DAZ aktuell

Die Krux mit den (Lebens-)Risiken

Ein Meinungsbeitrag von Reinhard Herzog

Die Verunreinigungen des Blutdrucksenkers Valsartan mit dem Karzinogen NDMA (N-Nitrosodi­methylamin) beschäftigt die Gemüter. Patienten sind besorgt, und auch wir als Arzneimittelfachleute tun uns mit der Risikoeinschätzung schwer. Da kann es hilfreich sein, die möglichen aus der Verunreinigung herrührenden Risiken einmal in Bezug zu setzen zu anderen Lebens­risiken sowie dem allgemeinen Krebsrisiko.

Für Unruhe und Unsicherheit dürfte die Stellungnahme der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) Ende Juli gesorgt haben. Das Fazit dort: Ausgehend von stichprobenartig in acht von 16 Valsartan-haltigen Präparaten gefundenen NDMA-Verunreinigungen (mit Werten von 3,7 µg bis 22,0 µg NDMA je Tablette) sind diese Gehalte als „besorgnis­erregend“ einzustufen. Im Sinne der Patienten­sicherheit sei „eine weitere Exposition unbedingt zu vermeiden“ – was immer das konkret bedeuten soll (bis zur Rückholung beim Endverbraucher?). Basis der Einschätzung sind toxiko­logische Untersuchungen an Ratten sowie ein davon abgeleiteter „Sicherheitsabstand“ („Margin of Exposure“, MoE) hinsichtlich einer auch beim Menschen (nicht) krebserzeugenden Dosis. Diese Sicherheitsmarge sollte 10.000 betragen, liegt aber bei den NDMA-Verunreinigungen mit errechneten 170 weit niedriger. Je kleiner dieser Sicherheitsabstand, desto größer ist das Risiko. Anders betrachtet: Allenfalls tolerabel wären Verunreinigungen, die mengenmäßig etwa 1/60 der gefundenen Werte betragen würden. Doch was fängt man mit solchen Werten in der Praxis an?

Ziemlich zeitgleich kamen zusätzlich zwei konkrete Risikoabschätzungen hinzu, die erste von der US-amerikanischen Food & Drug Administration (FDA), eine weitere von der European Medicines Agency (EMA). Diese lieferten wesentlich greifbarere Daten hinsichtlich einer konkreten Patienten­gefährdung:

  • Die FDA geht von einem zusätz­lichen Krebsrisiko von 1 : 8000 bei einer vierjährigen regelmäßigen Einnahme von typischerweise NDMA-verunreinigtem Valsartan (basierend auf bisherigen Stichproben) in einer Tagesdosis von recht hohen 320 mg Valsartan aus.
  • Die EMA beziffert das Risiko, auch bei einer 320-mg-Dosierung, auf 1 :  5000 bei allerdings sieben­jähriger Einnahme.

Daraus lässt sich ein relatives jähr­liches Risiko von 1 :  32.000 bzw. 1 :  35.000 je Patientenjahr errechnen (Voraussetzung: zeitlineares Krebsrisiko, also keine relative Risikoerhöhung durch eine längere Einnahme). Noch nichts ausgesagt ist damit über die Art der Krebserkrankung sowie ihre Prognose. Das lässt einen weiteren, großen Interpretationsspielraum.

Foto: hin255 – stock.adobe.com

Wie hoch ist das Krebsrisiko?

Als nächstes stellt sich die Frage, wer betroffen ist. In der Tabelle sind die denkbaren zusätzlichen Krebsfälle pro Jahr aus den Verordnungsdaten hochgerechnet worden. Dabei wurde die hohe 320 mg-Dosierung zugrunde gelegt; die realen Dosen liegen deutlich darunter (160 mg werden am häufigsten verordnet). Mit niedrigerer Wirkstoffdosis verringert sich auch die NDMA-Menge. Zudem werden mitnichten alle verordneten Mengen auch eingenommen. Somit dürften die errechneten 36 NDMA-bedingten, zusätzlichen Krebsfälle nach heutigem Stand des Wissens mutmaßlich deutlich unterschritten werden. Diese geringe Anzahl zusätzlich geschädigter Patienten pro Jahr kann gemäß der Maxime des „unbezahlbaren Lebens“ und der Betonung von Individualschicksalen sehr viel sein. Statistisch kann es sehr wenig sein.

Tab.: Valsartan-Verordnungen und die daraus abgeleiteten, theoretisch denk­baren zusätzlichen Krebsfälle pro Jahr [Quelle: Arzneiverordnungs-Report 2017, Risiko­abschätzung gemäß FDA und EMA, Mittelwerte]
Packungen GKV
Tagesdosen GKV
Hochrechnung DDD gesamt inkl. PKV (Faktor 1,15)
Patientenjahre (DDD/365)
Valsartan
4,33 Mio.
717 Mio.
825 Mio.
2,26 Mio.
Valsartan + HCT
2,55 Mio.
241 Mio.
277 Mio.
0,76 Mio.
Summen
6,88 Mio.
958 Mio.
1.102 Mio.
3,02 Mio.
1 zusätzlicher Krebsfall auf durchschnittlich 33.500 Patientenjahre = zusätzliche Krebsfälle maximal jährlich, falls alle Anbieter betroffen wären und die Höchstdosis von 320 mg verabreicht wird:
~ 90
… da glücklicherweise nur ca. 40% der DDD betroffen = mögliche zusätzliche Krebsfälle bei 320-mg-Dosis jährlich:
~ 36
… plausibler Fallzahlbereich jährlich aufgrund niedrigerer Dosierung (1 DDD = 80 mg, häufig verordnet: 160 mg) oder wegen Non-Compliance, Nicht-Einnahme, u. a.
10 ... 30

Rund 500.000 Krebsneuerkrankungen haben wir in Deutschland jährlich, also etwa 6000 je Million Einwohner. Etwa 1,2 Millionen Patientenjahre (3,02 Mio. „Valsartan-Jahre“, davon 40% der Tagesdosen betroffen, vgl. die Tab.) würden rein statistisch etwa 7200 „natürliche“ Krebsneuerkrankungen erwarten lassen, also mehr als die zweihundertfache Zahl. Zieht man weiter in Betracht, dass es sich bei den Valsartan-Patienten mehrheitlich um Ältere handelt, dann haben wir hier nochmals ein erheblich erhöhtes Risiko für bösartige Geschwulste. In höherem Lebensalter steigt die Krebsinzidenz bis etwa 2% (Frauen) oder gar 3% (Männer) an. Doch damit nicht genug: Auch die Risiken für Herzinfarkte und Schlaganfälle wachsen in den unteren Prozentbereich, Risiken, welche unter anderem eine adäquate Blutdrucksenkung mindern kann. Nochmals gruseliger wird es, wenn man das allgemeine Sterbe­risiko mit berücksichtigt: Dieses steigt exponenziell und überschreitet bereits bei einem Alter von Ende 60 die jähr­liche Prozentgrenze, bei Frauen einige Jahre später als bei Männern.

In der Abbildung sind einige gängige Inzidenzen (jährliche Erkrankungsrisiken) aufgetragen, nach Frauen und Männern getrennt, für Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall und Demenz, neben dem allgemeinen Sterberisiko. Dagegen verschwindet das ca. 0,003-prozentige Krebsrisiko durch NDMA tatsächlich völlig in der Versenkung.

Abb.: Jährliche Sterbe- und Erkrankungsrisiken je nach Alter (links). Rechts Ausschnittvergrößerung, eingeengt auf niedrigere Lebensjahre und demzufolge geringere Risiken[Quelle: Robert Koch-Institut / DEGS1, AOK Versorgungs-Report, Statistisches Bundesamt u. a.]

Um den statistischen Spaziergang abzurunden, mögen noch ein paar Werte aus der Autofahrer-Welt dienen. Das Risiko, als Durchschnittsfahrer (ca. 14.000 km jährlich mit einem typischen Mix aus Stadtverkehr, Land­straße und Autobahn) tödlich zu verunglücken, liegt je nach Fahrzeug im Bereich von grob etwa 1 : 20.000 bis 1 :  60.000. Das Risiko, als Autoinsasse schwer oder gar schwerst verletzt zu werden, schwankt wieder fahrzeugklassenabhängig zwischen etwa 1 : 2500 und 1 :  8000. Je nach eigenen Fahrkünsten, der Fahrleistung und dem Profil der benutzten Straßen (Landstraßen sind am gefährlichsten!) ergeben sich individuell niedrigere oder auch erheblich höhere Risiken.

Das ernste Qualitätsproblem bei den Arzneimitteln soll damit nicht verniedlicht werden, wohl aber relativiert. Selbstverständlich sind die Ursachen abzustellen. Doch zeigen die Abschätzungen – mehr können es an dieser Stelle nicht sein – dass für betroffene Patienten kein Grund zur Panik besteht, selbst wenn man die Betrachtungen nur auf das Thema Krebs einschränkt. Denn ihr natürliches Krebsrisiko steigt dadurch um weniger als 1%.

Ökonomische Betrachtung

Etwa 88.000 kg Valsartan als Wirkstoff an sich dürften pro Jahr allein hierzulande verbraucht werden (errechnet aus der Gesamtzahl der verordneten Tagesdosen DDD pro Jahr mal 80 mg für eine DDD). Von den NDMA-Verunreinigungen betroffen sind davon etwa 40% bzw. 35.000 kg im Wert von gut 5 Mio. US-Dollar (bei angenommen 150 US-Dollar je kg). Stellt man diesen Wert nur einer niedrig zweistelligen Zahl an Verunreinigungsopfern gegenüber, zeigen sich beschämende Relationen. Nimmt man jeden Krebsfall mit einer Schadenssumme von lediglich 250.000 Euro bzw. knapp 300.000 US-Dollar an (für Behandlungskosten, Verlust an Lebens- und Arbeitszeit, Entschädigung für erlittenes Leiden usw., in USA werden ganz andere Summen aufge­rufen!), dann zeigt sich, dass bereits 20 Fälle jährlich eine Schadenssumme in Höhe von 5 Mio. Euro entsprechend etwas mehr als dem Wirkstoffumsatz selbst ausmachen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Etablierung eines neues Synthese­verfahrens auch nur annähernd die Kosteneinsparungen erbracht hat, wie nun als Schaden für alle Beteiligten zu beklagen ist. Dies gilt umso mehr, wenn man die weltweiten Dimensionen betrachtet – der Wirkstoff wurde ja global vertrieben.

Nebenbei: Rein kaufmännisch betrachtet dürften die logistischen Kosten für die Rückrufaktionen sowie der zusätzliche Aufwand für die Patientenkommunikation (was auch die Ärzte betrifft) die oben dargestellten Schädigungen der Patienten in diesem Fall noch deutlich übersteigen, je nachdem, welcher Zusatzaufwand je Apotheke bzw. Arztpraxis zugrundegelegt wird. Man nehme nur rund 1 Mio. betroffene Kunden und setze den zusätzlichen Zeitaufwand pro Kopf sowie ange­messene Minuten­kosten (0,50 bis 0,75 Euro) an; daraus resultieren in jedem Falle Kosten im deutlichen Millionen-Euro-Bereich. Noch weitere Kosten fallen an anderen Stellen der Versorgungs- und Logistikkette an.

Ursachenforschung

Fakt ist, dass wir noch viel zu wenig darüber wissen, warum das NDMA im Zuge einer Syntheseumstellung in den Wirkstoff gelangt ist.

„Sparwahn“ und Kostendruck klingen da als Erklärungsversuch immer gut, greifen jedoch als Erklärung zu kurz. Eine hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben, selbst bei Arzneimitteln nicht. Die Maxime des „unbezahlbaren Lebens“ würde schon rein philosophisch auch zu einem unend­lichen Aufwand führen, um noch das allerletzte Risiko auszuschalten, was nicht zu praxistauglichen Lösungen führen wird.

Aufwand-Nutzen-Betrachtungen, selbst wenn es um Leben und Tod geht, werden deshalb an vielen Stellen gemacht und müssen es auch. Risikovermeidungskosten können schnell abenteuerliche Werte annehmen. Im Arzneimittelbereich denke man nicht nur an das (ganz überwiegend recht gut beherrschte) Thema Qualität, sondern an die Abwägung der Haupt- gegenüber teils lebensbedrohlichen Nebenwirkungen und deren Aufhellung in klinischen Studien. Hier liegen weitaus bedeutsamere „blinde Flecke“. In anderen Branchen sind solche Abwägungen noch viel augenfälliger, siehe nur die Automobilindustrie. Manch möglicher Sicherheitsgewinn oder auch Umweltaspekt wird aus Kosten- und Marketingaspekten auf dem Tisch der „Zielkonflikte“ geopfert, mit teils beachtlichen Auswirkungen selbst bei „Premiummarken“. Das belegt allein die Spreizung der Verletzungsrisiken im realen Unfallalltag zwischen den Marken und Baureihen, und nicht ohne Grund wird das nicht publiziert, obwohl die Erkenntnisse bei den Unfallver­sicherern vorliegen. Und auch der ­„Dieselskandal“ wäre wahrscheinlich nie ans Licht gekommen, wären nicht neutrale Messungen samt deren Publikation erfolgt.

Resümee

Damit sind wir bei einem entscheidenden Punkt: Neben einer wirk­samen Gesetzgebung und deren Kontrolle (die aber eben einen trag­fähigen Kompromiss zwischen wünschenswert und leistbar erlauben müssen), sind es vor allem die Transparenz und Öffentlichkeit, welche den wirksamsten Druck auf die Hersteller ausüben.

Wären viele Dinge bekannt, würden sich die Kunden abwenden, was die Hersteller sehr schnell zu Anpassungen und Veränderungen zwingt – oder sie vom Markt fegt. Das haben zahlreiche Skandale und deren Aufarbeitung quer durch alle Branchen gezeigt.

Im Gesundheitswesen greift jedoch wieder die an vielen Stellen verhängnisvolle Entkoppelung von Kunde, Anbieter und direktem Zahler. Der Patient bezieht Leistungen, die er nicht direkt bezahlt und für deren Auswahl andere verantwortlich sind. Seine Auswahlmöglichkeiten sind ­begrenzt, die Fremdbestimmung ist hoch, demzufolge ist die Transparenz niedrig. Nicht einmal die Arznei­mittelmarke steht ihm zur Auswahl. Gewisse Fehler und Probleme sind damit systemimmanent. Geld ist dabei ein Kriterium, aber mitnichten das einzige. In anderen Branchen toben weitaus härtere Preiskämpfe, werden Lieferanten noch mehr aus­gequetscht – aber unter den Regeln eines halbwegs funktionierenden und transparenten Marktes und unter Kontrolle der Kunden. Trotzdem muss die Qualität nicht auf der Strecke bleiben, wie beispielsweise bekannte Dis­counter beweisen. |

Autor

Dr. Reinhard Herzog,
Apotheker, 72076 Tübingen

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