Arzneimittel und Therapie

Seltener besetzt

Erste Leitlinie zur interstitiellen Zystitis soll Diagnose und Therapie verbessern

Patienten mit interstitieller Zystitis können aufatmen. Vor einigen Wochen ist die erste deutschsprachige S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der schwer diagnostizierbaren Erkrankung erschienen. Die interdisziplinäre Leitlinie ist federführend von der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) unter Beteiligung verschiedener Fach­gesellschaften und Organisationen entstanden, mit dem Ziel, den Leidensdruck der Patienten zu lindern.

Bei der interstitiellen Zystitis (IC) handelt es sich um eine nichtinfektiöse chronische Entzündung der Harnblasenwand, die geprägt ist vom Symptomenkomplex des Blasenschmerzsyndroms (Bladder Pain Syndrome, BPS). Sie wird bis heute relativ selten diagnostiziert. Die Dunkelziffer ist unbekannt und gilt als sehr hoch. Die Erkrankung kommt mit der höchsten Prävalenz bei Menschen mittleren Alters vor, kann jedoch in allen Altersklassen auftreten. Frauen sind neunmal häufiger betroffen als Männer; 52 bis 500 pro 100.000 Frauen leiden an einer interstitiellen Zystitis.

Bis zu 60 Toilettengänge am Tag

Schmerzen im Unterbauch und im Beckenboden sowie ein häufiger bis ständiger Harndrang sind typisch für die Erkrankung. Mitunter müssen Betroffene bis zu 60-mal täglich die Toilette aufsuchen. Oft erfolgt die Miktion nur tropfenweise und unphysiologisch mit Unterstützung der Bauchpresse. Der Leidensdruck bei den Betroffenen ist groß. In vielen Fällen kommt es zu massiven Problemen im Alltag und einer deutlich eingeschränkten Lebensqualität mit psychosomatischen Veränderungen. Soziale Isolation und Erwerbsunfähigkeit sind die Folge.

Foto: photobow – stock.adobe.com

Zielgerichtete Diagnostik

Die Symptome überschneiden sich mit denen anderer Erkrankungen, bei denen eine hypersensitive Blase im Vordergrund steht. Oft haben die Betroffenen eine jahrelange Odyssee an Arztbesuchen hinter sich, bis sie die rich­tige Diagnose erhalten. Aufgrund der ähnlichen Symptomatik kommt es besonders im Frühstadium häufig zu Fehldiagnosen, wie chronisch unkomplizierte Harnwegsinfektion oder Reizblase. Spezielle Frage- und Dokumen­tationsbögen sowie das Führen eines Schmerztagebuches und einer Miktionsstatistik können bei der differenzialdiagnostischen Abklärung hilfreich sein. Für eine zielgerichtete Diagnostik werden darüber hinaus weitere Untersuchungsmethoden (z. B. Zystoskopie) empfohlen, die zum Teil auch zwischen den beiden vorkommenden Subtypen, „Hunner-Typ“ (mit ulzerativen Läsionen der Harnblase) und „Nicht-Hunner-Typ“, unterscheiden können.

Lebensmittel unter Verdacht

Die Ursachen der Erkrankung sind individuell unterschiedlich, oft vielfältig und bis zum heutigen Zeitpunkt nicht geklärt. So ist vermutlich eine anfängliche Schädigung des Urothels für die Veränderung der Glykosaminoglykan (GAG)-Schicht verantwortlich. Dadurch können reizende Substanzen aus dem Urin in die Submukosa und tiefere Schichten der Harnblasenwand gelangen. Harnblasenschleimhautdefekte führen zu einer erhöhten Harnblasensensitivität und zu Schmerzen.

Bei IC/BPS-Patienten fanden sich zudem hohe Konzentrationen an Ent­zündungsmarkern und zum Teil eine Überexpression von entzündungsfördernden Genen. Auch exogene Faktoren spielen offensichtlich eine Rolle bei der Entstehung der interstitiellen Zystitis. Nahezu 90% der Betroffenen klagen über Unverträglichkeiten gegenüber Lebensmitteln. Besonders säurehaltige Nahrungsmittel wie Zitrusfrüchte, Essig und Tomaten, Kaffee, Tee sowie kohlensäurehaltige und alkoholische Getränke, aber auch Zucker­austauschstoffe scheinen die Symptome zu begünstigen. Möglicherweise ist die interstitielle Zystitis auch Ausdruck einer Histaminintoleranz.

Multimodales Therapiekonzept

Wichtiger Bestandteil der Therapie sind konservative Maßnahmen, wie

  • Lebensstiländerungen (z. B. angepasste Kleidung, Stressreduktion, Vermeidung von Unterkühlung, Blasentraining)
  • Ernährungsumstellung (Histamin- und säurearm sowie Identifizierung von Unverträglichkeiten mittels Ausschlussdiät)
  • psychologische Betreuung und
  • Physiotherapie.

Für die orale medikamentöse Therapie stehen unterschiedliche Arzneimittel zur Verfügung (s. Kasten). Es ist jedoch zu beachten, dass es sich dabei meist um Off-Label-Use handelt. Auch ein intravesikaler Therapieansatz (Blaseninstallation) ist möglich. Dabei werden hohe Konzentrationen eines Medikaments direkt in die Harnblase eingebracht. Systemische Neben­wirkungen werden weitgehend vermieden. Geeignet dafür sind Mittel, die die GAG-Schicht der Harnblasenschleimhaut regenerieren können (Heparin, Hyaluronsäure, Chondroitin-Sulfat) oder lokalanästhetische Substanzen (Lidocain).

Orale medikamentöse Therapie

  • Pentosanpolysulfat (PPS, Elmiron®) ist derzeit das einzige in Europa zu­gelassene orale Arzneimittel zur Behandlung der interstitiellen Zystitis – sofern Glomerulationen und/oder Hunner-Läsionen vorliegen. PPS fördert die Bindung von Glykosaminoglykanen an die geschädigte Blasenschleimhaut und die Durch­blutung der Harnblase. Bis zum Wirkeintritt können drei bis sechs Monate vergehen. Die Wirksamkeit ist umso besser, je früher mit der Behandlung begonnen wird. Zu berücksichtigen sind die blutgerinnungshemmenden Eigenschaften des Wirkstoffs.
  • Amitriptylin beeinflusst die Schmerz­weiterleitung im zentralen Nerven­system (ZNS) durch eine Hemmung der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme. Außerdem blockiert das trizyklische Antidepressivum die Aktivierung der Mastzellen durch Bindung an H1-Rezeptoren. Schmerz und Harndrang werden reduziert. Die Anwendung ist durch die anticholinergen Nebenwirkungen des Medikaments limitiert.
  • Das tetrazyklische Antidepressivum Mirtazapin stellt eine Alternative zu Amitriptylin dar. Im Gegensatz zu diesem zeigt Mirtazapin keine anticholinergen Nebenwirkungen. Studien bei IC/BPS liegen noch nicht vor.
  • Hydroxyzin blockiert die durch neurologische Stimulation induzierte Aktivierung der Mastzellen. Es wirkt außerdem anticholinerg, anxiolytisch und analgetisch.
  • Der H2-Rezeptorantagonist Cimetidin wurde bereits 1994 erstmalig zur Therapie der IC/BPS eingesetzt. In Studien zeigten mehr als die Hälfte der Patienten eine Besserung der Symptome (Schmerzen und Nykturie). Cimetidin wird auch zur Behandlung pädiatrischer Patienten empfohlen, da die Substanz bereits bei Kindern mit gastroösophagealem Reflux erfolgreich angewendet wurde.
  • Der Leukotrienrezeptor-Antagonist Montelukast reduziert die durch Mastzellen vermittelten Entzündungsreaktionen.
  • Phosphodiesterase-5-Inhibitoren (PDE-5-Hemmer) können die glatten Muskelzellen der Harnblase relaxieren.
  • Der Calciumkanal-AntagonistNifedipin wirkt wahrscheinlich immunsuppressiv und führte in einer kleinen Studie, bei An­wendung über mehrere Monate, zu einer Symptomlinderung.
  • Immunsuppressiva (Ciclosporin A, Azathioprin, Methotrexat) können eingesetzt werden, spielen in der Praxis jedoch keine große Rolle.
  • Das Muskelrelaxans Tizanidin modi­fiziert das Schmerzempfinden durch Hemmung der Noradrenalin-Freisetzung aus präsynaptischen Neuronen. Der Alpha-2-Agonist wird in der Regel angewendet bei Muskelspasmen und -krämpfen, die durch Erkrankungen des ZNS ausgelöst werden.
  • Der Alpha-1-Antagonist Tamsulosin führt zu einer gesteigerten Relaxation der glatten Muskulatur der Harnröhre, des Blasenhalses und der Prostata.
  • Das Antikonvulsivum Pregabalin wird auch bei neuropathischen Schmerzen und Angststörungen eingesetzt. Über eine Reduktion der Ca2+-Freisetzung in den Nervenendigungen vermindert es die Freisetzung von Glutaminsäure, Substanz P und Noradrenalin.

Schmerzen lindern

Für die Schmerztherapie liegt momentan kein einheitliches Behandlungskonzept vor. Das vorrangige Ziel muss jedoch sein, den Patienten von seinen Schmerzen zu befreien. Dazu kann auf verschiedene Medikamente, eventuell auch in Kombination, zurückgegriffen werden. Neben Amitriptylin, Mirtazapin, Muskelrelaxanzien und Antikonvulsiva kommen auch nicht­steroidale Antirheumatika (NSAR), Metamizol sowie Opioide infrage. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass NSAR und Morphin-Derivate ebenfalls Histamin freisetzen und dadurch die Beschwerden verstärken können. |

Quelle

[1] S2K-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Interstitiellen Cystitis (IC/BPS). Langfassung, 1. Auflage, Version 1, Stand 30. September 2018. AWMF-Registernummer 043-050

[2] DGU und ICA-Deutschland setzen Meilenstein: Erste Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Interstitiellen Zystitis. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) vom 26. März 2018

Apothekerin Dr. Daniela Leopoldt

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