Arzneimittel und Therapie

Ein Spray gegen die Hoffnungslosigkeit

Wird Esketamin die Behandlung therapieresistenter Depressionen revolutionieren?

Wenn sich auch durch den Wechsel auf ein zweites Antidepressivum keine Besserung der depressiven Symptome zeigt, leiden Patienten vermutlich an einer therapieresistenten Major Depression. Das klingt erst einmal nach Endstation. Doch eine neue Therapieoption lässt Patienten und Angehörige hoffen: Spravato®, ein Esketamin-haltiges Nasenspray, ist nun auch in Europa zugelassen.
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In den Vereinigten Staaten bekam Janssen-Cilag bereits im März 2019 das Okay der Food and Drug Administration (FDA) für Spravato® [1]. Im Okto­ber letzten Jahres hatte der Ausschuss für Humanarzneimittel CHMP (Committee for Medicinal Products for Human Use) der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) den Zulassungsantrag dann ebenfalls positiv bewertet [2]. Am 18. Dezember 2019 erfolgte die offizielle Zulassung der europäischen Kommission [3]. Doch wann kommt das Esketamin-haltige Nasenspray in Deutschland auf den Markt? Das ist derzeit noch nicht absehbar: Der Hersteller will erst einmal weitere Daten für die frühe Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) generieren und arbeitet derzeit unter Hochdruck daran. Sobald die ­zusätzliche Evidenz zur Bewertung des Zusatznutzens vorliegt, dürfte Spra­vato® dann auch in der Lauer-Taxe zu finden sein [3].

Abb. Stereoisomere des Ketamins Die analgetische und anästhetische Potenz von Esketamin ist etwa drei- bis vierfach so hoch wie die des R-Enantiomers.

Über kurz oder lang – das Gehirn verändert sich

Spravato® erweitert das Portfolio der Antidepressiva um enantiomeren­reines Esketamin (s. Abbildung „Stereo­isomere des Ketamins“). Bisher bekannt in der Anästhesie, zeigte sich bereits Anfang der 2000er-Jahre, dass das Narkotikum auch bei therapie­resistenter Major Depression eine Wirkung hat. Über einen nichtselektiven, nichtkompetitiven Antagonismus am N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor (NMDA-Rezeptor) sorgt Esketamin für einen vorübergehenden Anstieg der Glutamat-Konzentration. Dadurch wir der alpha-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-­isoxazolpropionsäure-Rezeptor (AMPA-Rezeptor) stimuliert, wodurch es wiederum zu einer erhöhten neuro­trophin­induzierten Signalweiterleitung kommt [2, 4]. Und hier vermuten Forscher den Schlüssel für die Wirksamkeit bei einer Major Depression: Durch die Ausschüttung der Neuro­trophine, also der Wachstumsfaktoren der Nervenzellen, kann es zu einer Wiederherstellung der synaptischen Funktionen kommen. Demnach habe Esketamin sowohl kurz- als auch langfristige Auswirkungen auf jene Hirnregionen, die für die Stimmungs- und Emotionsregulation verantwortlich sind. Die beob­achtete kurzfristig eintretende Stimmungsaufhellung führen Forscher auf die Wiederherstellung der dopaminergen Neurotransmission zurück. Dabei werden die Berei­che im Gehirn stimuliert, die mit dem Belohnungs- und Motivations­system asso­ziiert sind [4].

Nur unter Aufsicht

Spravato® soll als Nasenspray mit einer Dosis von 28 mg auf den Markt kommen. Zugelassen ist es in Kombination mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder einem selektiven Norardrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) bei Patienten mit einer therapieresistenten Major Depression. Der Nasenspray-­Applikator muss manuell aktiviert werden. Pro Applikator sind genau zwei Sprühstöße á 14 mg enthalten, ein Sprühstoß je Nasenloch. Hier darf also in keinem Fall eine vorherige Funktionsprüfung durchgeführt werden. Janssen-Cilag hat verschiedene Packungsgrößen mit einem, zwei, drei oder sechs Applikatoren im Portfolio [4]. Die Behandlung beginnt mit einer vierwöchigen Induktionsphase, in der für Patienten unter 65 Jahren an Tag 1 mit einer Dosis von 56 mg begonnen wird. Anschließend werden zweimal wöchentlich 56 mg oder 84 mg verabreicht. Ab der fünften Woche beginnt die Erhaltungsphase. Patienten bekommen nach einer ausführlichen Bewertung des therapeutischen Nutzens, einmal wöchentlich 56 mg oder 84 mg. Ab der neunten Woche kann je nach Bedarf die Gabe auf alle zwei Wochen ausgedehnt werden [4].

Besonderes Augenmerk liegt auf der Empfehlung, dass das Nasenspray nur unter Aufsicht von geeignetem medizinischen Personal angewendet werden sollte. Es ist also nicht für die Ein­nahme zu Hause vorgesehen und soll auch nicht direkt an den Patienten abgegeben, sondern an die medizinische Einrichtung ausgeliefert werden. Zu groß wird das Missbrauchspotenzial eingeschätzt. Zudem müssen die Patienten nach der Applikation überwacht werden [4].

Blutdruck überwachen

Bei einem Wirkstoff, den man bisher aus der Anästhesie oder der Partyszene kennt, ist ein Blick auf das Nebenwirkungsprofil besonders interessant. Zu den am häufigsten beobachteten Neben­wirkungen gehören: Schwindelgefühl (30%), Übelkeit (27%), Dissoziation (26%), Kopfschmerzen (24%), Somnolenz (18%), Vertigo (18%), Schmeckstörungen (17%), verminderte Druck- bzw. Berührungsempfindlichkeit (11%) und Erbrechen (10%). Daneben finden sich unter den psychotropen Neben­wirkungen mit einer Häufigkeit von ≥ 1/100 bis < 1/10 auch Euphorie, Angst, Illusionen, Halluzinationen, Reizbarkeit und Panikattacken (Auflistung nicht vollständig). Im Allgemeinen waren diese Nebenwirkungen alle reversibel und hielten nicht lange an. In klinischen Studien kam es zu Blutdruckerhöhungen. Grund genug für den Hersteller, eine Empfehlung auszusprechen, dass vor und bis zu 40 Minuten nach der nasalen Anwendung von Spravato® der Blutdruck überwacht werden sollte. Bei Patienten mit hypertonischer Vorerkrankung, einem erhöhten intrakraniellen Druck oder anderen kardiovaskulären Erkrankungen ist besondere Vorsicht geboten [4].

Volkskrankheit Depression

Etwa jede vierte Frau und jeder fünfte Mann erleidet einmal im Leben eine Depression. Schätzungen zufolge erkran­ken rund 6,2 Millionen der erwachsenen Deutschen innerhalb eines Jahres. Zurecht ist von einer „Volkskrankheit“ die Rede. Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge werden unipolare Depres­sionen bis 2030 unter den das Leben beeinträchtigenden oder verkürzenden Volkskrankheiten den traurigen Spitzenplatz einnehmen.

Zur Behandlung werden medikamentöse und nicht medikamentöse Therapieverfahren eingesetzt. Bei mittelgradigen und schweren depressiven Episoden sollte den Patienten eine Therapie mit einem Antidepressivum angeboten werden. Allerdings spricht rund ein Drittel der Patienten auf den ersten Therapieversuch nicht ausreichend an. Meist wird dann ein anderes Antidepressivum verordnet, obwohl ein Wechsel bei Nichtansprechen nicht die Behandlungsalternative erster Wahl ist. Zunächst sollten mögliche Ursachen (z. B. zu niedrige Serumspiegel, Compliance) evaluiert und die Dosie­rung überprüft werden. Wenn Patienten auf mindestens zwei unterschiedliche, adäquat (auf-)dosierte Antidepressiva aus verschiedenen Wirkstoffklassen nicht angesprochen haben, spricht man von behandlungsresistenten depressiven Störungen.

[Quelle: S3-Leitlinie und Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Unipolare Depression, 2. Auflage]

Was kann Spravato®?

In das Zulassungsdossier flossen die Daten aus insgesamt fünf klinischen Studien mit etwa 1800 Patienten ein. Janssen-Cilag konnte in einer ersten vierwöchigen Studie zeigen, dass Spravato® in Kombination mit einem SSRI oder SNRI die MADRS-Symptomwerte (s. Kasten „Der MADRS-Score“) im Vergleich zur Kontrollgruppe (Placebo in Kombination mit einem SSRI oder SNRI) um 3,5 Punkte verbesserte. Ähnliche klinisch relevante, aber weniger robuste Ergebnisse zeigten sich in zwei weiteren Kurzzeitstudien. Alle drei Studien zusammengenommen zeigen überzeugend, dass Spravato® insgesamt wirksamer ist als Placebo [4].

Der MADRS-Score

Die Montgomery-Åsberg Depresson Rating Scale (MADRS) ist eine meist im stationären Umfeld angewandte Skala zur Fremdbeurteilung des Schweregrads einer Depression bei Erwachsenen. Sie umfasst insgesamt zehn Fragen zu vorliegenden Symptomen, die mit einer Ausprägung von null bis sechs bewertet werden. Der Gesamtwert liegt in Summe in einem Wertebereich zwischen null und 60. Je höher der MADRS-Score ausfällt, desto schwerwiegender wird die Depression eingestuft. Ab einem Skala-Wert > 34 spricht man von einer schweren Depression.

Neben den drei genannten Kurzzeit­studien legte Janssen-Cilag auch die Ergebnisse einer vierten placebokontrollierten Langzeitstudie zur Rückfallprävention vor. Auch hier bewies Spravato® Stärke: Im Vergleich zur Placebo-Gruppe war das Rückfallrisiko bei Patien­ten mit stabilem Ansprechen relativ um 70% reduziert, bei Patienten in stabiler Remission um rund 50% [3]. In der fünften Langzeitsicherheitsstudie mit einer Dauer von etwa einem Jahr (Therapiedauer 52 Wochen), zeigte Spravato® einen langfristigen Nutzen für Patienten, bei gleichzeitig allgemein guter Verträglichkeit [3].

Mit Spravato® wurde seit Jahrzehnten erstmals ein Antidepressivum mit einem neuen Wirkansatz zugelassen. Ob und inwieweit das Esketamin-haltige Nasenspray tatsächlich eine Revolution in der Behandlung therapieresistenter schwerer Depressionen ist, erläutert Prof. Dr. Malek Bajbouj im Interview auf Seite 43. |

Literatur

[1] Mattingly GW, Anderson RH. Intranasal esketamine. Current Psychiatry 2019;18(5):31-38

[2] Janssen Receives Positive CHMP Opinion for Spravato® (esketamine) Nasal Spray for Adults with Treatment-Resistant Major Depressive Disorder. Pressemitteilung von Janssen-Cilag vom 18. Oktober 2019. www.janssen.com

[3] Europäische Kommission erteilt Spravato® (Esketamin) die Zulassung zur Behandlung Erwachsener mit therapieresistenter Major Depression. Pressemitteilung von Janssen Deutschland vom 8. Januar 2020. www.janssenmedicalcloud.de

[4] Spravato®. Produktinformation – European Public Assessment Report (EPAR). www.ema.europa.eu; Abruf am 21. Februar 2020

Apothekerin Dorothée Malonga Makosi, MPH

 

„Kein Wundermedikament!“

Eine Einschätzung zum Potenzial von Ketamin

Prof. Dr. med. ­Malek Bajbouj, ­Charité Berlin

Ist Ketamin wirklich ein Durchbruch in der Behandlung therapieresistenter Depressionen? Und was ist von Spravato® zu halten? Darüber haben wir uns mit Prof. Dr. med. Malek Bajbouj, Leiter des Centrums für Affektive Neurowissenschaften an der Chari­té Berlin, unterhalten. Der Facharzt für Psychiatrie und Psycho­therapie erforscht die Anwen­dung des Anästhe­tikums in der Behandlung von Depressionen und hat bereits etliche Patienten mit intravenös verabreichtem Ketamin behandelt.

DAZ: Herr Professor Bajbouj, für welche Patienten bringt Ketamin einen Mehrwert?

Bajbouj: Ketamin wird an der Charité bei Patienten intravenös (i. v.) eingesetzt, die schwer mit Medikamenten und Psychotherapien behandelbar sind und bei denen eine Elektrokrampftherapie noch nicht angebracht ist. Es ist also eher für eine Untergruppe von Patienten geeignet, die schon lange Depressionen haben und insgesamt viele frustrane Behandlungsversuche hatten.

DAZ: Wie ist das Rückfallpotenzial bei einer Ketamin-Behandlung einzuschätzen?

Bajbouj: Meiner klinischen Erfahrung nach zeigt sich auch hier, dass es bei einer abrupten Unterbrechung der Behandlung innerhalb eines halben Jahres bei rund 20% bis 60% der Patienten zu Rückfällen kommt. Das gilt für Ketamin (i. v.) genauso wie für andere Antidepressiva. An dieser Stelle setzt Spravato® ein: Durch die nasale Applikation ist das Ketamin-Enantiomer längerfristig anwendbar.

DAZ: Ist der Hype gerechtfertigt? Wird Ketamin das Wundermittel bei therapieresistenter Depression?

Bajbouj: Ich bin da wirklich absolut ergebnisoffen und wehre mich gegen diesen Hype. Ketamin wird sicher seine Rolle finden. Esketamin hat den Vorteil, dass es relativ schnell wirkt, aber es wird sicher kein Wundermedikament sein. Aus bisherigen Studien weiß man, dass die Wirkstärke nicht so dramatisch anders ist als bei bereits verfügbaren Medikamenten. Der Unterschied ist wirklich das Wirktempo.

DAZ: Was ist noch wichtig im Zusammenhang mit Ketamin?

Bajbouj: Es darf nicht vergessen werden, dass auch eine Ketamin-Therapie eine Intervention mit Neben­wirkungen ist. Ganz wichtig ist der Bereich des Suchtpotenzials: Hier gibt es noch unbeantwortete Fragen. Ketamin gehört bei den 15- bis 25-Jährigen zu den Top Five der missbräuchlich verwendeten Substanzen. Sicherheitsvorkehrungen bei der Anwendung sind sinnvoll, um die Behandlung nicht von vornherein in ein negatives Licht zu ­stellen. Es muss verhindert werden, dass Spravato® zu einer sogenannten „Street-Drug“ wird. Dieser Aspekt muss in größeren klinischen Studien in Zukunft untersucht werden und sollte auch in die Gesamt­evaluation einfließen.

DAZ: Herr Professor Bajbouj, vielen Dank für das Gespräch!

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