im irischen Dublin und am Tinnituszentrum der Universität Regensburg von 2016 bis 2019 das Gerät. Die Teilnehmer litten seit durchschnittlich 2,6 Jahren unter Tinnitus. Das Ausmaß ihrer Beeinträchtigung wurde mittels der Fragebögen „Tinnitus Funktionsindex“ (TFI) und „Tinnitus Handicap Inventory“ (THI) erfasst. Sowohl bei TFI als auch bei THI werden entsprechend der Patienten-Antworten auf Fragen wie „Hindert Ihr Tinnitus Sie am Einschlafen?“ oder „Haben Sie das Gefühl, dem Tinnitus nicht länger gewachsen zu sein?“ Punkte vergeben. Die Werte können bei beiden Fragebögen jeweils zwischen 0 (störungsfrei) und 100 Punkten (sehr schwer belastet) liegen. Zu Studienbeginn wiesen die Teilnehmer einen THI von durchschnittlich 43,5 Punkten und einen TFI von 47,9 Punkten auf.
Drei verschiedene Varianten
Per Zufallsprinzip wurden die Probanden drei Gruppen (PS1, PS2, PS3) zugeteilt, um verschiedene Varianten der bimodalen Stimulation zu vergleichen. Die Gruppe PS1 erhielt dabei synchron akustische Reize und elektrische Impulse auf die Zungenspitze. PS2 bekam die Zungenimpulse mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung (30 bis 50 ms) nach den Hörreizen. Bei PS3 fand eine längere Verzögerung von 550 bis 950 ms statt. Zudem lagen bei dieser Gruppe die Tonfrequenzen mehr im Tieftonbereich und haben daher andere Regionen im auditorischen Kortex angesprochen als in den anderen beiden Behandlungsgruppen.
Alle Patienten sollten über zwölf Wochen das Gerät täglich 60 Minuten verwenden (also insgesamt 84 Stunden). Als compliant galten die Probanden, die das Gerät mindestens 36 Stunden benutzt hatten. Die Forschergruppe veröffentlichte ihre Ergebnisse im Oktober 2020 in der Fachzeitschrift „Science Translational Medicine“ [2]. Der Großteil (83,7%) der Teilnehmer hatte das Gerät tatsächlich mindestens 36 Stunden während der zwölf Wochen genutzt.
Besserung noch ein Jahr später messbar
Von diesen erlebten in den drei Behandlungsgruppen 74,7 bis 88,8% eine klinische Besserung ihres Tinnitus. Der Therapieerfolg in Zahlen: Der THI war bei den Gruppen PS1, PS2 und PS3 durchschnittlich um 14,6, 14,5 und 13,5 Punkte gesunken. Der TFI hatte sich um 13,9, 13,8 und 13,2 gebessert. Die drei Gruppen profitierten also ähnlich gut. Die kognitive Verhaltenstherapie gilt als anerkannte Therapiemethode eines Tinnitus. Dabei sollen bestimmte Strategien (Musik hören, persönliche Einstellung zum Ohrgeräusch ändern usw.) den Betroffenen helfen, besser mit dem Tinnitus zurechtzukommen. Nach einer achtmonatigen Anwendung führen diese Strategien zu einer Verbesserung im THI-Fragebogen, die sich im Bereich von etwa zehn Punkten bewegt. Dahingegen konnte in der Studie bereits nach sechs bis zwölf Wochen eine durchschnittliche Verbesserung von 14,2 Punkten in dem THI-Bogen gesehen werden [1]. Tendenziell half das Gerät den Patienten am besten, deren Symptome vor der Studie am schlimmsten gewesen waren. Es gab keinerlei ernste Nebenwirkungen.
Auch zwölf Monate nach Behandlungsende war die Wirkung noch messbar. Nur der THI und TFI von Gruppe PS3 hatte sich etwas verschlechtert, allerdings lagen beide immer noch unter dem Anfangswert vor der Studie. Bei PS1 und PS2, die eine gleichzeitige bzw. nur kurzzeitig versetzte Stimulation von Ohr und Zunge erhalten hatten, war der Effekt fast vollständig erhalten. Schon die Pilotstudie von 2016 kam zu dem Schluss, dass synchrone Stimuli am hilfreichsten seien. Limitierend lässt sich sagen, dass der Hersteller Neuromod die Studie finanziert hat. Zudem gab es keine Placebo-Kontrollgruppe. Somit ist unklar, ob es einen Scheineffekt gegeben haben könnte. Weitere klinische Studien zur Optimierung der Therapiedauer werden aktuell durchgeführt. Lenire® wird in Deutschland für 2750 Euro angeboten. Trotz der scheinbar guten Studienergebnisse ist der Nutzen jedoch fraglich (s. Kommentar „Ohne unabhängige Studien nicht zu empfehlen“). |
Literatur
[1] Cima R. et al. Specialised treatment based on cognitive behaviour therapy versus usual care for tinnitus: a randomised controlled trial. Lancet 2012; Vol. 379:1951-1959
[2] Conlon B. et al. Bimodal neuromodulation combining sound and tongue stimulation reduces tinnitus symptoms in a large randomized clinical study. Sci Transl Med 2020; Vol. 12
[3] Hamilton C. et al. An Investigation of Feasibility and Safety of Bi-Modal Stimulation for the Treatment of Tinnitus: An Open-Label Pilot Study. Neuromodulation 2016; Vol. 19:832-837
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