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Klinische Pharmazie

Mikronährstoffe messen

Wann Spiegelbestimmungen sinnvoll sind

Wann immer Verbraucherschützer sich mit dem Thema Nahrungsergänzung befassen, lautet ihre Empfehlung, eine allgemeine Substitution von Mikronährstoffen zu unterlassen und lediglich einen durch Spiegelbestimmungen gesicherten Mangel gezielt zu korrigieren. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die klinische Chemie für jeden Mikronährstoff, bei dem das Risiko klinisch relevanter Mangelerkrankungen besteht, valide Messwerte liefert, die auch mit der je­weiligen Symptomatik korrelieren. Wer sich mit dieser Thematik näher befasst, stellt jedoch fest, dass dies in überraschend wenigen Fällen zutrifft. | Von Markus Zieglmeier

Dass eine unkritische Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) das Leben nicht verlängert, sondern in manchen Fällen eher verkürzen kann, wissen wir seit ungefähr 20 Jahren. Die CARET-Studie, in der synthetisches Betacarotin die Morbidität und Mortalität von Rauchern erhöhte, statt sie wie erwartet zu senken, stellt einen spektakulären Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung von Nahrungsergänzungsmitteln dar [1]. Die Iowa Women’s Health Study zeigte, dass diese kritische Haltung auf eine Reihe anderer Mikro- und Makronährstoffe übertragbar war – auch hier wirkten sich Multivitaminpräparate und eine Reihe von einzelnen Vitaminen, Spurenelementen und Mineralstoffen eher negativ aus. Lediglich Calcium (von dem man weiß, dass es insbesondere bei Männern das kardiovaskuläre Risiko erhöht), bewirkte bei den Frauen aus dem Herzen der USA eine überzeugende Lebensverlängerung [2].

Andererseits wissen wir, dass gerade multimorbide Patienten oft einen gravierenden und auch für den Krankheitsverlauf relevanten Mangel an bestimmten Mikronährstoffen aufweisen. Für diese Form der Mangelernährung hat sich der Begriff Hidden Hunger (verborgener Hunger) eingeprägt, insbesondere bei adipösen Menschen, bei denen neben dem Kalorien-Überfluss eigentlich kein Mangel erwartet wird. In welchen Fällen man also welchen Stoff substituieren soll und wann man dem Kunden/Patienten eher damit schadet, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Wie fast immer wissen (zumeist selbst ernannte) Verbraucherschützer die perfekte Antwort. Wenn sie mal wieder rüstige, ausgewogen ernährte (ein Begriff, der im Verlauf von Jahrzehnten auch nicht immer dieselbe Ernährung meinte) Rentner als Pseudocustomer mit NEM-Wünschen in die Apotheken geschickt haben, pflegen sie vor Nahrungsergänzungsmitteln pauschal zu warnen und empfehlen stattdessen, Mikronährstoffe „gezielt“ zu substituieren, nachdem eine Spiegelbestimmung den Mangel eindeutig belegt hat. Hausärzte freut das, dürfen sie doch mit dem Hinweis, dass die Krankenkasse das nicht bezahlt, viele IGeL-Leistungen abrechnen. In manchen Fällen ist die vom Patienten selbst bezahlte Spiegelbestimmung dann teurer als mehrere Monate Substitution des gemessenen Stoffes. Abbildung 1 zeigt als Beispiel einen Auszug aus dem Laborbefund eines Privatpatienten, erhoben in einer neurologischen Klinik.

Abb. 1: Laborbefund eines 58-jährigen Privatpatienten, erhoben in einer neurologischen Klinik. Neben den üblichen Routineparametern werden insgesamt 14 Mikronährstoffe gemessen. Was davon ist sinnvoll in Hinblick auf eine diagnostische Aussage?

Woher kommen die Unsicherheiten?

Bevor man darangeht, die Notwendigkeit einer Substitution von Mikronährstoffen an gemessenen Plasmaspiegeln festzumachen, sollte man einen Blick auf die Quelle der pauschalen Aussage werfen, eine Nahrungsergänzung sei generell überflüssig. Dabei wird in der Regel auf die 2008 veröffentlichte Nationale Verzehrsstudie II Bezug genommen [3]. Sie kommt zusammengefasst zu dem Schluss, in Deutschland gebe es keinen Mangel an Nährstoffen jedweder Art [3]. Gemeint ist damit jedoch lediglich, dass es das Nahrungsangebot hierzulande jedermann ermöglicht, sich in jeder Hinsicht bedarfsdeckend zu ernähren, weshalb es praktisch keine klinisch manifesten Mangelerkrankungen (Skorbut, Rachitis und andere) gibt. Dennoch gelten hier Einschränkungen. Eine Unterversorgung mit bestimmten Mikronährstoffen (z. B. Jod vor allem im Süden, Vitamin D vor allem im Winter) wird sehr wohl konstatiert. Diese erreicht zwar kaum ein Ausmaß, das klar diagnostizierbare Mangelerkrankungen zur Folge hätte, subklinische Defizite (z. B. eine erhöhte Anfälligkeit für Atemwegsinfektionen durch latenten Vitamin-D-Mangel) sind aber keineswegs ausgeschlossen. Auch ist erwähnenswert, dass die Nationale Verzehrsstudie II lediglich die Mengen der einzelnen Nährstoffe in die Analyse einbezog, die sich aus den Angaben der Umfrageteilnehmer zu den aufgenommenen Lebens­mitteln ergaben. Verluste bei der Lagerung und Zubereitung der Nahrung, Defizite der Bioverfügbarkeit und andere Faktoren sind hier nicht berücksichtigt. Die tatsächliche Aufnahme kritischer Mikronährstoffe liegt folglich unter der in der NVS II abgebildeten Menge. Ist also die Spiegel­bestimmung doch die einzige Methode, zuverlässige Aussagen zu treffen? Ist alles in Ordnung, wenn der Spiegel eines Mikronährstoffs innerhalb der Grenzen des Referenzbereichs liegt? Um sich der Antwort auf diese Frage zu nähern, muss man zunächst wissen, wie die klinische Chemie Referenzbereiche ermittelt, die immer auf eine bestimmte Mess­methode bezogen sind. Dieses Verfahren ist in Abbildung 2 dargestellt.

Abb. 2: Festlegung des Referenzbereichs bei Laborparametern: Die Messwerte einer repräsentativen, gesunden Population ergeben typischerweise eine Gauss’sche Normal­verteilung. Vom Mittelwert aus gerechnet zwei Standardabweichungen nach unten und oben definieren den Referenzbereich. Das bedeutet, dass ca. 5% der Werte (je ca. 2,5% oben und unten) außerhalb des Referenzbereichs liegen, obwohl es sich um gesunde Probanden handelt [5].

Zunächst ist festzustellen, dass die Referenzbereiche, die ja die Verteilung der Werte einer (möglicherweise unterversorgten) Population wiedergeben, nicht viel mit den erstrebenswerten Spiegeln zu tun haben, die auch einen subklinischen Mangel ausschließen würden. Referenzbereiche sind auch nicht von einer Population auf die andere übertragbar. So gilt z. B. für Folsäure in Nordamerika ein anderer (nach rechts verschobener) Referenzbereich als in Europa, weil es in den USA und Kanada üblich ist, zur Prophylaxe von Neuralrohrdefekten das Mehl mit Folsäure anzureichern [4].

Ein großes Problem besteht weiterhin darin, dass Mikronährstoffe oft in Kompartimente verschoben werden, in denen sie sich einer Messung nach der Blutabnahme entziehen. Das Prinzip, dass die korrekte Interpretation von Laborwerten ein großes Hintergrundwissen erfordert, gilt also ganz besonders bei Mikronährstoffen. Im Folgenden werden die wichtigsten Mikronährstoffe, ihre Bestimmung und die Interpretation der Befunde wiedergegeben.

Wasserlösliche Vitamine

Vitamin C: Eine Spiegelmessung ist möglich, aber in den allermeisten Fällen sinnlos. Ein klinisch relevanter Mangel an Vitamin C ist sehr selten, weil selbst bei einer massiven Fehlernährung Produkte der Lebensmittelindustrie aufgenommen werden, denen synthetische Ascorbinsäure als Anti­oxidans zugesetzt wurde. Ascorbinsäure ist instabil, was zu besonderen Anforderungen an die Präanalytik führt, insbesondere einen tiefgefrorenen und lichtgeschützten Transport der Probe. Die Interpretation der Befunde ist problematisch, da Vitamin C in die Kompartimente umverteilt wird, in denen es als Antioxidans gebraucht wird. So finden sich bei Rauchern deutlich höhere Spiegel in der Alveolarflüssigkeit als im Serum [4].

Vitamin B1: Die Messung von Thiamin-Spiegeln liefert valide Werte, die allerdings als Momentaufnahmen zu werten sind. Hierbei handelt es sich um das Vitamin, das den Körper am schnellsten wieder verlässt. Der Thiamin-Mangel wurde in Südostasien als die Krankheit Beri-Beri entdeckt, die sich in dry Beri-Beri (neurologische und kognitive Ausfälle, zum Teil irreversibel) und wet Beri-Beri (Herzinsuffizienz) aufgliedert. In den westlichen Industrieländern ist ein klinisch manifester Thiamin-Mangel in seinem neurologischen Erscheinungsbild unter den Namen Wernicke-Enzephalitis bzw. Wernicke-Korsakoff-Syndrom beim Alkoholiker bekannt, während ein Zusammenhang mit Herzinsuffizienz oft nicht hergestellt wird. Dabei gelten 20 bis 30% der Senioren als unterversorgt, beim Vorliegen einer Herzinsuffizienz besteht (je nach Studie) in 20 bis 98% ein Mangel. Eine mög­liche Ursache für die teilweise hohen Zahlen besteht darin, dass die bei Herzinsuffizienz leitliniengerecht eingesetzten Schleifendiuretika die Ausscheidung von Thiamin beschleunigen [4]. Wenn in dieser Konstellation durch Fehlernährung oder hohen Alkoholkonsum nicht ausreichend Thiamin aufgenommen wird, kann möglicherweise ein Teufelskreis entstehen, bei dem die Schleifendiuretika zwar die Symptome mildern, aber durch den von ihnen geförderten Thiamin-Mangel das Fortschreiten der Herzinsuffizienz beschleunigen. Weder in der Praxis noch in der Klinik werden Thiamin-Spiegel ausreichend oft gemessen. Valide Daten darüber, wie z. B. ein latenter Thiamin-Mangel das postoperative Outcome beeinflusst, liegen kaum vor. Die Erkenntnislage beschränkt sich auf Extremfälle. In einem dieser Fälle verurteilte das Oberlandesgericht Braunschweig das Uniklinikum Göttingen zu einem Schadensersatz von 1,7 Millionen Euro, weil man dort über einige Wochen hinweg vergessen hatte, zu einer parenteralen Ernährung Vit­amine und Spurenelemente hinzuzufügen. Der dadurch verursachte Thiamin-Mangel hatte bei der betroffenen Patientin irreversible neurologische Schäden verursacht.

Folsäure: Für die Messung der Folsäure-Spiegel besteht bei uns ein großer Bedarf, da die Deutsche Gesellschaft für Ernährung weite Teile der Bevölkerung als unterversorgt ausweist. Grund dafür ist die Instabilität des Moleküls, das durch Licht, Hitze und Sauerstoff schnell abgebaut wird. Hinzu kommt die gute Wasserlöslichkeit, die bei der Zubereitung von Nahrungsmitteln zu einem Verlust ins Kochwasser führt. Die Analytik liefert valide Werte, deren Interpretation in Einzelfällen aber schwierig sein kann. Die Bestimmung der Folsäure in Erythrozyten ist aussagekräftiger als im Serum, wird jedoch selten durchgeführt. Bei einem Aussetzen der Zufuhr wird Folsäure aus Geweben mit geringem Bedarf in Gewebe mit hohem Bedarf umverteilt. Dazu wird das Vitamin zunächst ins Blut abgegeben, was bei einem neu entstehenden Mangel zu einer Erhöhung der messbaren Spiegel führt [4]. Da Folsäure zumeist im Rahmen einer Anämiediagnostikgemessen wird und bei den meisten Anämiepatienten ein über lange Zeit bestehender chronischer Mangel vorliegt, ist dieses paradoxe Verhalten in der Kinetik des Vitamins jedoch nur selten relevant.

Vitamin B12: Bei der Bestimmung von Vitamin B12 selbst werden inaktive Metaboliten mitgemessen. Dies führt dazu, dass in einigen Fällen die Spiegel noch im unteren Viertel des (auffällig breiten) Referenzbereichs lagen, während die Patienten bereits deutliche neurologische Ausfallerscheinungen und makrozytäre Anämien zeigten. Der deutlich zuverlässigere, aber auch teurere Parameter ist das Gesamt-Transcobalamin (Holo-TC), das eine genauere Korrelation zwischen Serumspiegel und klinischer Symptomatik ermöglicht [5, 6]. Dennoch muss auch hier, wie auch bei einer Reihe anderer Mikronährstoffe (s. u.), berücksichtigt werden, dass Vitamin B12 in der Leber gespeichert wird. Hier ist es einer Messung nicht zugänglich. Ein deutliches Sinken der Blutspiegel tritt in solchen Fällen erst ein, wenn die Depots in der Leber bereits weitgehend erschöpft sind. Wenn sich also z. B. ein Veganer, der praktisch kein Vitamin B12 mit der Nahrung aufnimmt, aufgrund von Blutspiegeln, die sein Hausarzt gemessen hat, in Sicherheit wiegt, kann dies durchaus trügerisch sein. Die ­Frage, ob man bei diesen Kunden Vitamin B12 nicht lieber gleich substituieren sollte, ist naheliegend. Gleiches gilt für Patienten unter Langzeittherapie mit Protonenpumpeninhibitoren. Die von Gomm et al. 2016 publizierten Daten aus einer retrospektiven Auswertung, denen zufolge diese Patienten ein um 44% erhöhtes Risiko für die Diagnose Demenz hatten, stehen mit großer Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit einem Mangel an Vitamin B12 [7].

Weitere B-Vitamine: Die Bestimmung von Serumspiegeln ist bei den meisten sonstigen B-Vitaminen (Vitamin B2, B3, B6) selten sinnvoll, weil ein isolierter Mangel kaum vorkommt. Bei speziellen Fragestellungen – wie der Diagnostik seltener Gendefekte – stehen jedoch neben einer direkten Messung auch indirekte Methoden zur Verfügung, bei denen Enzymaktivitäten ausgewertet werden, die von Vitaminen als Cofaktoren abhängen [4]. Aus der Sicht der klinischen Chemie ist Biotin ein Sonderfall, weil bei einer hoch dosierten Gabe, wie sie in der orthomolekularen Medizin gelegentlich vorkommt, eine Beeinflussung von Labor­parametern beschrieben ist. Hochsensible Analyseverfahren, die beispielsweise in der frühen Diagnostik des akuten Koronarsyndroms (hs-Troponin I bzw. hs-Troponin T) eingesetzt werden, arbeiten mit biotinylierten Antikörpern. Zum Zeitpunkt der Blutabnahme im Überschuss vorliegendes Biotin kann diese Bestimmung stören [5]. Eine Meldung der Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker vom 12. März 2019 zitiert einen Fall, in dem ein Patient mit multipler Sklerose in den USA verstarb, weil aufgrund von Biotin-­Gaben ein Herzinfarkt in der Troponin-Diagnostik nicht erkannt wurde [10].

Fettlösliche Vitamine

Vitamin A: Den gemessenen Werten fehlt jede Aussagekraft, da die Homöostase dafür sorgt, dass die Blutspiegel bis kurz vor der völligen Entleerung der hepatischen Speicher konstant bleiben [4]. Andererseits muss vor einer unkritischen Substitution über die empfohlenen Tagesdosierungen hinaus gewarnt werden, weil die Überdosierung von Vitamin A sehr schnell toxikologisch relevant wird.

Vitamin D: Gemessen daran, dass Vitamin D nicht nur eine Rolle im Knochenstoffwechsel spielt, sondern ein Mangel unter anderem auch zu einer erhöhten Anfälligkeit für pulmonale Infekte und chronische Schmerzen führt, werden die Plasmaspiegel eher zu selten bestimmt. Dies gilt insbesondere in der Geriatrie, da die Synthesekapazität der Haut im Alter drastisch abnimmt [4]. Die Messung liefert eine klare Aussage über den Status, allerdings stellt sich angesichts der insbesondere im Winter schlechten Versorgung der deutschen Bevölkerung die Frage, ob im unteren Referenzbereich nicht bereits ein subklinischer Mangel vorliegt. Entsprechend umstritten ist die Frage nach dem idealen Spiegel. Ab 150 nmol/l beginnt der Bereich, in dem mit toxikologischer Relevanz gerechnet werden muss. Insbesondere bei Substitution von Vitamin D bei zusätzlicher Gabe von Calcium und Thiazid-Diuretika sind in den Interaktions-Datenbanken gravierende Hyperkalzämien beschrieben.

Vitamin E: Die Bestimmung von Vitamin-E-Spiegeln ist selten sinnvoll, da ein Mangel sehr selten ist und am ehesten in Zusammenhang mit angeborenen oder erworbenen Krankheiten auftritt. Wie bei Vitamin C kommt es auch hier zu Umverteilungen in Gewebe mit antioxidativem Bedarf, bei Rauchern also aus dem Blut in die Lunge [4].

Vitamin K: Eine direkte Bestimmung ist nicht üblich, als indirekter Parameter steht die Prothrombinzeit (PTT) zur Verfügung.

Spurenelemente

Eisen: Eine isolierte Bestimmung des Serum-Eisenspiegels ist wegen der erheblichen zirkadianen Schwankungen zur Klärung des Status der Eisen-Speicher nicht sinnvoll [4, 5, 9]. Eisen spielt heute nicht mehr nur in der Anämiediagnostik eine Rolle. Seit ein Hersteller eines parenteralen Eisen-Präparats, basierend auf einer dürftigen Studienlage, dafür aber mit enormem Marketingdruck, einen Benefit unter anderem bei der Herzinsuffizienz auch ohne Vorliegen einer Anämie postuliert, wird der Eisen-Status vor allem in Kliniken zu einer Frage der Indikationsstellung für einen zunehmenden Kostenfaktor innerhalb des Arzneimittel­budgets. Die Parameter und Fallen der Anämie- und Eisen-Diagnostik sind in Tabelle 1 dargestellt und diskutiert.

Tab. 1: Auffällige Werte im Laborbefund einer geriatrischen, herzinsuffizienten Patientin, der unter anderem mit der Fragestellung erstellt wurde, ob eine hoch dosierte parenterale Eisen-Substitution indiziert ist.
Parameter
Norm­bereich
Datum
22.01.19
25.01.19
26.01.19
27.01.19
28.01.19
Erythrozytenzahl
4,1 – 5,1/pl
2,7 (-)
2,7 (-)
2,6 (-)
2,8 (-)
3,0 (-)
Hämoglobin (Hb)
12,0 – 16,0 g/dl
8,9 (-)
9,1 (-)
8,4 (-)
9,1 (-)
9,5 (-)
Hämatokrit (Hkt)
36,0 – 48,0%
29,5 (-)
29,6 (-)
26,2 (-)
28,8 (-)
30,6 (-)
MCV
80,0 – 96,0 fl
108,3 (+)
109,2 (+)
102,6 (+)
102,6 (+)
103,3 (+)
MCH
28,0 – 33,0 pg
32,7
33,6 (+)
32,9
32,4
32,1
MCHC
32,0 – 36,0 g/dl
30,2 (-)
30,8 (-)
32,1
31,6 (-)
31,1 (-)
Chemie
BNP
< 100 ng/l
634 (+)
CRP
< 5,0 mg/l
19,7 (+)
22,9 (+)
22,1 (+)
20,3 (+)
Creatinin
0,6 – 1,1 mg/dl
1,2 (+)
1,7 (+)
1,5 (+)
1,3 (+)
GFR CKD-EPI
> 60 ml/min
40 (-)
27 (-)
33 (-)
37 (-)
Harnstoff
21 – 43 mg/dl
40
56 (+)
57 (+)
Harnsäure
2,6 – 6,0 mg/dl
7,0 (+)
GGT
9 – 36 U/l
291 (+)
278 (+)
288 (+)
AP
35 – 104 U/l
165 (+)
144 (+)
LDH
125 – 220 U/l
230 (+)
Eisen
40 – 145 µg/dl
38 (-)
Transferrin
173 - 360 mg/dl
199
Transferrinsättigung
16 – 45%
14 (-)
Holo-TC
25,1 – 165,0 pmol/l
> 256,0 (+)

Am Stichtag 22.01. beträgt der Hb-Wert 8,9 mg/dl, eine Anämie liegt vor. Das Volumen der Erythrozyten (MCV) ist erhöht, MCH (Hämoglobingehalt der Erythrozyten) dagegen im Normbereich, was auf eine Vitaminmangel-Anämie hindeutet. Bei einer reinen Eisenmangel-Anämie wären MCV und MCH erniedrigt (mikrozytäre, hypochrome Anämie). Ferritin wurde bei Vorliegen einer Entzündung (erkennbar am moderat erhöhten CRP-Wert) nicht gemessen, da Ferritin als ein Akutphasenprotein bei Entzündungen immer erhöht ist und damit sind die Werte nicht verwertbar. Der Serum-Eisenspiegel unterliegt erheblichen zirkadianen Schwankungen, der Parameter ist für sich allein nicht aussagekräftig. Transferrin ist bei Eisen-Mangel induziert, das heißt der Wert ist erhöht. Es ist jedoch ein Anti-Aktutphasenprotein, das heißt bei Entzündungen erniedrigt [9]. Aus den Werten für Serum-Eisen und Transferrin errechnet sich die Transferrin-Sättigung, die bei Eisen-Mangel oft unter 10% liegt. Bei Entzündungen und folglich erniedrigtem Transferrin ist zu berücksichtigen, dass die Transferrin-Sättigung tendenziell zu hoch angegeben wird. Bei schweren Infektionen (stark erhöhten CRP-Werten) sollte mit der Diagnostik des Eisen-Mangels bis zur weitgehenden Normalisierung des CRP-Werts gewartet werden, zumal eine parenterale Eisen-Gabe bei Infektionen relativ (bzw. bei Sepsis absolut) kontraindiziert ist. Bei Verdacht auf Vitaminmangel als Anämieursache werden Folsäure und Holo-TC (nicht Vitamin B12!) bestimmt. Die hier stark erhöhten Holo-TC-Werte entstehen typischerweise als Artefakt, wenn mit der (meist hoch dosierten parenteralen) Substitution von Vitamin B12 vor der Bestimmung begonnen wurde – ein Indiz dafür, dass der anordnende Arzt an dieser Stelle nicht mitgedacht hat. Die Bestimmung der Werte für Serumkreatinin liefert einen Hinweis auf mögliche renale Ursachen der Anämie (Erythropoietin). Zu beachten ist jedoch, dass bei geringer Muskelmasse der Serumkreatinin-Spiegel niedrig ist und die Nierenfunktion daher überschätzt wird [5]. AP: alkalische Phosphatase; BNP: brain natriuretic peptide, B-Typ Natriuretisches Peptid; CRP: C-reaktives Protein; GFR CKD-EPI: glomeruläre Filtrationsrate, bestimmt nach der CKD-EPI-Formel der Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration; GGT: Gamma-Glutamyl-Transferase; LDH: Laktat-Dehydrogenase; Holo-TC: Holo-Transcobalamin; MCV: mean corpuscular volume, mittleres Volumen eines Erythrozyten; MCH: mean corpuscular haemoglobin, durchschnittlicher Hämoglobin-Gehalt eines Erythrozyten; MCHC: mittlere korpuskuläre Hämoglobin-Konzentration

Selen: Wenige Mikronährstoffe sind hinsichtlich ihrer anzustrebenden Konzentrationen im Organismus mit solchen Unsicherheiten behaftet wie Selen. Während Selen in Nahrungsergänzungsmitteln als anorganisches Natriumselenit zugeführt wird, liegt es in der Natur in Form von Selenoproteinen vor, in denen es anstelle von Schwefel in Methionin oder Cystein eingebaut ist. Eine Bestimmung ist dadurch nur in­direkt in Form von Selenoprotein P oder der Aktivität der Glutathionperoxidase sinnvoll [4], atomabsorptionsspektroskopische Methoden erfordern den vorherigen oxidativen Aufschluss der Probe [8]. Aus den Messungen weiß man, dass ab einer täglichen Zufuhr von 55 µg Selen ein Plateau der Serumspiegel erreicht wird [4]. Daher wird eine tägliche Zufuhr von ca. 50 µg Selen als ideal definiert, während der toxikologisch relevante Bereich ab einer täglichen Zufuhr von ca. 500 µg Selen erreicht wird. Bekannt ist, dass Mitteleuropa sehr Selen-arme Böden hat und damit theoretisch ein Selen-Mangel bei regional-saisonaler Ernährung möglich ist. Als gesichert kann das keinesfalls gelten, zumal die Selen-Zufuhr der Deutschen in der Nationalen Verzehrs­studie II gar nicht erfasst wurde.

Zink: Dieses Spurenelement ist ein weiteres Beispiel für Mikronährstoffe, deren Plasmaspiegelbestimmung möglich, aber sinnlos ist, weil die Homöostase bis kurz vor der kompletten Leerung der hepatischen Speicher für konstante Blutspiegel sorgt [4].

Fazit

Auch wenn die klinische Chemie die Spiegelbestimmungen vieler Mikronährstoffe anbietet, sind nur wenige Parameter sinnvoll und zielführend hinsichtlich einer diagnostischen Aussage bzw. hinsichtlich der Indikationsstellung für eine gezielte Substitution. Einige Parameter sind sogar in einem für den Patienten riskanten Ausmaß irreführend. Ein Beispiel dafür ist Vitamin B12. Wird hier nicht das Gesamt-Transcobalamin (Holo-TC) gemessen, das eine genauere Korrelation zwischen Serumspiegel und klinischer Symptomatik ermöglicht, sollte man sich hier im Sinne des Verbraucherschutzes die Frage stellen, ob man den Verbraucher tatsächlich schützt oder ob man ihn durch allzu pauschale Aussagen eher gefährdet. Andererseits gibt es Parameter, die hinsichtlich eines Substitutionsbedarfs durchaus aussagekräftig sind, in der Praxis aber viel zu selten gemessen werden. Als klassisches Beispiel sei Thiamin beim herzinsuffizienten, auf Schleifendiuretika eingestellten Patienten genannt.

Wenn die Messung von Mikronährstoff-Spiegeln also meist kein Lösungsansatz ist, einerseits bei verschiedenen Popu­lationen ein hohes Mangelrisiko besteht und andererseits Nahrungsergänzungsmittel, wie einige Studien zeigen, das Leben eher verkürzen als verlängern – was bleibt dann als Handlungsempfehlung? Hier muss die Studienlage kritisch hinterfragt werden. Alle Studien, die eine erhöhte Mortalität durch Mikronährstoffe nahelegen, beziehen sich auf im Durchschnitt deutlich überhöhte Dosierungen. Es gibt keinen belastbaren Beweis dafür, dass die Substitution eines Mikronährstoffs in Höhe der empfohlenen Tagesaufnahme das Leben verkürzt. Auch die Frage des Studiendesigns ist hier relevant. Wenn etwa die Iowa Women’s Health Study aussagt, dass die Substitution von Vitamin D keinen Benefit (aber auch keinen Schaden) erbrachte, stellt sich die Frage nach der geografischen Lage von Iowa – es liegt auf demselben Breitengrad wie Italien. Damit ist es so von der Sonne gesegnet, dass auch im Winter noch ausreichend Vitamin D in der Haut gebildet werden kann, um zumindest den für das nördliche Deutschland typischen Einbruch der Spiegel zu verhindern.

Der vorliegende ­Beitrag wurde nach den Vorträgen „Spiegelbestimmung von Mikronährstoffen – Was ist sinnvoll, was nicht?“ des Arbeitskreises „Ernährung“ beim WIPIG – Wissenschaftliches Institut für Prävention im Gesundheitswesen am 24. und 25. November 2018 in München und Nürnberg erstellt.

Das sind nur einige von vielen Beispielen dafür, dass pauschale und vereinfachende Aussagen, wie sie insbesondere für den unterbezahlten (weil fachlich für das jeweilige Thema unterqualifizierten) High-Output-Journalisten zum Tagesgeschäft gehören, kritisch hinterfragt werden müssen. Um es mit Albert Einstein zu sagen: „Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher.“ |

Literatur

 [1] Mursu J et al. Dietary supplements and mortality rate in older women: the Iowa Women’s Health Study. Arch Intern Med 2011;171(18):1625-1633

 [2] Goodman GE et al. The Beta-Carotene and Retinol Efficacy Trial: incidence of lung cancer and cardiovascular disease mortality during 6-year follow-up after stopping beta-carotene and retinol supplements. J Natl Cancer Inst 2004;96(23):1743-1750

 [3] Nationale Verzehrsstudie II - Ergebnisbericht Teil 1. Stand: 30. Januar 2008. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), www.bmel.de

 [4] Biesalski HK. Vitamine und Minerale. Thieme Verlag 2016

 [5] Kupka D, Zieglmeier M. Laborparameter in der Apotheke - Praxis­wissen für die Arzneimitteltherapie. Avoxa 2018

 [6] Herrmann W, Obeid R. Ursachen und frühzeitige Diagnostik von Vitamin-B12-Mangel. Deutsches Ärzteblatt 2008;105(40):680-685

 [7] Gomm W et al. Association of Proton Pump Inhibitors With Risk of Dementia. JAMA Neurol 2016;73(4):410-416

 [8] Rükgauer M. Labordiagnostik von Spurenelementen. In: Thomas L. Labor und Diagnose. TH-Books Verlagsges. Frankfurt 2008

 [9] www.Laborlexikon.de

[10] BfArM: Mögliche Interferenz bei klinischen Laboruntersuchungen durch Biotin-haltige Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel. AMK-Meldung. DAZ 2019;11:41

Autor

Dr. Markus Zieglmeier, Apotheker, studierte Pharmazie an der LMU in München und ist seit 1989 in der Apotheke des Klinikums München-Bogenhausen tätig; Promotion zum Dr. rer. biol. hum.; Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Zusatzbezeichnungen: Medikationsmanager BA KlinPharm, Ernährungsberatung und Geriatrische Pharmazie. Seit 2002 ist er verstärkt als Referent und Autor tätig.

München-Klinik, Apotheke Klinikum Bogenhausen, 
Englschalkinger Str. 77, 81925 München, 
mzieglmeier@gmail.com

autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

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