Arzneimittel und Therapie

Mehr Verbrechen unter SSRI-Therapie?

Datenlage nicht eindeutig geklärt

Depressionen tragen weltweit maßgeblich zur Krankheitslast bei. Dabei sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer die am häufigsten verordneten Antidepressiva. Inwieweit sie mit Gewaltverbrechen in Verbindung stehen, wurde nun in einer schwedischen Registerstudie untersucht.

Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) gehören zu den am häufigsten verordneten Wirkstoffen. In der Vergangenheit konnte man in einigen Studien feststellen, dass vor allem bei jungen Menschen eine Einnahme dieser Antidepressiva-Gruppe mit ­einem steigenden Aggressions- und Gewaltpotenzial verbunden war. Für ältere Menschen fehlten solche Untersuchungen bisher. Erwachsene mittleren Alters und ältere Personen stellen jedoch die größte Anwendungsgruppe der SSRI dar. Die bislang größte Kohortenstudie, die den Zusammenhang zwischen SSRI und Gewaltverbrechen untersucht hat, sollte diese Wissens­lücke schließen. Außerdem sollte zusätzlich analysiert werden, inwiefern das Ein- und Ausschleichen der SSRI einen Einfluss auf die Gewaltbereitschaft hat. Die benötigten Daten wurden aus unterschiedlichen schwedischen Registern zusammengeführt und bezogen sich auf Personen im ­Alter von 15 bis 60 Jahren. Diese hatten im Zeitraum 2006 bis 2013 mindestens zwei Verordnungen eines SSRI innerhalb von vier Monaten erhalten. Als Outcome wurde eine Verurteilung wegen eines Gewaltverbrechens gewertet. Analysiert wurde das Risiko, ein Gewaltverbrechen während des Therapiezeitraums zu begehen im Vergleich zu Personen, die kein SSRI bekamen. Außerdem wurde untersucht, inwiefern Alter und Geschlecht, Komedikation sowie weitere psychische Erkrankungen einen Einfluss ­haben könnten.

Foto: Iurii Gagarin – stock.adobe.com

Gewaltbereitschaft nimmt zu

In die Studie wurden 785.337 Personen (64,2% Frauen) einbezogen, von denen 20.821 (2,7%) mindestens ein Gewaltverbrechen begingen. In einer Zwischenauswertung konnte eine signifikant höhere Hazard Ratio (HR) (HR = 1,10; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,06 bis 1,13) für Gewaltverbrechen unter der Einnahme von SSRI in der Gesamtkohorte gesehen werden. Verglich man die verschiedenen Altersgruppen miteinander, wurden vor allem die jungen Erwachsenen mit höherer Wahrscheinlichkeit kriminell (15- bis 24-Jährige: HR = 1,19; 25- bis 34-Jährige: HR = 1,16), bei den älteren Personen waren die ermittelten Wahrscheinlichkeiten nicht signifikant.

20.735 Personen (2,6% der Kohorte) wurden anschließend in einer zweiten Analyse auf weitere Faktoren untersucht. Alle hatten im Beobachtungszeitraum ein Gewaltverbrechen begangen und das SSRI entweder an- oder abgesetzt bekommen. Diese Personen waren im Schnitt jünger (46% zwischen 15 und 24 Jahre vs. 26% in der Gesamtkohorte) und hatten einen höheren Anteil an Männern (77% vs. 36%). Die Wahrscheinlichkeit, eine Gewalttat zu begehen, war von Beginn der Therapie und bis zu 12 Wochen nach Absetzen des SSRI signifikant über alle Altersklassen erhöht. Geschlechtsspezifisch begingen Frauen weniger Gewaltverbrechen als Männer. Die HR in Bezug auf weitere psychische Erkrankungen zeigte keine wesentlichen Unterschiede auf das Risiko für Gewaltverbrechen. Außer für die Therapie mit Benzodiazepinen (HR = 1,32; 95%-KI 1,20 – 1,45) war die Behandlung mit anderen Psychopharmaka nicht signifikant mit Gewaltverbrechen assoziiert.

Mehr Männer als Frauen

Die Studienergebnisse zeigen, dass möglicherweise für eine kleine Patientengruppe ein erhöhtes Risiko für Gewaltverbrechen unter SSRI-Therapie besteht. Dieses Risiko könnte über die gesamte Therapiedauer und nach Therapieende sowie über viele Altersgruppen hinweg bestehen bleiben. Junge Männer scheinen am meisten zu den beobachteten Assoziationen beizu­tragen. Allerdings führen auch die Grunderkrankungen, bei denen SSRI eingesetzt werden, schon zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, kriminell zu werden. Es ist nicht gesichert, ob in der Studie die Grunderkrankung oder die Behandlung der solchen maßgeblich für das Ergebnis waren. Folglich bleibt die Frage zur Kausalität unbeantwortet, und weitere Evidenz sollte aus Studien mit anderen Designs erbracht werden. So lange sollte der klinische Schwerpunkt auf dem kleinen Anteil der Personen mit hohem Risiko für Gewaltverbrechen liegen. |

Literatur

[1] Depression. Informationen der Weltgesundheitsorganisation. www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/depression, Abruf am 15. Juni 2020).

[2] Lagerberg T., Fazel S., Molero Y. et al. Associations between selective serotonin reuptake inhibitors and violent crime in adolescents, young, and older adults – a Swedish register-based study. European Neuropsychopharmacology. epub. https: //doi.org/10.1016/j.euroneuro.2020.03.024

Apothekerin Jutta Hupfer

Das könnte Sie auch interessieren

Vor allem jüngere Patienten scheinen anfällig für besondere Nebenwirkungen

Pregabalin unter Verdacht

Vollständige Impfung kann davor schützen

COVID-19 erhöht Thromboembolie-Risiko

Vollständige Impfung kann davor schützen

COVID-19 erhöht Thromboembolie-Risiko

Langfristige Therapie und höhere Dosen sind mit erhöhtem Risiko für Diabetes verbunden

Bei Antidepressiva auf Blutzucker achten

PPI und Co. mit erhöhtem Allergierisiko assoziiert

Erst Säureblocker, dann Antihistaminikum

Wechselwirkung mit CYP2D6-Inhibitoren hat klinische Folgen

Erhöhte Gefahr für Oxycodon-Überdosierungen

Zusätzliche Impfdosis reduziert Todesfälle bei Rheumatikern

Vier gewinnt

Mehr Infektionen unter inhalativen Corticosteroiden bei COPD-Patienten

Pseudomonas-Risiko steigt mit der Dosis

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.