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Wirtschaft
Wer hat Angst vor Amazon?
Der Online-Gigant entdeckt den Gesundheitssektor
Es waren nur ein paar beschriebene Seiten Papier, die vor einigen Monaten in Umlauf kamen und von einigen Medien und Handelsexperten aufgegriffen wurden. Doch der Inhalt, sachlich und nüchtern vorgetragen, hat es in sich: Er besagt nicht weniger, als dass Amazon – immerhin der weltgrößte Onlineversandhändler – nicht nur das globale Geschäft mit Büchern, Elektroartikeln und Spielzeug wesentlich beeinflusst, sondern künftig auch im Gesundheitswesen eine große Rolle spielen dürfte. Amazon, so die Annahme, stehe dort vor großen und entscheidenden Schritten.
Zu diesem Schluss kommen die Marktbeobachter der Analysefirma Globaldata. „Amazon hat bereits erfolgreich gezeigt, dass es in der Lage ist, Produkte extrem schnell an die Verbraucher zu liefern. Jetzt hat der Konzern das Potenzial, die hohen Ausgaben für die Behandlung chronischer Krankheiten deutlich zu senken und die Primärversorgung als auch die Belieferung mit Pharmazeutika zu verbessern“, stellt Pavan Kottamasu, Senior Pharma Analyst von Globaldata, fest. Er hält es für möglich, dass Amazon mit seiner Expertise und Infrastruktur das Gesundheitssystem der USA, aber auch anderer Länder, effizienter machen und dabei selbst eine starke Position in der Branche einnehmen könnte.
Ähnlich sehen das die Analysten des New Yorker Unternehmens CB Insights in ihrem Healthcare 2025 Research Briefing. Sie kommen zu dem Schluss, dass Amazon seine Expertise nutzen könnte, „um alle Bereiche von der pharmazeutischen Versorgung bis zum Medikamentenmanagement auf den Kopf zu stellen“. Den existierenden Unternehmen im Gesundheitsbereich dürfte das ziemliche Kopfschmerzen bereiten, resümieren die CB Insights-Autoren – wohl zu Recht. So wies der Vorstandsvorsitzende des Arzneimittelhändlers Noweda, Michael P. Kuck, auf der Generalversammlung im November 2018 darauf hin, dass Amazon ein Projektteam mit dem Namen 1492 gegründet habe. Offenbar, so Kuck, erschien den Amazon-Verantwortlichen der Vergleich mit dem Jahr der Entdeckung und der damit beginnenden Erschließung Amerikas angemessen. Der Auftrag des Projektteams 1492 laute jedenfalls, jetzt auch die Gesundheitsbranche für Amazon zu erschließen.
Starke Aktivitäten im letzten Jahr
Tatsächlich hat Amazon insbesondere in den vergangenen zwölf Monaten durch eine Reihe von strategischen Entscheidungen, Akquisitionen und Produktentwicklungen gezeigt, dass der Konzern auch im stark umkämpften Gesundheitsbereich eine deutlich sichtbare Rolle spielen will. So hat der Konzern Anfang 2018 bekanntgegeben, gemeinsam mit der Investmentfirma Berkshire Hathaway und der Großbank JPMorgan eine Krankenversicherung gründen zu wollen – in einer ersten Stufe für die insgesamt 1,2 Millionen Mitarbeiter dieser Firmen in den USA, in einer zweiten Stufe aber möglicherweise auch für alle US-Amerikaner. Dadurch, so die Hoffnung, könnten die Kosten der Gesundheitsversorgung sinken und deren Effizienz verbessert werden. Der Investmentprofi und Vorstandschef von Berkshire Hathaway, Warren Buffett, ließ jedenfalls verlauten: „Die immer stärker steigenden Gesundheitskosten wirken wie ein hungriger Bandwurm in der amerikanischen Wirtschaft. Wir akzeptieren das nicht als unvermeidlich.“
Im Februar 2018 präsentierte das Unternehmen dann eine exklusive Reihe an rezeptfreien Gesundheitsprodukten namens Basic Care. Darüber hinaus stellte der E-Commerce-Riese mehrere Fachleute aus der Gesundheits- oder Pharmaindustrie ein, was Externe als Signal für die Ambitionen des Unternehmens in diesem Bereich werteten. Nach Angaben des US-Wirtschaftssenders CNBC beschäftigt der Konzern in den USA zudem Mitarbeiter, die medizinische Artikel an Arztpraxen und Krankenhäuser verkaufen. Auch für den Sprachassistenten Alexa soll es ein Gesundheitsteam geben.
Pillpack-Deal – ein Frontalangriff
Eine markante Duftmarke setzte Amazon schließlich im Juni 2018, als der Konzern den Kauf der Bostoner Online-Apotheke Pillpack für knapp eine Milliarde Dollar bekanntgab. Branchenexperten wie Globaldata-Analyst Kottamasu sehen darin einen klaren Beleg, dass Amazon seine Ambitionen im Gesundheitssektor ausgesprochen ernst meint. Tatsächlich handelt es sich bei dem Pillpack-Deal um einen Frontalangriff auf die etablierten US-Arzneimittelversender. Unmittelbar nach der Ankündigung der Übernahme brachen die Aktienkurse großer US-Apothekenketten wie Walgreens, Rite Aid und CVS Health massiv ein.
Damit nicht genug: Im November 2018 wurde bekannt, dass Amazon gemeinsam mit dem Medizinprodukte-Hersteller und Beratungsunternehmen Arcadia Group eine neue Gesundheitsmarke mit dem Titel „Amazon Choice“ entwickelt. In erster Linie handelt es sich dabei um Blutzucker- und Blutdruckmessgeräte, die von Arcadia hergestellt und exklusiv über die Amazon-Verkaufsplattform vertrieben werden sollen.
Auch mithilfe der Künstlichen Intelligenz drängt der Konzern in den Gesundheitsbereich. So will das Unternehmen mit einem maschinellen Lerndienst die Analyse von Patientenakten erleichtern. Der Dienst, den das Unternehmen im November in Las Vegas vorstellte, heißt Amazon Comprehend Medical, extrahiert medizinische Daten aus Patientenakten und soll Ärzten, Apothekern sowie Versicherungen und Pharmaforschern helfen, schneller passende Behandlungen zu finden und damit Geld zu sparen. Zudem soll der neue Service die Verwaltung von klinischen Studien erleichtern.
Comprehend Medical wird von Fachleuten als das größte selbst entwickelte Gesundheitswerkzeug von Amazon gesehen und liefert einen deutlichen Hinweis, was der Konzern in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Cloud-Technologie leisten kann. So wird erwartet, dass der Konzern mithilfe seiner Technologien die Kommunikation von Ärzten, Apothekern und Versicherungen mit den Patienten in Zukunft deutlich verändern wird.
Wer glaubt, der Online-Konzern würde sich mit derartigen Ausflügen in den Gesundheitsbereich vor allem jenseits des Atlantik austoben, wird zunehmend eines Anderen belehrt. So sucht Amazon hierzulande bereits seit Längerem die Nähe zu Pharmazeuten. Die Münchener Bienen-Apotheke bedient sich seit Mai 2017 der schnellen Liefermöglichkeiten des Amazon Prime Now-Dienstes, während zahlreiche andere Apotheker die Online-Plattform nutzten, um darüber apothekenpflichtige Arzneimittel zu vertreiben. Das allerdings versucht ihnen der Münchener Apotheker Hermann Vogel jr. mittels Abmahnungen und exemplarischer Gerichtsverfahren auszutreiben. Seine Argumentation: Beim Verkauf von Arzneimitteln via Amazon sei der Datenschutz der Kunden nicht hinreichend gewährleistet. Daher müsse diese Art des Marketings gestoppt werden – offenbar mit Erfolg: In den bisherigen Gerichtsverfahren hatte er die Richter auf seiner Seite.
Auch Händler und Geschäftsinhaber, die darauf setzen, dass Amazon überwiegend in der digitalen Welt unterwegs ist, müssen sich auf Gegenwind einstellen. Während der Konzern in den USA mittlerweile eigene Buchläden betreibt und Supermärkte testet, in denen Kunden digital, bargeldlos und ohne Anwesenheit von Kassierern einkaufen können, poppte in der Vorweihnachtszeit 2018 auf dem Berliner Ku’damm, immerhin der wichtigsten Einkaufsstraße der Stadt, für einige Tage plötzlich ein wahrhaftiger Amazon-Store auf. In dem konnten die Kunden Waren begutachten, anfassen und testen, ehe sie diese über die Amazon-Webplattform bestellten. Der Name des Ladens war Programm: Pop-Up Store.
Marktmacht in Deutschland
Die Marktmacht von Amazon im deutschen Handel haben kürzlich Wissenschaftler der Universität St. Gallen ermittelt. In ihrem „Amazon Watch Report“ haben sie berechnet, wie groß die Dominanz des Konzerns in bestimmten Bereichen ist. Demnach liegt sie bei Büchern mit sieben von zehn möglichen Punkten am höchsten. Hier bringt es Amazon auf einen Marktanteil von fast 20 Prozent. Doch auch bei Spielwaren, Babyartikeln, Sport & Freizeit sowie Elektronik & Computern kommt das Unternehmen auf Marktanteile von mehr als 16 Prozent. Am geringsten ist demnach die Dominanz in den Bereichen Drogerie & Beauty, Kleidung & Schuhe sowie Lebensmittel. Soweit der Ist-Zustand.
„Der Report zeigt, dass die Marktmacht von Amazon zur Bedrohung für viele Händler geworden ist. Der Konzern strebt nach immer größerer Dominanz“, so Payback-Geschäftsführer Dominik Dommick. Es ist anzunehmen, dass das auch für den Gesundheitssektor gilt.
Mit dem zunehmenden Einfluss von Amazon in verschiedenste Wirtschafts- und Lebensbereiche steigen auch die Sorgen um die Sicherheit der Kundendaten. So berichtete die US-Zeitung „The Wall Street Journal“ im September 2018, dass das Unternehmen Hinweisen nachgehe, wonach Mitarbeiter sensible Informationen von Kunden an Onlinehändler verkauft und negative Bewertungen gelöscht haben sollen.
Mit Amazons zunehmender Präsenz im Gesundheitssektor wird dieses Thema noch virulenter, denn Patientendaten sind besonders sensibel und verräterisch.
Der große Schritt von Amazon auf den europäischen und deutschen Gesundheitsmarkt könnte allerdings noch bevorstehen. Vor einigen Monaten räsonierten Beobachter, dass der Konzern auch in den hiesigen Vertrieb mit Arzneimitteln einsteigen könnte. Passend dazu erklärte der Chef des Schweizer-Onlineapothekenkonzerns Zur Rose, Walter Oberhänsli, dass er eine Übernahme seines Unternehmens und damit auch der Tochter DocMorris durch einen Wettbewerber wie Amazon nicht ausschließen könne.
Diese Indikation bestärkte im Herbst 2018 auch der belgische Unternehmer Mike Vandenhooft, Betreiber der belgischen Onlineapotheke Newpharma. In einem Interview gab er zu verstehen, dass sich Amazon „auf längere Sicht“ durch die Übernahme von DocMorris oder Shop Apotheke Europe eine starke Position im hiesigen Arzneimittel-Versandgeschäft verschaffen könnte.
Das wäre eine weitere markante Duftmarke von Amazon, die die Arzneimittel-Handelslandschaft stark verändern dürfte. Ob diese der Branche allerdings gut bekommt, daran hat Noweda-Chef Kuck seine Zweifel. Vor den Mitgliedern der Apothekergenossenschaft sagte er auf der jüngsten Generalversammlung: „Wenn Amazon sich eine Branche vornimmt, dann geht es nicht um Wettbewerb. Dann geht es um alles.“ |
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