Arzneimittel und Therapie

Ein wahrhaft einzigartiges Medikament

Spezifische Oligonukleotid-Therapie für nur eine Patientin entwickelt

Ein maßgeschneiderter Wirkstoff für eine einzige unheilbar kranke Patientin – was nach Science Fiction klingt, ist nun Realität. Das Mädchen leidet an einer seltenen gene­tischen Erkrankung. Nachdem die Ursache bekannt war, wurde in Rekordzeit ein Antisense-Oligo­nukleotid entwickelt. Durch die Behand­lung konnte der symptomatische Zustand der jungen Patientin gebessert werden.

Im Januar 2017 kam der Kontakt zwischen der sechsjährigen Mila und Dr. Timothy Yu vom Boston Children’s Hospital durch einen Post bei Facebook zustande. Das Mädchen litt an beginnender Erblindung, Ataxie, Krampfanfällen und Entwicklungsverzögerung. Die ersten Symptome waren im Alter von drei Jahren aufgetreten, und es konnte die Diagnose neuronale Ceroid-Lipofuszinose gestellt werden (s. Kasten). Bei der Patientin lag eine heterozygote, bereits bekannte Punktmutation im CLN7-Gen vor, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Durch die Sequenzierung von Milas komplettem Genom konnte Yu eine weitere, unbekannte Mutation in Form einer Inser­tion im Bereich der nichtkodierenden DNA des CLN7-Gens bei der Patientin und ihrer Mutter nachweisen. Durch die Insertion verändert sich das Splicing der messenger-RNA (mRNA). Und genau darin lag der Schlüssel zur Entwicklung einer Therapie.

Neuronale Ceroid-­Lipofuszinosen

Die Juvenilen Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (Synonyme: Batten-Krankheit, Spielmeyer-Vogt-Krankheit) stellen eine genetisch heterogene Gruppe von Krankheiten dar. Es handelt sich um autosomal-rezessive Erkrankungen mit schwerwiegenden, neurodegenerativen Folgen an Retina und zentralem Nervensystem (ZNS). Im Verlauf treten Visusverlust mit Retino­pathie, zerebrale Krämpfe sowie motorische und geistige Einschränkungen auf. Die Erkrankung manifestiert sich meist im frühen Schulalter.

Nach einem Jahr einsatzbereit

Innerhalb eines Jahres nach Erstkontakt wurden mehrere patientenindividuelle Antisense-Oligonukleotide entwickelt und getestet, die den Splicing-Prozess modulieren. Der erfolgreichste Kandidat erhielt den Namen „Milasen“ und besteht aus 22 Nukleotiden mit demselben Grundgerüst und chemischen Modifikationen wie Nusinersen (Spinraza®), einem bereits zugelassenem Oligonukleotid. Durch das Engagement von Yu wurden gleichzeitig toxikologische Untersuchungen durchgeführt und die Zustimmung der US-amerikanischen Arzneimitttelbehörde FDA zu der ungewöhnlichen Studie mit nur einer Patientin eingeholt. Eine eigens dafür ins Leben gerufene Stiftung beteiligte sich an den finanziellen Kosten.

Foto: natali_mis – stock.adobe.com

Milasen ermöglicht das korrekte Splicing der mRNA.

Im Januar 2018 begann schließlich die intrathekale Applikation in aufsteigenden Dosen mit einem Therapieregime, das an Nusinersen angelehnt war. Mila­sen konnte die Menge der normalen im Vergleich zur mutierten mRNA mehr als verdreifachen. Die Ergebnisse von neurologischen und neuropsychologischen Tests stabilisierten sich in den ersten drei Therapiemonaten, und dieser Trend blieb auch bis zum sechsten Monat bestehen. Die Häufigkeit und Dauer der Krampfanfälle nahmen objektiv um mehr als 50% ab, wobei die antiepileptische Therapie nicht verändert wurde. Es gab keine schweren unerwünschten Wirkungen im ersten Behandlungsjahr. Bis heute wird die Therapie bei Mila fortgeführt. Ihr Zustand ist überwiegend stabil mit weni­ger epileptischen Anfällen.

Mehrere Faktoren begünstigten die schnelle Entwicklung von Milasen. Zum einen war die klinische Situation der Patientin dringlich, und Oligonukleotide können bei bekannter Mutation sequenzspezifisch hergestellt werden. Zum anderen wurde Nusinersen bereits sicher bei Kindern in einer anderen Indikation angewendet. Zusätzlich zeichnen sich Oligonukleotide durch ihre gute ZNS-Gängigkeit, lange Halbwertszeit und die vergleichsweise kurze Herstellungsdauer aus. Die Studie zeigt, dass Oligonukleotide als schnelle, individualisierte Therapie eingesetzt werden können. Gleichzeitig sollten sie aber weiterhin wissenschaftlich untersucht und auch ein Minimum der präklinischen Prüfung diskutiert werden. |

Literatur

Kim J et al. Patient-Customized Oligonucleotide Therapy for a Rare Genetic Disease. N Engl J Med 2019;381(17):1644-1652

Boston Children’s Hospital. Mila has an extremely rare gene mutation... and a drug made just for her. www.childrenshospital.org; Abruf am 30. Oktober 2019

Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs – Orphanet. Ceroid-Lipofuszinose, neuronale, juvenile. www.orpha.net; Abruf am 22. Oktober 2019

Apothekerin Jutta Hupfer

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