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Kongresse
Vom Kunden her denken
11. BVDAK-Kooperationsgipfel – Netzwerken und kooperieren im digitalen Zeitalter
Die Veranstaltung wies die rekordverdächtige Teilnehmerzahl von knapp 500 aus – die meisten der Teilnehmer kamen allerdings nicht aus Apotheken oder Kooperationen, sondern aus den Marketingetagen der Pharmaindustrie, von Pharma-Dienstleistern, Warenwirtschaftshäusern und Großhandlungen. Der Gipfel hat sich als Branchentreff am Jahresanfang einen guten Namen gemacht und bietet dem BVDAK-Vorsitzenden Stefan Hartmann eine Bühne, um Politik zu machen. Eine Politik, die in den Grundzügen durchaus im Konsens mit der ABDA-Politik liegt (pro inhabergeführte Apotheke, kein Fremd- und Mehrbesitz), sich aber in einigen Punkten auch deutlich ABDA-kritisch zeigt. Die ABDA habe zu lange das Rx-Versandverbot als einzige Option verfolgt. Es hätten Visionen und Ideen gefehlt, wie man Gleichpreisigkeit erhalten könne, wenn ein Versandverbot nicht komme.
Für Hartmann sind warenwirtschafts- und kooperationsübergreifende Lösungen wichtiger denn je. Sein Credo: Die Vernetzung der stationären Apotheken muss deutlich schneller vorangetrieben werden. Hartmann träumt von einer gemeinsamen App, die alle Apotheken nutzen, und von einer gemeinsamen digitalen Plattform. Und wovon er überzeugt ist: Die heilberufliche Zukunft des Apothekers wird mehr denn je politisch und betriebswirtschaftlich und durch die digitale Transformation entschieden.
Wenn die Apotheken im Kampf gegen Amazon und die großen Versender punkten wollten, müsse die zentrale Frage lauten: Was kann die stationäre Apotheke besser als Amazon und die ausländischen Versandapotheken? Da kommt man sehr schnell auf die Antwort: Die Belieferung und Zustellung der Bestellung am selben Tag – same day delivery. Hartmann setzt sich daher für eine Liberalisierung des Botendienstes ein. Während sich die ABDA den Kopf zerbricht über eine Abgrenzung zwischen Versandhandel und Botendienst, vergisst sie den Kunden. Der will einfach nur schnell sein Arzneimittel – ob die Zustellung nun Botendienst oder DHL oder sonstwie heißt, ist ihm dabei herzlich egal. Hartmann ist überzeugt: Den Wettbewerbsvorteil der Präsenzapotheke, nämlich vor Ort zu sein und eine Bestellung am selben Tag ausführen zu können, spielen die Apotheken nicht aus.
Im Forderungskatalog des BVDAK-Vorsitzenden findet sich außerdem die Grippeschutzimpfung in der Apotheke (auch dies kann Amazon nicht) und ein Ausbau von telemedizinischen und telepharmazeutischen Möglichkeiten.
Disruptionen überall
Die Komoderatorin des Kooperationsgipfels, Dr. Vanessa Conin-Ohnsorge, hob die Bedeutung der digitalen Transformation hervor, die getrieben wird vom Internet der Dinge und neuen Entwicklungen der Datenverarbeitung, die selbstfahrende Autos ermöglicht, ChatBots, Roboter, Augmented Reality, Big Data, Künstliche Intelligenz (KI) und Spracherkennung. Die Entwicklungen wirken sich auf das Privatleben der Menschen aus, auf die Arbeitswelt und natürlich auf das Gesundheitswesen. Die Folgen: mehr Individualisierung, höhere Schnelligkeit, steigende Informationsflut, sinkende Halbwertszeit des Wissens und vor allem mehr Vernetzung.
Mit zahlreichen Beispielen machte der Mathematiker, Philosoph und Zukunftsdenker Prof. Dr. Gunter Dueck darauf aufmerksam, wie rasant der Fortschritt voranschreitet: In Zeiten der Pferdefuhrwerke konnte sich niemand selbstfahrende Autos vorstellen – heute wird daran gearbeitet und morgen sind sie im Alltag angekommen. Viele Branchen erleben dadurch Umstürze ihrer Geschäftsfelder, Disruptionen. Man brauche daher Visionen, wie man damit umgehen will und welchen Weg die Gesellschaft einschlagen will. Das gelte auch für Apotheken: Geht’s in Richtung mehr Gesundheit oder eher in Richtung Wellbeing?
Eine Disruption wie kaum eine andere Branche durchlebt derzeit die Zigarettenindustrie. Mittlerweile ist es in der Gesellschaft angekommen, dass Rauchen hochgradig schädlich ist und Krebserkrankungen hervorrufen kann. Thorsten Scheib und Dr. Charilaos Avrabos, zwei Mitarbeiter des Philip Morris-Konzerns, Deutschlands größtem Zigarettenhersteller, stellten die neuen Konzernstrategien vor. Leitgedanke von Philip-Morris-Chef André Calantzopoulos: „Ich hoffe, wir werden eines Tages keine Zigaretten mehr verkaufen.“ Noch ist es nicht soweit, aber derweil setzt man auf die E-Zigarette. Mit diesem Produkt, das Tabak nicht mehr verbrennt, sondern nur noch auf unter 300 Grad Celsius erhitzt, werden so gut wie keine krebserregenden Stoffe mehr freigesetzt, aber nach wie vor das Nikotin. Positioniert werden die E-Zigaretten für Menschen, die nicht mit dem Rauchen aufhören können. Entwicklung und Service sowie Vermarktung und Vertrieb des elektronischen Tabakerhitzers führte zu vollkommen neuen Strukturen im Konzern, die noch vor wenigen Jahren als undenkbar galten. Scheib formulierte es etwa so: Früher waren wir ein „Push“-Unternehmen, das Zigaretten in den Markt drückte, heute hören wir dem Konsumenten zu, befragen ihn.
Digital versichern und telemedizinisch behandeln
Neue Wege in der Krankenversicherung geht Dr. Roman Rittweger, Gründer und Vorstand der privaten Ottonova Krankenversicherung. Er hatte sich 2015 zum Ziel gesetzt, eine einfache, moderne und digital aufgestellte Krankenversicherung zu gründen. Seit etwa zwei Jahren ist die Ottonova im Markt der PKV. Der Versicherte kommuniziert praktisch nur über eine App mit der Krankenversicherung. Geboten werden Nettotarife, keine Maklergebühren. Die Beratung läuft über Chats, ein Concierge-Dienst vermittelt dem Versicherten Experten und Zweitmeinungen, findet Spezialisten, vereinbart Arzttermine. Rittweger geht davon aus, dass sich schon bald neue und stärker vernetzte Internetstrukturen im Gesundheitsmarkt bilden. Das betrifft zum Beispiel auch die Direktabrechnung privater Rezepte mit Apotheken oder die Erstellung einer Patientenakte: „Derzeit leben noch alle in ihren Silos und bauen eigene Patientenakten. Das wird so nicht funktionieren.“
DrEd, die Online-Ärztepraxis mit Sitz in London, heißt heute Zava und erfreut sich großer Nachfrage, wie Jesko Bartelt, Gebietsdirektor für Deutschland, Österreich und die Schweiz, wissen ließ. Die Patienten schätzen vor allem die Zeitersparnis der telemedizinischen Betreuung. Nachfrage und Akzeptanz seien hoch. Nachdem nun auch in Deutschland Modellversuche für die Telemedizin laufen, sieht sich Zava bestätigt. Allerdings müsse noch der rechtliche Rahmen angepasst werden, noch fehlten die Abrechnungsmöglichkeiten mit GKV-Patienten, die Einrichtung des E-Rezepts und die Einbindung der Apotheken. Derzeit zahlen die Patienten die Konsultationsgebühr bei Zava aus eigener Tasche. Bartelt ist jedoch davon überzeugt, dass die Telemedizin sich weiterentwickelt, auch bei Zava. Die Zahl der möglichen Indikationen werde größer, Standorte in Deutschland sind denkbar.
Die Apotheken-Plattformen kommen
Als Überraschungsgast hatte Hartmann den Noweda-Chef Michael Kuck zum Kooperationsgipfel eingeladen. Kuck stellte heraus, dass die Genossenschaft als Unternehmensmodell durchaus zeitgemäß sei: „Wir kämpfen für jede Apotheke.“ Thema war natürlich auch der „Zukunftspakt“, den Noweda und Burda geschlossen haben, um eine digitale Plattform für alle Apotheken aufzubauen und zu bewerben. Dieser Plattform könne jede Apotheke beitreten, auch wenn sie nicht Kunde der Noweda sei, betonte Kuck. Dass noch eine weitere Plattform im Aufbau ist, initiiert von Gehe, Noventi, Rowa, Sanacorp und dem Verlag Wort & Bild, sieht Kuck sportlich: Konkurrenz schade nicht und Deutschland könne mit zwei großen Plattformen leben, meinte er zuversichtlich. Entscheidend sei nicht die schönste App, sondern ob man genügend Reichweite bei Kunden und den Apotheken habe. Deswegen sei auch das Medien-Unternehmen Burda Media mit im Boot, „das weiß, wie Reichweite geht, auch außerhalb von Apotheken“, so Kuck.
Die Apotheker-Plattformen sind auch eine Antwort auf die Aktivitäten von Amazon in der Arzneimitteldistribution. Dieses Unternehmen würde gerne am Pharmamarkt partizipieren, tut sich aber in Deutschland recht schwer, in diesem Markt Fuß zu fassen. Fremd- und Mehrbesitzverbot stehen im Weg. Daher greift Amazon gerne zur ausgestreckten Hand von einigen Apothekern, die dem Logistiker helfen wollen, beim Arzneiversand mitzumischen. Auf dem Kooperationsgipfel durfte der Münchner Apotheker Michael Grintz von den Bienen-Apotheken seine seit 2016 bestehende Partnerschaft mit Amazon vorstellen. Seit 2017 ist er „Amazon Prime Now“-Partner, das heißt, er verpflichtet sich, bis 13 Uhr eingehende Bestellungen umgehend zusammenzustellen, um sie dann um 15 Uhr dem Amazon-Boten zur Auslieferung übergeben zu können. Um in der Amazon-Familie am Tisch sitzen zu dürfen, muss er einen Obulus an Amazon abdrücken, der sich auf 15 Prozent des Bruttoumsatzes beläuft. Grintz verriet natürlich nicht, wie viele Bestellungen er täglich hat, wie viel Umsatz er damit macht, aber er ließ wissen: „Was ich hier tue, ist kaufmännisch sinnvoll.“ Laut Grintz sollen in Deutschland etwa 70 bis 80 Apotheker auf dem Amazon-Marktplatz aktiv sein, aber nur wenige seien „Prime-Apotheken“. Grintzs Zukunftsprognose: Er geht nicht davon aus, dass Amazon in Deutschland über eine „eigene“ Apotheke aktiv wird, zumal es auch nicht erlaubt ist. Tendenz von Amazon sei es, Umsätze über Partnerschaften mit Händlern zu generieren.
Der Ökonom Prof. Dr. Justus Haucap, heute Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie und von 2008 bis 2012 Vorsitzender der Monopolkommission, sieht durch die Entwicklungen in der digitalen Wirtschaft neuartige Machtkonstellationen und Wettbewerbsgefährdungen auf uns zukommen: Die Gründe dafür sind eine zunehmende Bedeutung von Daten und digitalen Internet-Plattformen auf teils sehr konzentrierten Märkten. So könnte es sehr leicht sein, dass es zu einem Monopol komme, wenn alle Anbieter auf dieselbe Plattform wollen. Das Kartellrecht müsse dafür sorgen, dass Anbieter auf mehreren Plattformen vertreten seien. Da sich die Politik im Digitalen verzettelt habe, sprach sich Haucap dafür aus, eine Digitalkommission zu gründen, die alle Maßnahmen bündelt und eine digitale Agenda erstellt.
Der Apothekenzweck und Kundenwünsche
Über ein Reformkonzept der Apothekenbranche machte sich Malte W. Wilkes, Unternehmensberater, Gedanken. Um sich für die Zukunft zu rüsten, sollten die Apotheker über den Zweck der Apotheke nachdenken. Wollen sie Logistiker sein, Erfüllungsgehilfe des Arztes, Berater der Kunden? Oder sollten sie den Apothekenzweck besser ganz neu definieren, etwa: Apotheker als Heilstreiber für Gesunde (Prävention!) und Kranke. Nach Auffassung von Wilke sollte sich das Sortiment der Apotheke erweitern. Der Begriff „Randsortiment“ sollte verschwinden – den Kunden interessiert es nicht, ob seine Waren aus dem Haupt- oder Randsortiment kommen. Für einen Kunden kann das Randsortiment auch das zentrale Sortiment sein. Vor allem sollte die Apotheke der Zukunft mehr Dienstleistungen anbieten. Wilke prognostizierte, dass die Digitalisierung noch viel mehr verändere als erwartet. Daher sollten die Apotheker lieber herausarbeiten, was man nicht digitalisieren kann, und sich auf den menschlichen Kontakt konzentrieren. Schließlich sollte auch das Apothekenpersonal, vor allem die PTA, besser eingesetzt werden, was wiederum eine veränderte Ausbildung erfordere. Wenn ein neuer Apothekenzweck definiert würde, ergäben sich neue Arbeitsfelder für die PTA. Wilke: „Am Zweck der Apotheke hängt ihre Zukunft.“
Interessante Erkenntnisse zum Kundenverhalten lieferte Walter Pechmann vom Marktforschungsunternehmen GfK in seinem Vortrag. In Umfragen ging GfK der Frage nach, wie sich das Einkaufsverhalten (man spricht hier auch von der Customer Journey, von der „Kundenreise“) aufgrund des Versandhandels verändert – auch im Apothekenmarkt. Was sich deutlich zeigt: Für immer mehr Menschen sind Arzneimittel kein besonderes Gut. Es ist eine Ware wie jede andere auch, die sie rasch und sicher geliefert haben möchten. Und wann beziehen die Kunden ein Arzneimittel über den Versandhandel und wann besuchen sie eher die Vor-Ort-Apotheke? Das kommt auf den Sortimentsbereich an, je nach Bedarf: Für den akuten Bedarf ist ganz klar die Präsenzapotheke die Einkaufsstätte der Wahl. Aber bei Produkten für den kurativen und präventiven Bereich und für Produkte zur Verbesserung der Lebensqualität tendieren die Einkäufe in Richtung Versandhandel. Laut Pechmann sind damit rund 62 Prozent des Absatzes der Vor-Ort-Apotheke gefährdet. Wie können die Präsenzapotheken darauf reagieren? Dazu sollte man wissen: Die Themen Sicherheit, Zeit und Komfort schätzen die Kunden beim Arzneimittelkauf im Internet besonders, der Preis spielt dabei nicht die entscheidende Rolle, Hauptsache, man kann sich darauf verlassen, dass das richtige Arzneimittel rasch nach Hause geliefert wird. Genau hier könnte, so Pechmann, die Vor-Ort-Apotheke ansetzen und Wettbewerbsvorteile rausholen, dem Versandhandel den Markt streitig machen und Umsätze zurückholen, nämlich mit einer Lieferung der Bestellung am selben Tag (same day delivery): „Das ist eine zentrale Stärke der Apotheke.“ |
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