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„Und nichts ist ohne Gift“
Ein Krankenpfleger wird mithilfe von Ajmalin (Gilurytmal®) zum Serienmörder
Der Krankenpfleger Niels Högel ist angeklagt, zwischen den Jahren 2000 und 2005 zunächst im Klinikum Oldenburg und ab 2002 im Klinikum Delmenhorst zahlreiche Patienten mit Herzmedikamenten vergiftet zu haben. Anschließend soll er versucht haben, die mit schweren kardialen Störungen in Lebensgefahr geratenen Betroffenen zu reanimieren, was in vielen Fällen misslang. 2005 wurde er auf frischer Tat ertappt. Das Opfer überlebte und der Täter wurde wegen versuchten Mordes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ermittlungen in den folgenden Jahren ergaben weitere Verdachtsfälle, woraufhin der Angeklagte 2015 wegen zweifachen Mordes, zweifachen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Die Sonderkommission „Kardio“ setzte die Ermittlungen fort, nachdem der Verurteilte weitere Taten zugegeben hatte. Über 100 Leichen wurden exhumiert, in vielen Fällen konnten Spuren des Antiarrhythmikums Ajmalin (Gilurytmal®) in den Gewebeproben nachgewiesen werden. Bei den Untersuchungen fiel auf, dass sich der Verbrauch des Medikaments im Delmenhorster Klinikum um das Siebenfache erhöht hatte, nachdem der Mörder seine Tätigkeit dort aufgenommen hatte. Eine Vielzahl der möglichen Opfer war eingeäschert worden, sodass keine toxikologische Untersuchung mehr möglich war. Die Anklageschrift listet die Namen von 100 Opfern auf, die Dunkelziffer könnte jedoch noch deutlich höher liegen. Der Angeklagte war gleich am ersten Prozesstag in allen Fällen geständig.
Der Wirkstoff
Ajmalin ist ein Alkaloid, das aus den Wurzeln von Rauwolfia serpentina (Indische Schlangenwurzel) isoliert wird. Es zählt zur Klasse Ia der Antiarrhythmika und findet Anwendung in der Therapie akuter ventrikulärer und supraventrikulärer Rhythmusstörungen. Eine weitere Nutzung ist der Ajmalin-Test zur Diagnose des Brugada-Syndroms, einer genetisch bedingten arrhythmischen Erkrankung. Während einer Ajmalin-Infusion wird ein EKG aufgezeichnet, anhand dessen schließlich die Diagnose erfolgt.
Durch die Bindung an spannungsabhängige Na+-Kanäle im geöffneten Zustand kommt es zur Verringerung des Einstroms von Na+-Ionen. Als Folge dessen wird die Erregbarkeit der Herzmuskelzellen reduziert und die Erregungsausbreitungsgeschwindigkeit verringert. Ferner wird die relative Refraktärzeit verlängert. Ajmalin hemmt außerdem repolarisierende K+-Kanäle. Im Vergleich zu anderen Antiarrhythmika erfolgt die Dissoziation von den blockierten Kanälen nur langsam. Da Ajmalin oral schlecht bioverfügbar ist, muss es intravenös verabreicht werden. Dabei wird ein Plasmaspiegel von 0.1 bis 0.45 µg/ml angestrebt. Die Halbwertszeit ist mit rund einer Stunde kurz. Das N-Propylderivat Prajmalin (Neo-Gilurytmal®) ist oral bioverfügbar und hat eine längere Halbwertszeit.
Die Nebenwirkungen
Das Risiko für das Auftreten proarrhythmischer Effekte ist der Grund dafür, dass Ajmalin nur kurzzeitig angewandt wird. Es kann dabei zu lebensbedrohlichen Komplikationen, etwa Torsades de pointes, kommen. Außerdem kann Ajmalin negativ inotrop wirken und intraventrikuläre Leitungsstörungen hervorrufen. Eine Überdosierung kann Ursache für einen Blutdruckabfall und Kreislaufschock sein. Bei Patienten mit akutem Herzinfarkt, Herz- und Niereninsuffizienz, sowie in Kombination mit anderen antiarrhythmisch wirkenden Arzneimitteln, gilt Ajmalin als kontraindiziert. Welche Plasmakonzentrationen bei den Opfern erreicht wurden lässt sich aus den Obduktionsergebnissen nicht rekonstruieren, da lediglich ein qualitativer Nachweis des Medikaments erfolgte. Es sind jedoch Fallberichte veröffentlicht worden, die von Ajmalinbehandlungen mit tödlichen Nebenwirkungen berichten. Ein 1980 im American Journal of Cardiology publizierter Fall berichtet beispielsweise vom Schicksal eines 18-jährigen Mannes, bei dem es nach der Infusion von 50 mg Ajmalin über einen Zeitraum von fünf Minuten zu tödlichem Kammerflimmern kam.
Die Folgen
Laut der Anklageschrift sollen im vorliegenden Fall auch andere Antiarrhytmika, namentlich Lidocain (Xylocain®), Sotalol (Sotalex®) und Amiodaron (Cordarex®), zum Einsatz gekommen sein. Auch mehrere Klinikmitarbeiter wurden wegen Totschlages durch Unterlassen angeklagt, da immer wieder Unregelmäßigkeiten auffielen, aber ignoriert wurden. Die überproportional hohe Anzahl reanimationspflichtiger Fälle zu Dienstzeiten des Angeklagten war früh aufgefallen, daher geht man davon aus, dass ein Großteil der Opfer durch rechtzeitiges Einschreiten hätte vermieden werden können. Als Folge des Falles wurde bereits 2015 durch den Niedersächsischen Landtag der Sonderausschuss zur Stärkung der Patientensicherheit und des Patientenschutzes eingesetzt, um bessere Kontrollen zu ermöglichen. Eine am 24. Oktober 2018 beschlossene Gesetzesänderung sieht unter anderem vor, dass in allen niedersächsischen Krankenhäusern ab 2022 Stationsapotheker beschäftig werden sollen, die u. a. die Arzneimittelausgabe regeln und Auffälligkeiten frühzeitig bemerken. Außerdem ist festgelegt worden, dass in regelmäßigen Konferenzen die Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken diskutiert werden. Dieses Modell könnte Vorbild für andere Länder werden und bundesweit für mehr Patientensicherheit sorgen. |
Quellen
Verfahren gegen Niels Högel - Informationen zu den Anklagevorwürfen und zum Verfahren – Pressemitteilung Landgericht Oldenburg 23.10.2018
Aktories K, Forth W. Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie 2013, 11. Auflage.
Freissmuth M, Offermanns S, Böhm S. Pharmakologie & Toxikologie 2012.
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Henning K et al. Analyzing histological material to determine ajmaline and other drugs using high-performance liquid chromatography/tandem mass spectrometry. Drug testing and analysis 2018;10:1488-1490.
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