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Wirtschaft
Ein Konzept für Apotheken?
Wie sich die Gemeinwohl-Ökonomie auch in kleinen Unternehmen umsetzen lässt
In unruhigen Zeiten werden tradierte Begriffe wieder hoffähig, und kaum mehrheitsfähig wirkende Konzepte erscheinen plötzlich politisch passend. Seit den frühen 1990er-Jahren wird immer wieder der Begriff der Gemeinwohl-Ökonomie bemüht. Zunächst soll – bevor auf die eigentliche Idee des Konzeptes eingegangen wird – geklärt werden, was gemeinhin unter Gemeinwohl zu verstehen ist. Dabei machen sich von Definition zu Definition erkleckliche Unterschiede bemerkbar.
So ist zum einen unter Gemeinwohl zu lesen, dass dies „das Wohl[ergehen] eines jeden Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft“ darstellen soll. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) interpretiert Gemeinwohl als „politisch-soziologische Bezeichnung für das Gemein- oder Gesamtinteresse einer Gesellschaft, das oft als Gegensatz zum Individual- oder Gruppeninteresse gesetzt wird“. Daraus resultiert aber auch die Problematik des Begriffs: Wie wird das Gemein- oder Gesamtinteresse definiert? Welchen Schwankungen unterliegt der Begriff? Auch im deutschen Grundgesetz stehen Formulierungen wie „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“. Die Unterschiede verdeutlichen die Interpretationsspielräume, was die Auslegung einer gewissen Willkür unterziehen kann.
Vor nunmehr knapp zehn Jahren begründete der Österreicher Christian Felber eine ökonomische Bewegung, die sich Gemeinwohl-Ökonomie nennt. Ihre Wurzeln gehen auf erste Überlegungen der frühen 1990er-Jahre zurück, die von Joachim Sikora, Bernd Winkelmann, Hans Diefenbacher und Richard Douthwaite entwickelt wurden. Darunter werden verschiedene Konzepte und alternative Wirtschaftsmodelle verstanden, die eine Orientierung der Wirtschaft am Gemeinwohl, an der Kooperation und dem Gemeinwesen in den Vordergrund stellen. Auch die Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung („Partizipation“) werden als Werte der Gemeinwohl-Ökonomie bezeichnet. Der 2010 in Wien gegründete „Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie“ setzt sich für ein Wirtschaften ein, das auf Kooperation statt Konkurrenz setzt. Tatsächlich erlebt in diesen diskontinuierlichen Zeiten die Bewegung eine gewisse Renaissance. Sowohl die „Fridays-for-Future“-Bewegung als auch die Überlegungen vieler Menschen zu den Folgen des Coronavirus befeuern alternative Wirtschaftsmodelle.
Seit dem Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre werden die Grenzen des (Wirtschafts-)Wachstums diskutiert. So stellen sich viele Ökonomen die Frage, ob auf einem in jeder Hinsicht begrenzten Planeten ein permanentes Wachstum der Volkswirtschaften faktisch möglich ist, ohne dabei schwerwiegende Konsequenzen zu zeitigen. Diese Überlegungen lassen dieses Wachstum zukünftig als absolut fragwürdig erscheinen. Die damals vom Club of Rome aufgezeigten limitierten Spielräume, die bereits in der Ölkrise in den 1970er-Jahren erste Auswirkungen zeigten, bekommen durch die Katastrophen wie die Vermüllung der Weltmeere mit Plastik oder den verfehlten Klimazielen neue Nahrung. Befasst man sich mit Grundideen der Ökonomie, lassen sich folgende Überlegungen zitieren:
- „Unternehmen streben nach Gewinnmaximierung und verdrängen sich so lange gegenseitig vom Markt, bis nur einige wenige große Konzerne übrig sind. Diese haben dann alle Macht gegenüber Konsumenten und Staaten und diktieren das globale Geschehen. Umwelt- und Sozialstandards kommen dabei unter die Räder des Profitstrebens.“
- „Mit ‚Mehr Wachstum‘ könnte der Profit gerechter aufgeteilt werden. Nur ist ‚mehr Wachstum‘ auf einem endlichen Planeten nicht möglich. Kapitalismus und Kommunismus sind gescheitert. Jetzt sind neue Ideen gefragt – wie z. B. die Gemeinwohl-Ökonomie.“
- Die Gemeinwohl-Ökonomie orientiert sich am eigentlichen Zweck des Wirtschaftens – der Erfüllung unserer menschlichen Bedürfnisse. Dabei geht es vor allem um gelingende Beziehungen: Sie sind die Voraussetzung, um glücklich zu sein – sie sind Voraussetzung für das Gemeinwohl. Das Geld ist hingegen nur ein Mittel des Wirtschaftens: Die Wirtschaftsleistung, in Geld gemessen, sagt nichts darüber aus, ob das Gemeinwohl steigt oder sinkt. Um zu messen, ob der Zweck erfüllt wird, sind andere Messgrößen gefragt.“
- „Unternehmen können ihren Beitrag zum Gemeinwohl anhand des Gelingens ihrer Beziehungen zu Lieferanten, Geldgebern, Mitarbeitern, Kunden und dem gesellschaftlichen Umfeld bewerten – in Hinblick auf Werte wie Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung. Sie sollen – analog zur Finanz-Bilanz – eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen, in der die Größe des Gemeinwohl-Beitrags in Punkten bewertet wird.“
- „Anhand der Gemeinwohl-Bilanz können Konsumenten erkennen, wie viel einzelne Unternehmen zum Gemeinwohl beitragen – und können beim Einkauf darauf achten.“
- „Zudem können Unternehmen, die viel fürs Gemeinwohl tun, durch geringere Steuern, einen leichteren Zugang zu Förderungen oder Krediten oder durch Bevorzugung im öffentlichen Einkauf weitere Marktvorteile erhalten. Dadurch werden ihre Produkte nicht nur attraktiver, sondern auch günstiger.“
- „Plötzlich sind nachhaltige, faire, demokratische und kooperative Unternehmen im Vorteil. Regionale Wirtschaftskreisläufe kommen in Schwung. Es entstehen menschenwürdige Arbeitsplätze und hochwertige Produkte und Dienstleistungen, während Umweltschäden und soziale Probleme zurückgehen.“
Kriterien der Gemeinwohl-Bilanz
A1: Menschenwürde in der Zulieferkette
A2: Solidarität und Gerechtigkeit in der Zulieferkette
A3: Ökologische Nachhaltigkeit in der Zulieferkette
A4: Transparenz und Mitentscheidung in der Zulieferkette
B1: Ethische Haltung im Umgang mit Geldmitteln
B2: Soziale Haltung im Umgang mit Geldmitteln
B3: Sozial-ökologische Investitionen und Mittelverwendung
B4: Eigentum und Mitentscheidung
C1: Menschenwürde am Arbeitsplatz
C2: Ausgestaltung der Arbeitsverträge
C3: Förderung des ökologischen Verhaltens der Mitarbeiter
C4: Innerbetriebliche Mitentscheidung und Transparenz
D1: Ethische Kundenbeziehung
D2: Kooperation und Solidarität mit Mitunternehmen
D3: Ökologische Auswirkungen durch Nutzung und Entsorgung von Produkten und Dienstleistungen
D4: Kundenmitwirkung und Produkttransparenz
E1: Sinn und gesellschaftliche Wirkung der Produkte und Dienstleistungen
E2: Beitrag zum Gemeinwesen
E3: Reduktion ökologischer Auswirkungen
E4: Transparenz und gesellschaftliche Mitentscheidung
Das Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie ist die Gemeinwohl-Bilanz, die auf insgesamt 20 Indikatoren beruht und dabei jeweils Unterkategorien vorsieht (s. Kasten „Kriterien der Gemeinwohl-Bilanz“). Dabei können die Unternehmen entscheiden, ob sie die Bilanz in Eigenregie erstellen, sich in einer Gruppe gegenseitig bilanzieren oder einen unabhängigen Prüfer bestellen. Dies unterscheidet die Gemeinwohl-Bilanz von herkömmlichen Nachhaltigkeitsberichten, die von den Unternehmen selbst erstellt werden. Ab 2017 sind alle börsennotierten Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern durch eine EU-Richtlinie verpflichtet, einen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen. Dabei hat die Europäische Union mehrere Bilanzierungs-Standards explizit erwähnt, darunter auch die Gemeinwohl-Bilanz. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der die EU-Organe berät, hat in einer Stellungnahme empfohlen, dass Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen sollten: Ziel sei es, „den Wandel hin zu einer ethischen Marktwirtschaft zu gewährleisten“.
Die sich aus der Auflistung ergebenden Umsetzungs-Schwierigkeiten sind offenkundig. Schaut man sich den Punkt C3 etwas genauer an, sind die zu berücksichtigenden Sub-Indikatoren die Folgenden:
- Ernährung während der Arbeitszeit (Relevanz: hoch)
- Mobilität zum Arbeitsplatz (Relevanz: hoch)
- Sensibilisierung und unternehmensinterne Prozesse (Relevanz: mittel)
Der Punkt „D1: Kundenbeziehung“ setzt sich aus den folgenden Unterpunkten zusammen:
- Gesamtheit der Maßnahmen für eine ethische Kundenbeziehung (Relevanz: hoch)
- Fairer Preis und ethische Auswahl der Kunden (Relevanz: mittel)
- Gemeinsame Produktentwicklung/Marktforschung (Relevanz: mittel)
- Service-Management (Relevanz: mittel)
Auf Apotheken übertragen ergeben sich zahlreiche Probleme einer validen, zuverlässigen und vor allem objektiven Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz. Da der subjektive Spielraum bei den Unterkategorien vergleichsweise groß ist, kann kaum sichergestellt werden, dass dieselbe Apotheke von zwei unterschiedlichen Gutachtern denselben Punktwert in der Gemeinwohl-Bilanz erhält. Viele Punkte sind für eine stringente Beurteilung vage. Zum Beispiel kann die Ernährung während der Arbeitszeit von Mitarbeiter zu Mitarbeiter in Apotheken stark variieren. Wählt man einen Durchschnittswert, orientiert man sich am vermeintlich ungesündesten Ernährungsstil und betrachtet den daraufhin erzielbaren niedrigsten Punktwert, oder nimmt man den Ernährungsstil des Mitarbeiters mit der gesündesten Ernährung? Wie gewichtet man die Ernährung der Mitarbeiter, da an einen Vollzeitmitarbeiter andere Ernährungserfordernisse heranzutragen sind als an eine Halbtagskraft, die gegebenenfalls nur einmal kurz vespert?
Auch beim Kriterium Kundenbeziehung sind Zweifel angebracht. Apotheken sollen ja gerade jeden bedienen, die Barrierefreiheit stellt ein wichtiges Kriterium zugunsten der Apotheken dar. Von daher mutet z. B. das Kriterium „ethische Auswahl der Kunden“ fragwürdig an.
Bei nüchterner Betrachtung der Gemeinwohl-Bilanz führt dies demnach zu einem Kompromiss-Vorschlag. Man entnimmt als Apotheke dem Tableau die Punkte, die gut operationalisiert werden können, bei denen z. B. objektive Maßstäbe herangezogen werden können, und versucht, auf dieser Grundlage einen ersten Entwurf für die Bilanz zu erstellen. Bei anderen Kriterien teilt man nochmals auf in jene, zu denen noch eine qualitative Aussage gemacht werden kann, selbst wenn diese stark subjektiven Charakter aufweisen sollte, und solchen Kriterien, die für Apotheken nicht oder nur sehr eingeschränkt anzuwenden sind. Beispielsweise können Aussagen zum ökologischen Grundverständnis der Apotheke getroffen werden, inwieweit diese streng operationalisiert werden können, bleibt eher fragwürdig. Was faire Preise anbelangt, unterliegt ein Großteil der Produkte der Arzneimittelpreisverordnung und enthält keine preispolitischen Spielräume. Bei der Festsetzung der Preise für frei kalkulierbare Produkte stellt sich dann die Frage, was als Gemeinwohl-orientiert anzusehen ist. Ist ein besonders günstiger Preis eher Gemeinwohl-orientiert oder ein auf der Grundlage einer brauchbaren Mischkalkulation entstandener Preis, der eben jene Dinge mitfinanzieren hilft, was ansonsten an Gemeinwohl-Orientierung in der Apotheke ansteht.
Positiv an der Gemeinwohl-Ökonomie und der Gemeinwohl-Bilanz ist die Auseinandersetzung mit sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Aspekten jenseits des Gewinnmaximierungs-Prinzips. Ob es dafür eine „Bilanz“ braucht, die den Tatbestand einer Bilanz im betriebswirtschaftlichen Sinne streng genommen nicht erfüllt, sei dahingestellt, darf aber als populistisch gut gemacht interpretiert werden, da allein die Begrifflichkeit Bilanz ein Gegengewicht zu den klassischen Jahresabschlüssen setzen soll. Zudem suggeriert eine Bilanz die wiederholte Bestimmung der Werte, sodass sich niemand auf den Errungenschaften einer Gemeinwohl-Bilanz ausruhen kann, sondern gezwungen wäre, in regelmäßigen Abständen die Betrachtung neu zu erstellen. Apotheken sind für die Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz nur bis zu einem gewissen Grad geeignet. Je stärker Märkte gesetzlich geregelt sind, umso schwerer wird es für den einzelnen davon abzuweichen, womit klar wird, dass es einige Punkte in der Gemeinwohl-Bilanz gibt, die nicht oder nur sehr eingeschränkt von den Apotheken beeinflusst werden können. Die Konsequenz daraus wäre, ein für die Branche abgeleitetes Konzept zu entwerfen, was sich auf jene Parameter beschränkt, die beeinflusst werden können, und entsprechend die Punkte demnach zu gewichten. Dies wäre Aufgabe der Standesorganisation, damit ein Standard entsteht. Den Apotheken stünde derlei gut zu Gesicht, könnte aber auch vor dem Hintergrund der Größe von Apotheken und weiteren Regelungen, die auch noch einzuhalten sind, die Kapazitäten und Ressourcen der Apotheken überfordern. |
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