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Kongresse
„Wir wissen, dass wir nichts wissen“
Pharmacon@home informiert zum aktuellen Stand bei den SARS-CoV-2-Infektionen
Erkenntnisse und Rätsel um COVID-19-Intensivpatienten
Dr. Holger Neb, Facharzt für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Frankfurt, referierte über den Krankheitsverlauf und Komplikationen bei einer Infektion mit COVID-19. Neb erläuterte lebhaft die Ausnahmesituation „Corona-Pandemie“ aus Sicht eines Intensivmediziners, der tagtäglich am Krankenbett schwerkranker COVID-19-Patienten arbeitet. Der Facharzt betonte die Grenzen der Erkenntnisgewinnung und des evidenzbasierten Vorgehens bei dieser neuen und nur lückenhaft verstandenen Erkrankung. Mehr als 20.000 Publikationen zu COVID-19 sind bislang auf der medizinischen Datenbank PubMed veröffentlicht worden. Niemand kann dieses wissenschaftliche Überangebot vollständig studieren: „Wir wissen, dass wir nichts wissen“, fasst Neb zusammen. Jeder Experte sei auf eine Mischung aus einer Handvoll Fakten und einigen subjektiven Erfahrungen angewiesen, um die Situation einschätzen zu können.
Der Anästhesiologe berichtete, wie ein üblicher COVID-19Intensivpatient aussieht. Neben Patienten mit Diabetes, Bluthochdruck oder unter einer immunsuppressiven Therapie scheinen ein hohes Alter und Adipositas elementare Risikofaktoren zu sein. Typische COVID-19-Intensivpatienten seien oft stark übergewichtig, wenn sie in jungen Jahren einen schweren Verlauf erleiden. Hochbetagte, multimorbide Patienten erkranken auch ohne Übergewicht mitunter schwer. Patienten mit einem schweren COVID-19-Verlauf klagen in einem frühen Stadium oft noch nicht über Atemprobleme, obwohl blaue Lippen deutlich sichtbar sind und eine geringe Sauerstoffsättigung im Blut messbar ist. Weiterhin sei auffällig, dass Patienten trotz des Fiebers über kalte Hände und Füße klagen. Auch sei ein im Vergleich zu anderen Patienten erhöhter Verbrauch an Narkotika aufgefallen. Zum Zeitpunkt der höchsten Fallzahlen führte das zusammen mit den dramatischen Versorgungsengpässen bei diesen Arzneimitteln dazu, dass viele Kliniken ihre Narkoseverfahren umstellen mussten.
Sollten Patienten an COVID-19 versterben, ist dies meist die Folge einer Lungenfibrose oder durch pulmonales Versagen. Parallel dazu scheinen Komplikationen des Gefäßsystems von großer Bedeutung zu sein. Ein erheblicher Teil schwerkranker COVID-19-Patienten versterben an kardiovaskulären Ereignissen. Möglicherweise bewirken die mit dem Virus infizierten Zellen eine Gefäßverengung, was die Mikrozirkulation beeinträchtigt. Die neuen Erkenntnisse liefern nicht nur eine mögliche Erklärung für das Rätsel der kalten Hände und Füße. Sie deuten auch darauf hin, dass die Beatmungstechnik für das Überleben der Patienten entscheidend sein könnte. Möglich ist, dass das Lungenversagen in erster Linie ein Gefäßversagen sei, so Neb. Der Facharzt verdeutlichte, dass COVID-19 noch zahlreiche Fragen an die Wissenschaft stellt.
„Eine schnelle Erholung bei schwer infizierten Patienten gibt es leider kaum.“
Leider konnte die Tonspur der letzten 30 Minuten des Vortrages nur lückenhaft übertragen werden. Der Umgang mit SARS-CoV-2 stellt uns global vor neue medizinische, ethische und technische Herausforderungen. Zumindest für die technischen Probleme des Vortrags vom 9. Juni konnte eine gute Lösung gefunden werden: Das Pharmacon-Team zeichnete den lohnenswerten Vortrag von Dr. Holger Neb neu auf und stellte diesen zusammen mit den anderen pharmacon@home-Videos online zur Verfügung.
Maßgeschneiderte Arzneistoffe …
… gibt es noch nicht. Dennoch waren das die Schlüsselwörter des Vortrages von Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz zum Thema „Wirkstoffe zur Therapie von COVID-19: Präklinische und klinische Kandidaten“. Der Professor für Pharmazeutische Chemie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt referierte über die Wirksamkeit von bereits existierenden Präparaten und eröffnete Perspektiven für die Entwicklung neuer Wirkstoffe zur Behandlung von COVID-19. Um antivirale Therapien entwickeln zu können, muss der virale Lebens- und Replikationszyklus vollständig verstanden sein. Das zeigen auch die Erfolgsgeschichten der Therapien gegen das humane Immundefizienz-Virus (HIV) und Hepatitis-C-Virus (HCV). Heutzutage ist der Replikationszyklus des HI-Virus vollständig verstanden, erklärte Schubert-Zsilavecz. So war es möglich, Wirkstoffe zu entwickeln, die auf verschiedene Targets dieses Zyklus zielen. Da zu dem heutigen Zeitpunkt auch die Struktur und der Zyklus des SARS-CoV-2 ausführlich erforscht ist, können gezielte Ansätze für eine Therapie erarbeitet werden.
Mit den Spike-Proteinen an seiner Oberfläche kann das Virus in die Wirtszelle eintreten. Dabei bindet es an das membranständige Angiotensin-Converting-Enzym 2 (ACE2). Hierfür werden die Spike-Proteine durch eine Transmembran-Serin-Protease vom Subtyp 2 (TMPRSS2) gespalten, sodass im nächsten Schritt eine Verschmelzung mit der Wirtszelle stattfinden kann. Im Stadium der Präklinik befinden sich momentan das rekombinante ACE2 sowie Inhibitoren der TMPRSS2. Rekombinantes ACE2 soll das Virus „überschwemmen“, binden und so seine Pathogenität verringern. Ähnlich ist der Wirkmechanismus von rekombinanten 47D11-mAb-Antikörpern, die SARS-CoV-2 gezielt im Patienten abfangen sollen. Nicht wie bei einer Impfung von körpereigenen Antikörpern, sondern vielmehr als passive Immunisierung.
Die intrazelluläre Virusreplikation stellte Schubert-Zsilavecz als den „Hauptkriegsschauplatz“ im Kampf gegen das Virus vor. Denn an der Transkription und Translation des viralen Genoms kann man besonders effektiv in den Zyklus eingreifen. Eine entscheidende Rolle in antiviralen Therapien spielen Polymerase- und Protease-Inhibitoren, die bereits bei HIV- und HCV-Infektionen zu großem Erfolg geführt haben.
Da die Enzyme verschiedener Viren sich erheblich unterscheiden, sei der Einsatz von Wirkstoffen, die für andere virale Infektionen eingesetzt werden, in der Therapie von COVID-19-Patienten zum Scheitern verurteilt gewesen, sagte Schubert-Zsilavecz. Sowohl die Protease-Inhibitoren Lopinavir und Ritonavir, als auch die Polymerase-Inhibitoren Remdesivir und Favipiravir erwiesen sich als wenig hilfreich in der Therapie von COVID-19-Patienten in klinischen retrospektiven Studien. Während in den Studien zu den Protease-Inhibitoren und Remesdevir keine Vorteile gegenüber der Standardtherapie nachgewiesen werden konnten, sind die Ergebnisse der Favirpavir-Studie mit nur 240 Patienten als nur wenig evident einzuschätzen, so Schubert-Zsilavecz. Er sieht aber in solchen Arzneistoffen ein Vorbild und großes Potenzial für die Entwicklung von geeigneten Wirkstoffen, die spezifisch mit Targets im Zyklus des SARS-CoV-2 interagieren.
Chloroquin-Derivate: keine großen Hoffnungsträger
Chloroquin und Hydroxychloroquin sind seit Langem für ihre antivirale Wirkung bekannt. Die zahlreichen, vorliegenden klinischen Studien bringen allerdings wenig Licht ins Dunkel der COVID-19-Therapie. Denn die Ergebnisse sind äußerst widersprüchlich. Außerdem sind die nicht unerheblichen Nebenwirkungen, wie eine verlängerte QT-Zeit, nicht außer Acht zu lassen. Größere Studien, mit verlässlichen Daten, gibt es noch nicht, und kleinere Studien mit bereits publizierten Ergebnissen zeigen keinen großen Erfolg, dafür oft eine erhöhte Mortalitätsrate unter den behandelten Patienten. Inzwischen wurde die Notzulassung der FDA zurückgezogen, und auch Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz würde die Chinolonderivate nicht als „Gamechanger“ bezeichnen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Kombinationstherapie. Nur wenn gleichzeitig an vielen verschiedenen Targets angegriffen wird, kann die Virusreplikation eingedämmt werden. Mit der Entwicklung von maßgeschneiderten RNA-Polymerase-Inhibitoren und Protease-Inhibitoren und einer Kombinationstherapie mit mehreren Wirkstoffen könnte also die Bekämpfung des SARS-CoV-2 auch zu einer Erfolgsgeschichte werden.
Mit welchem Impfstoff gegen Corona?
Um die Corona-Pandemie weiter einzudämmen, gibt es aus pharmakologischer Perspektive zwei Möglichkeiten: eine wirksame Therapie oder eine vorbeugende Impfung gegen das Virus. Prof. Dr. Theo Dingermann, emeritierter Professor der Pharmazeutischen Biologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, und Dr. Ilse Zündorf, akademische Oberrätin am Institut für Pharmazeutische Biologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, stellten unterschiedliche Impfstrategien gegen SARS-CoV-2 vor. Befanden sich zum Zeitpunkt des Vortrags laut WHO 133 Kandidaten in der Impfstoffentwicklung (Stand 2. Juni 2020), so sind es am 18. Juni schon 141. Dazu zählen Vakzine mit lebend-attenuierten Viren oder inaktivierten Viren, isolierte Virusproteine (Spaltimpfstoffe), Virus-like-Particles, virale Vektorimpfstoffe und genbasierte Impfstoffe auf mRNA- oder DNA-Basis.
„Ein Impfstoff wird vielleicht Anfang kommenden Jahres großflächig verfügbar sein.“
Durch eine Impfung muss das adaptive Immunsystem aktiviert werden, nur so kann ein immunologisches Gedächtnis und ein Impfschutz aufgebaut werden. Die adaptive Immunantwort auf eine Virusinfektion verläuft in zwei parallelen Kaskaden, der humoralen und der zellulären Immunantwort. Zur humoralen Immunantwort gehören die Antikörper-produzierenden B-Zellen, die durch T-Helfer-Zellen unterstützt werden. Die zelluläre Immunantwort erfolgt über zytotoxische T-Zellen. Impfstoffe mit lebend-attenuierten Viren, virale Vektorimpfstoffe und mRNA- oder DNA-basierte Impfstoffe induzieren beide Immunantworten, der erhaltene Impfschutz ist nachhaltiger. Bei Vakzinen mit inaktivierten Viren, isolierten Virusproteinen (Spaltimpfstoffe) und Virus-like-Particles dominiert die humorale Immunantwort. Diese drei Impfstrategien werden bereits bei anderen Viruserkrankungen erfolgreich angewendet, die allgemeine Wirksamkeit und Sicherheit ist belegt. Vakzine mit inaktivierten Viren und isolierte Virusproteine haben den Vorteil, dass sie schnell herzustellen sind. Auch bei Vakzinen mit lebend-attenuierten Viren ist die Wirksamkeit belegt. Es bleibt jedoch ein gewisses Restrisiko für eine Reversion der mutierten Viren, der Herstellungsprozess ist langwierig, und Immunsupprimierte sowie Kinder unter einem Jahr dürfen mit diesen Impfstoffen nicht geimpft werden, so Zündorf. Für die neuen Impfstrategien mit viralen Vektorimpfstoffen und genbasierten Impfstoffen müssten Wirksamkeit und Sicherheit zunächst durch klinische Studien bewiesen werden.
Virale Vektoren sind nichthumanpathogene Viren, in deren Gensequenz die Erbinformationen von Proteinen des SARS-CoV-2 rekombinant eingebaut wurden. Es wird unterschieden zwischen replizierenden und nicht replizierenden Vektoren. Bei sich replizierenden Vektoren gelten die gleichen Kontraindikationen wie für Lebendimpfstoffe. Dieser Ansatz sei schon bei SARS-CoV-1 und MERS verfolgt worden, aufgrund des Verschwindens der Viren sei er aber nicht beendet worden, so Dingermann. Ein sich nicht replizierender viraler Vektor der Universität Oxford ist derzeit am weitesten entwickelt, er wird bereits in einer Phase-IIb/III-Studie getestet. Laut Dingermann wird dieser Impfstoff schon im großen Maßstab produziert, obwohl die Studien noch nicht abgeschlossen sind. In Phase-I-Studien werden RNA- sowie DNA-Impfstoffe getestet. Für den Einsatz des DNA-Impfstoffes wurden spezielle Applikationssysteme entwickelt. Während die Vakzine appliziert wird, baut sich durch gleichzeitig injizierte Elektroden ein elektrisches Feld um die Einstichstelle auf, wie Zündorf erklärte. Dadurch wird die Permeabilität der Zellmembran erhöht und die DNA kann besser in die Zelle aufgenommen werden. Welche Impfstrategie und welcher spezieller Impfkandidat am Ende erfolgreich gegen SARS-CoV-2 eingesetzt werden könnte, ist zum jetzigen Zeitpunkt ungewiss. Die Frage, wann es einen zugelassenen Impfstoff geben wird, beantwortete Dingermann vorsichtig. Es gäbe Spekulationen von September dieses Jahres bis nicht vor Ende 2021. Dingermann geht von einer frühen Zulassung eines Impfstoffes aus, der dann aber zunächst nur bestimmten priorisierten Personengruppen wie medizinischem Personal verabreicht würde.
Über den Versuch, SARS-CoV-2 einzudämmen
Die Referentin Prof. Dr. Eva Grill ist selbst Apothekerin und aktuell am Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) der LMU München tätig. Sie erklärte, dass alle in der Epidemiologie verwendeten Modelle stets fehlerbehaftet sein können, da die Größe der einbezogenen Berechnungsparameter in der Regel unbekannt ist. Grill geht aber davon aus, dass durch kontaktreduzierende Maßnahmen in Deutschland rechnerisch zwischen 370.000 und 770.000 Todesfälle seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie verhindert werden konnten.
„Testen, testen, testen!“
Welche Maßnahme schlussendlich effektiv war, könne man nicht sagen, vermutlich war es die Kombination aus vielen. Die oft diskutierte Herdenimmunität stellt laut Grill keine Option bei der Bekämpfung der Pandemie dar. Die Epidemiologen gehen davon aus, dass SARS-CoV-2 ohne jegliche Maßnahmen eine Reproduktionszahl von etwa 3 mit sich bringt, das heißt, dass ein Infizierter drei weitere Menschen anstecken kann. Werden keine Maßnahmen ergriffen und eine Herdenimmunität angestrebt, wird rechnerisch davon ausgegangen, dass etwa eine Million Menschen an COVID-19 in Deutschland versterben würden. Das sei gesellschaftlich nicht akzeptabel. Außerdem erklärte sie eindrücklich, dass selbst eine Herdenimmunität nicht garantieren kann, dass keine weiteren Infektionspeaks folgen werden. Da es bisher keinerlei Angaben gibt, wie lange eine durchgemachte Infektion Immunität gegen das Virus garantiert, gehen die Epidemiologen davon aus, dass etwa alle ein bis zwei Jahre ein erneuter Infektionspeak auftreten könnte. Als wichtigste Maßnahme für die Zukunft nannte Grill regelmäßiges Testen. Allerdings merkte sie an, dass hier viele Fehlerquellen schlummern. So sind neben einem guten Test die Auswahl der richtigen Population entscheidend, aber auch eine gute Vernetzung der Institutionen und entsprechendes Reagieren auf das Testergebnis. Sensitivität und Spezifität des verwendeten Testmaterials sollten für ein aussagefähiges Ergebnis ausreichend hoch sein. Für akute Infektionen werden Tests auf Basis der Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR) angewendet. Eindrücklich stellte Grill in ihrem Vortrag dar, dass ein positiver PCR-Test fast sicher eine Infektion identifiziert. Ein negatives Ergebnis jedoch sollte unbedingt durch wiederholtes Testen bestätigt werden. Bei der Testinterpretation akuter Infektionen sollten aber auch immer die symptomatische Vorgeschichte des Patienten, gegebenenfalls mit einem Lungen-CT mit einbezogen werden. Dahingegen wird mithilfe von ELISA-Tests das Vorhandensein von IgM-, IgA- und IgG-Antikörpern nach durchlebter SARS-CoV-2-Infektion nachgewiesen. Grill wies hier darauf hin, dass ein positiver Test nur begrenzt aussagekräftig ist, lediglich ein negativer ELISA-Tests ist ein guter Hinweis, dass die Infektion tatsächlich noch nicht durchgemacht wurde. Mit steigender Prävalenz der Erkrankung erhöht sich aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein positiver Antikörper-Test tatsächlich eine durchlebte Infektion nachweist. Testen sei aber nur ein Aspekt bei der Eindämmung der Pandemie, das Ausfindigmachen weiterer Kontaktpersonen und anschließende Quarantäne sind unumgänglich. |
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