Beratung

Aus dem Takt

Wie Jetlag und Schichtarbeit unsere innere Uhr belasten

Von Verena Stahl | Flugreisen ermöglichen uns wahre Sprünge durch die Zeitzonen. Leider kommt unsere innere Uhr mit diesen drastischen Überhol- oder Bremsmanövern nicht richtig mit. Die mit dem Tag-Nacht-Rhythmus synchronisierten physiologischen Prozesse geraten durcheinander und adaptieren nur langsam an die neue Umgebung. Der als Jetlag bezeichnete verschobene zirkadiane Rhythmus ist kurzfristig belastend, er tritt aber auch in chronischer Form auf, bei Arbeiten im Wechselschicht­system. Um unserer inneren Uhr in beiden Situationen auf die Sprünge zu helfen, greifen viele zu Nahrungsergänzungsmitteln mit Melatonin. Doch ist die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sicher belegt?

Melatonin wird bei eintretender Dunkelheit mit hoher Gleichmäßigkeit aus der Zirbeldrüse sezerniert (s. Stahl V. „Schäfchen zählen leicht gemacht - Melatonin soll den Schlaf fördern“ auf Seite 42 in dieser Ausgabe der DAZ). Das „Nachthormon“ folgt dabei einer ausgeprägten zirkadianen Rhythmik und verbreitet den Takt unserer inneren Uhr aus dem Nucleus suprachiasmaticus auf die Zellen unseres Körpers. Die Erforschung der spannenden dahinterliegenden molekularen Mechanismen wurde übrigens 2017 mit dem Nobelpreis für Medizin/Physiologie gewürdigt.

Eine eindeutige Chronobiologie und Schwankungen im Tagesverlauf weisen neben der Melatonin-Ausschüttung auch weitere Hormonspiegel (z. B. Cortisol, Insulin, Testosteron), Blutdruck, Körpertemperatur, Herzfrequenz, Schlafen und Wachen sowie Verdauungs- und Regenerationsprozesse auf (siehe Abb. 1). In der Nacht werden Körpertemperatur, Herztätigkeit, Atmung, Verdauungsaktivität und Muskeltonus ­heruntergefahren, wodurch die Leistungsfähigkeit eines Menschen nachts deutlich niedriger als tagsüber ist [1]. Wie man aus Experimenten unter Isolierung von der Außenwelt weiß, werden diese Rhythmen annähernd beibehalten, auch wenn Licht als starker externer Stimulus fehlt. Bleibt allerdings über längere Zeit der Einfluss von Licht aus und hapert es dadurch an der entsprechenden Feinadjustierung unserer inneren Uhr, kommt es im sogenannten Freilauf zu Abweichungen von der exakt getakteten Periodenlänge ­eines Tages von 24 Stunden (z. B. bei vollständiger Blindheit).

Abb. 1: Viele wichtige physiologische Prozesse wie Hormonausschüttung, Stoffwechselfunktionen, Körpertemperatur, Blutdruck und körperliche und geistige Leistungsfähigkeit schwanken im Tagesverlauf und werden durch unsere innere Uhr zeitlich getaktet.

Keine Anpassung auf Knopfdruck

Neben dem Wechsel aus Helligkeit und Dunkelheit gibt es noch weitere externe „Zeitgeber“, wie den ungeliebten Wecker und das Wahrnehmen der Uhrzeit, soziale Interaktionen, das Arbeitsumfeld, regelmäßige Mahlzeiten und die tagesperiodisch schwankenden Umgebungstemperaturen. Der Begriff des „Zeitgebers“ wurde übrigens in den angloamerikanischen Sprachgebrauch übernommen. Er beschreibt ebenjene Faktoren, die Einfluss auf unsere zirkadianen Rhythmen und das genaue Anpassen der inneren Uhr (sogenanntes Entrainment) auf die geophysikalisch bedingte Periodenlänge eines Tages von 24 Stunden nehmen können. Das „Verstellen“ der inneren Uhr gelingt aber auch durch den Einfluss von Zeitgebern nicht so spontan, wie man die Uhrzeit am Handgelenk neu einstellen kann, wenn man in eine andere Zeitzone reist. Es braucht einige Tage, bis sich der menschliche Körper an Zeitumstellungen z. B. bei Fernreisen gewöhnt oder an den alljährlichen Wechsel von Winter- auf Sommerzeit. Der Vorteil der hohen Regelmäßigkeit zirkadianer Rhythmen erweist sich in dieser Hinsicht als unerwünscht träge.

Jetlag-Symptome

In der Zeit bis zur Anpassung an die neue Zeitzone äußert sich der Jetlag in vorübergehenden Symptomen wie Tagesschläfrigkeit, Ein- und Durchschlafstörungen während der Nacht, verminderter Aufmerksamkeit und Leistungseinbußen im Wachzustand. Hinzu kommen gastrointestinale Symptome wie Obstipation und Appetit zu ungewöhnlichen Zeiten. Verdauungsstörungen können allerdings auch durch Bewegungs- und Flüssigkeitsmangel sowie veränderten Luftdruck während des Flugs mitbedingt sein oder verstärkt werden. Jetlag-Symptome können als besonders störend empfunden werden und Risiken hervorrufen, wenn unmittelbar bzw. in den ersten ein bis zwei Tagen nach Ankunft am Zielort eine hohe Leistungsbereitschaft gefragt ist, z. B. bei Piloten, Flugbegleitern, Geschäftsreisenden oder Leistungssportlern. Bei Interkontinentalflügen gen Osten erscheint die Anpassung an die neue Zeitzone schwerer, da sich der übliche Tagesrhythmus verkürzt, bei Reisen gen Westen verlängert er sich und wird tendenziell besser toleriert. Eine Faustformel besagt, dass die Häufigkeit und Schwere des Jetlags mit der Anzahl der durchquerten Zeitzonen steigt.

Ständiger Jetlag

Wie bei den beim Jetlag auftretenden temporären Störungen der endogenen Rhythmen, insbesondere des Schlaf-Wach-Rhythmus, kommt es bei Schichtarbeit zu einer immer wiederkehrenden Desynchronisation. Viele Schichtsystem-­Arbeitsmodelle schließen Nachtarbeit mit ein, so dass die Betroffenen entgegen der menschlichen Gewohnheiten nachts aktiv sind und tagsüber regenerieren und schlafen müssen. Bei beiden Prozessen arbeiten sie gezwungenermaßen gegen ihre innere Uhr. In den meisten Fällen wird am Tage die Schlafdauer verkürzt sowie die Schlafqualität beeinträchtigt. Dies ist nicht nur durch Schlafunterbrechungen aufgrund von äußeren Störfaktoren wie Licht, Geräusche oder eine zu hohe Raumtemperatur zu erklären [1, 2], sondern auch durch eindeutige Signale der inneren Uhr, wach zu sein. Folgen können eine verminderte Vigilanz und Produktivität sowie eine erhöhte Schläfrigkeit während der Nachtschichten sein. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit von (Arbeits-)Unfällen durch Ermüdung und Leistungstiefs, auch psychosomatische Auswirkungen sind möglich. Treten ständige Schlafstörungen auf, kann ein sogenanntes Schichtarbeitersyndrom vorliegen. Dieses ist durch exzessive Schläfrigkeit (Hypersomnie) in den gewünschten Wach- bzw. Arbeitsperioden und/oder Schlaflosigkeit (Insomnie) in den gewünschten Ruhe- bzw. Schlafperioden charakterisiert [1]. Dabei bestehen die Beschwerden über mehr als einen Monat. Schichtarbeit wird im offiziellen psychiatrischen Klassifikationssystem DSM-5 als Teilaspekt der „zirkadianen Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus“ aufgeführt. Bei dem für deutsche Mediziner maßgeblichen ICD-10-Diagnosesystem ist das Schichtarbeitersyndrom nicht explizit benannt, aber die allgemeiner gehaltenen „Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus“.

Langzeitfolgen

Insbesondere bei Wechselschichten wirkt sich die Desynchronisation negativ auf vielfältige gesundheitliche Aspekte aus und kann Langzeitfolgen haben (siehe Kasten „Komorbiditäten und Störungen bei Schichtarbeit“). So ist bei Schichtarbeitenden die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität erhöht, metabolische Störungen treten gehäuft auf sowie Depressionen [3]. Die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstellte Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) stuft (Nacht-)Schichtarbeit sogar als wahrscheinlich karzinogen für Menschen ein [4]. Neben allen potenziellen gesundheitlichen Folgen leiden auch familiäre, soziale und gesellschaftliche Kontakte, wodurch sich weitere Konflikte ergeben. Gemäß einer arbeitsmedizinischen Leitlinie zur Nacht- und Schichtarbeit messen die meisten Schichtarbeiter den Störungen in der sozialen Teilhabe eine ebenso große Bedeutung bei wie potenziellen gesundheitlichen Folgen [5].

Komorbiditäten und Störungen bei Schichtarbeit

  • Schichtarbeitersyndrom mit Insomnie und/oder Hyper­somnie (gesteigertes Schlafbedürfnis)
  • Unfälle am Arbeitsplatz, im privaten Bereich und bei der Heimfahrt von der Arbeit
  • gastrointestinale Erkrankungen mit Magenschmerzen und Verdauungsstörungen (meist Obstipation) sowie Magen- und Darmulcera
  • koronare Herzerkrankung und Folgestörungen wie Myokardinfarkt
  • chronisches Müdigkeitssyndrom, Energielosigkeit
  • Depressionen
  • Alkohol- und Schlafmittelmissbrauch
  • Kopf- und Rückenschmerzen
  • metabolische Störungen wie Hypertriglyceridämie und Diabetes mellitus
  • Früh- und Fehlgeburten
  • Risiko für Tumorerkrankungen (insbesondere Brust, Prostata, Darm)

(nach [1])

Schlafstörungen eruieren

Bevor Personen, die im Schichtsystem arbeiten und dadurch gesundheitlich belastet sind, medikamentöse Maßnahmen ergreifen, sollte eine eingehende ärztliche Untersuchung erfolgen [1]. Es muss ausgeschlossen werden, dass Schlafstörungen nicht durch andere Ursachen bedingt sind. Hierfür sollte die Arbeitsplatz- und Schlafsituation genau unter die Lupe genommen werden. Zunächst empfiehlt sich eine individuelle Beratung durch Schlafmediziner, z. B. hinsichtlich der Schlafhygiene, einer Lichttherapie am Arbeitsplatz, Ernährung und Bewegung. So lassen sich bereits Verbesserungen erwirken. Sofern möglich, sollte ein Wechsel in den regulären Tagdienst oder zumindest eine Optimierung der Schichtpläne angestrebt werden [1]. Sind diese und weitere nichtmedikamentöse Ansätze wirkungslos oder wurden moderate bis schwere Insomnien durch Schichtarbeit ausgelöst bzw. werden dadurch unterhalten, kann nach sorgfältiger Abwägung eine medikamentöse Behandlung erforderlich sein. Bis zum zufriedenstellenden Therapieerfolg oder einer Remission kann eine Schichtunfähigkeit bestehen [6]. Auch eine generelle Nachtdienstuntauglichkeit ist möglich, denn es ist als bedenklich anzusehen, nur durch Arznei­mitteleinsatz seiner Arbeit nachgehen zu können.

Pharmakologische Intervention bei Schichtarbeit

Durch Hypnotika, die bei Ein- oder Durchschlafstörungen zugelassen sind, können sich bei schlafgestörten Schichtarbeitern Besserungen ergeben, diese dürfen jedoch nur punktuell eingesetzt werden (zum Beispiel zum Schichtwechsel) [1]. Das jeweilige Nutzen-Risiko-Profil muss abgewogen werden, besonders hinsichtlich der Gefahr einer Abhängigkeit. Aus der Gruppe der Benzodiazepine dürfen insbesondere keine langwirksamen Vertreter zum Einsatz kommen, die aufgrund ihrer Halbwertszeit sedierende Überhangeffekte nach dem Aufwachen (Hangover“) provozieren können (siehe Stahl V. „Hangover vermeiden. DAZ 2018, Nr. 37, S. 56). Auch unter Z-Substanzen ist diesbezüglich Vorsicht geboten, zudem entfaltete Zopiclon gemäß eines Cochrane Reviews keine positiven Effekte auf den Tagesschlaf von Schichtarbeitern [7]. Ein interessanter neuer Ansatz wurde kürzlich in den USA mit dem dort bei Insomnien zugelassenen Suvorexant erprobt. Dieses blockiert Hypocretin-Rezeptoren (auch Orexin-Rezeptoren genannt), welche an der Aufwachreaktion beteiligt sind und den Tagschlaf bei Schichtarbeitern stören könnten. In der kleinen Studie verbesserte sich die subjektiv eingeschätzte Schlafqualität der Schichtarbeiter und die objektiv messbare Schlafdauer unter Suvorexant im Vergleich zu Placebo signifikant [8]. Ist das Schichtarbeitersyndrom hingegen (oder zusätzlich) durch eine starke Müdigkeit und Schläfrigkeit in den gewünschten Wachperioden geprägt, können in begrenztem Umfang Stimulanzien eingesetzt werden. Ihr Einsatz sollte aber keineswegs die durch Schlaf und gute Schlafhygiene anzustrebende Erholung ersetzen. Coffein oder Coffein-haltige Getränke sind in vielen Fällen hilfreich, sollten aber nur zu Beginn und nicht in der zweiten Hälfte der Arbeitsschicht eingesetzt werden, um die anschließende Schlafphase nicht zu stören [1]. Das die Aufmerksamkeit und Wachheit fördernde zentral wirkende Sympathomimetikum Modafinil (Vigil®) ist in Europa nur noch bei Narkolepsie zugelassen. Aufgrund von schweren Haut- und Überempfindlichkeitsreaktionen, neuropsychiatrischen und kardiovaskulären unerwünschten Ereignissen besteht für die ursprünglich zugelassene Behandlung des Schichtarbeitersyndroms mittlerweile ein negatives Nutzen-Risiko-Profil.

Melatonin bei Schichtarbeit

Unter der Annahme, dass sich die zirkadianen Rhythmen bei Schichtarbeit aus dem Takt befinden beziehungsweise verschoben sind, könnte extern zugeführtes Melatonin die innere Uhr unterstützen und eine Zeitgeberwirkung entfalten. Einem Cochrane Review zufolge ist Melatonin gegenüber Placebo mit einer verlängerten Tagschlafdauer nach einer Nachtschicht assoziiert (durchschnittlich 24 Minuten länger [95%-Konfidenzintervall 9,8 bis 38,9]), aber nicht mit einer verkürzten Einschlafdauer, der sogenannten Schlaflatenzzeit [7]. Für diese beiden Erkenntnisse besteht jedoch nur eine niedrige Qualität der Evidenz: Die in den Metaanalysen eingeschlossenen sieben bzw. fünf Studien wurden in den Jahren 1993 bis 2007 über einen kurzen Beobachtungszeitraum durchgeführt, basierten hauptsächlich auf Eintragungen in Schlaftagebüchern, waren jeweils klein und umfassten insgesamt nur 263 und 74 Teilnehmer. Melatonin wurde in einer Dosierung von 1 bis 10 mg (nicht-retardiert) eingesetzt, Hinweise auf eine Dosisabhängigkeit der Wirkung ergaben sich nicht. Erwähnenswert ist, dass die Melatonin-Einnahme am Morgen nach der Nachtschicht erfolgte, meist 30 Minuten bis eine Stunde vor dem geplanten Tagschlaf. Experten sprechen sich hingegen seit einiger Zeit dafür aus, Melatonin immer (und somit unabhängig vom Schichtmodell) am Abend einzunehmen, oder die Einnahme vor dem Tagschlaf auszulassen [9]. Damit ließe sich die natürliche Ausschüttung imitieren und zirkadiane Prozesse unterstützen, es solle nicht im Sinne eines Hypnotikums vor dem Tagschlaf angewendet werden [9]. Größere placebokontrollierte Untersuchungen zu Melatonin und Schichtarbeit, die ein objektives elektrophysiologisches Monitoring der Schlafdauer und -qualität verwenden, sind Mangelware. Auch fehlt es an Studien zur regelmäßigen oder dauerhaften Einnahme, entsprechende Daten zum Sicherheitsprofil liegen folglich nicht vor.

Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln

Melatonin-haltige Produkte, die als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) vertrieben werden (und damit nicht der Arzneimittel-Verschreibungsverordnung unterliegen, in der Melatonin als Arzneimittel für rezeptpflichtig deklariert wird), stehen zahlreich zur Verfügung: klassische Tabletten und Kapseln, Nasen- und Mundsprays, Tees und auch „Drinks“ sind in Drogerien, dem Internet oder auch apothekenexklusiv erhältlich. Zudem scheinen Kombinations­präparate mit den pflanzlichen Sedativa Baldrian, Hopfen, Melisse, Passionsblume oder gar Cannabidiol beliebt zu sein. Die meisten dieser Nahrungsergänzungsmittel enthalten 0,5 mg oder 1 mg Melatonin pro Einheit, was bereits zu supra­physiologischen Melatonin-Spiegeln führen kann, es sind aber auch noch höher dosierte Präparate verfügbar. Die Wirkstofffreisetzung aus den unretardierten Darreichungsformen ahmt jedoch nicht die natürliche Melatonin-Sekretion nach, weshalb man mit dem Manko der sehr kurzen Melatonin-Halbwertszeit leben muss. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food ­Safety Authority, EFSA) erlaubt für Melatonin-haltige Nahrungsergänzungsmittel zwei gesundheitsbezogene Angaben (Health Claims):

  • „Melatonin (0,5 mg bis 5 mg) trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung bei“ [10] und
  • „Melatonin (1 mg) trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen“ [11].

Immer wieder werden Gerichte bemüht, um über die Einstufung von Melatonin als Arzneimittel oder als Nahrungsergänzungsmittel und die entsprechende Verkehrsfähigkeit zu entscheiden.

Kritisch sein

Apothekenkunden, die Melationin-haltige Nahrungsergänzzungsmittel bei Schlafstörungen erwerben möchten, sollten behutsam zu ihrer „Eigendiagnose“ befragt werden. Oft ­lassen sich durch konsequente Befolgung einer guten Schlafhygiene und dem Aufklären über Missverständnisse, die einen Nachtschlaf behindern (Nickerchen am Tage, Coffein-Konsum zu später Stunde) bereits einige Probleme lösen. Vielleicht sind die Schlafstörungen aber auch durch Grunderkrankungen oder eine Arzneimitteleinnahme bedingt und müssen daher ärztlich abgeklärt werden. Interessierte sollten darauf hingewiesen werden, dass aussagekräftige Studien zu Nutzen und Risiken von Melatonin fehlen und dass die leichtfertige Einnahme des Hormons oder gar ein Melatonin-Dauergebrauch zu vermeiden ist, besonders aus unseriösen und unregulierten Quellen. Gegebenenfalls besteht bei Patienten ab 55 Jahren eine Behandlungsoption in retardiertem Melatonin, das als Arzneimittel zugelassen ist (s. Stahl V. „Schäfchen zählen leicht gemacht - Melatonin soll den Schlaf fördern“ auf Seite 42 in dieser Ausgabe der DAZ). Allgemein sollte man bedenken, dass sich der Schlaf eines Gesunden, bei dem keine Schlafstörungen vorliegen, nicht durch Melatonin-­Einnahme optimieren lässt [9].

Melatonin bei Jetlag

Es ist eine brisante Auslegungssache, ob kurzfristige (Schlaf-)Störungen, die in Zusammenhang mit Fernreisen stehen, Krankheitswert haben. Lässt sich hier pharmakologisch nachhelfen, was nicht auch auf natürlichem Wege oder durch strategisches Vorgehen hinsichtlich Schlafzeiten, Lichtexposition und Ernährung – auch bereits im Vorfeld einer Reise – wieder in die Reihe kommt? Kann Melatonin zur schnelleren Resynchronisation der zirkadianen Rhythmen mit der Außenwelt beitragen? Ein Cochrane Review, dass diese Frage mit „Ja“ beantwortet, datiert leider aus dem Jahr 2002, die eingeschlossenen Studien sind dementsprechend noch älter [12]. Welche potenziellen Risiken sind mit der Einnahme verbunden? Die unerwünschten Wirkungen von Melatonin sind noch nicht hinreichend untersucht worden. Neben Effekten auf Placeboniveau wurden auch Fallberichte zu Auswirkungen auf das Zentralnervensystem (unter anderem erhöhte Krampfneigung), die Blutgerinnung (Interaktion mit Warfarin), das kardiovaskuläre System und die Haut berichtet [13]. Auch über die optimale Dosierung und den besten Einnahmezeitpunkt herrscht kein Konsens. Meist wird empfohlen, Melatonin gegen 22 Uhr am Zielort einzunehmen, kurz vor dem Schlafengehen [12]. Entscheidend ist auch die Flugrichtung: Bei westwärts gerichteten Reisen mag man von der Melatonineinnahme weniger profitieren als bei ostwärts gerichteten Reisen. Zu beachten ist auch, dass unretardierte Präparate aufgrund der kurzen Halbwertszeit allenfalls beim Einschlafen helfen können, nicht aber beim Durchschlafen. Ins­gesamt besteht trotz der großen Interessenlage eine unbefriedigende Studiensituation, weshalb Fragen zur Evidenz, der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht zuverlässig beantwortet werden können. |
 

Literatur

[1] Hajak G, Zulley J. Schichtarbeitersyndrom – Arbeiten am physiologischen Tiefpunkt. Neurotransmitter 2008;(6):44-49

[2] Liira J et al. Pharmacological Interventions for Sleepiness and Sleep Disturbances Caused by Shift Work. JAMA 2015;313(9):961-962

[3] Straif K et al. Carcinogenicity of shift-work, painting, and fire-fighting. Lancet Oncology 2007;8(12):1065-1066

[4] WHO / IARC. Carcinogenicity of night shift work. Lancet Oncol. 2019;20(8):1058-1059. doi: 10.1016/S1470-2045(19)30455-3

[5] Arbeitsmedizinische Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. Nacht- und Schichtarbeit

[6] Riemann D et al. S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Kapitel „Insomnie bei Erwachsenen“. AWMF-Registernummer 063-003, Update 2016, Somnologie 2017;21:2–44

[7] Liira J et al. Pharmacological interventions for sleepiness and sleep disturbances caused by shift work. Cochrane Database Syst Rev 2014;8:CD009776. doi: 10.1002/14651858.CD009776.pub2

[8] Zeitzer JM et al. Effect of Suvorexant vs Placebo on Total Daytime Sleep Hours in Shift Workers: A Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open 2020;3(6):e206614, doi:10.1001/jamanetworkopen.2020.6614

[9] Kunz D. Melatonin taktet die innere Uhr neu. Neurologie & Psychiatrie 2012;14(1):38–43

[10] Scientific Opinion on the substantiation of health claims related to melatonin and alleviation of subjective feelings of jet lag (ID 1953), and reduction of sleep onset latency, and improvement of sleep quality (ID 1953) pursuant to Article 13(1) of Regulation (EC) No 1924/2006. Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA), doi:10.2903/j.efsa.2010.1467

[11] Scientific Opinion on the substantiation of a health claim related to melatonin and reduction of sleep onset latency (ID 1698, 1780, 4080) pursuant to Article 13(1) of Regulation (EC) No 1924/2006. Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA), doi: 10.2903/j.efsa.2011.2241

[12] Herxheimer A, Petrie KJ. Melatonin for the prevention and treatment of jet lag. Cochrane Database Syst Rev 2002;(2):CD001520, doi: 10.1002/14651858.CD001520

[13] Herxheimer A. Jet lag. BMJ Clin Evid 2014:2303,. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4006102/pdf/2014-2303.pdf

Autorin

Dr. Verena Stahl ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landesweiten Drug Information and Pharmacy Resource Center ausgebildet. Ihre berufsbegleitende Dissertation fertigte sie zu einem Thema der Arzneimitteltherapiesicherheit an.

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