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Interview
„Wir hatten kein perfektes, aber das beste Versorgungssystem“
Prof. Harald Schweim über das Rx-Versandverbot, die Länderliste und den Rahmenvertrag
DAZ: Herr Prof. Schweim, seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Oktober 2016 hat der deutsche Gesetzgeber nicht reagiert. Woran könnte das liegen?
Schweim: Ich glaube, hier kommt vieles zusammen. Die quälende Regierungsbildung ist ein Teil davon. Aber auch die Tatsache, dass die rund 50.000 Apothekerinnen und Apotheker in den öffentlichen Apotheken nur wenige Wähler sind. Dazu kommt einerseits das Märchen von den „Apothekenpreisen“ – denn Sozialneid zieht immer. Andererseits ist es der Machtwille von Angela Merkel, Kanzlerin zu bleiben und dafür in allem der SPD nachzugeben, und der Schachzug, ihren Rivalen Jens Spahn, trotz dessen Nähe zu Großversendern, zum Gesundheitsminister zu machen. Menschen haben außerdem ein kurzes Gedächtnis: 2004 haben die Union und Bundeskanzlerin Angela Merkel, damals noch Oppositionsführerin, für die Freigabe des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gestimmt. Die kolportierte Vorstellung, Rezeptversand per Brief und Rückversand per Päckchen sei Digitalisierung, ist nur mit Intelligenzarmut zu erklären. Viele hatten Milliardeneinsparungen für die GKV durch den Versandhandel versprochen, nichts davon ist wahr geworden. Da Politiker sich nicht gerne korrigieren, halten sie an dem Unsinn fest. Aber wir Apotheker, besonders die Standesvertretung, sind auch mitschuldig. Die Filialisierung als bauernfängerischen Ersatz für den Versandhandel zu akzeptieren und den Ausschluss der OTC-Arzneimittel aus der GKV-Erstattung hingenommen zu haben, gehören dazu. Die Leute, die uns damals vertreten haben, hatten offensichtlich nicht das Rückgrat, um bei solchen Angriffen standhaft zu bleiben. Und heute scheint sogar zu reichen, dass Spahn – aus welchen Motiven auch immer - einfach nicht will.
DAZ: Glauben Sie, dass Gesundheitsökonomie und Versorgungspolitik so komplizierte Themen sind, dass sich viele Abgeordneten gar keine abschließende Meinung darüber bilden?
Schweim: Uneingeschränkt: Ja! Außenpolitik ist einfach, das kann jeder, sogar ein Mensch ohne irgendeinen Abschluss bringt es da zum beliebtesten Politiker und zum Gast-Professor. In der Gesundheitspolitik muss man dagegen schwierig zu erwerbendes Fachwissen haben. Im Bundestag sind damit einfache Abgeordnete mit den vielen Aufgaben überfordert, vielfach werden Vorlagen nicht einmal gelesen und gemäß Empfehlung der Fraktionsführung abgestimmt. Ein schönes Beispiel war § 40 des Arzneimittelgesetzes zur klinischen Prüfung – wahrlich ein wichtiger Paragraf zum Menschenschutz: Hier war durch ein Versehen statt „die zuständige Ethikkommission“ ein Plural („Ethikkommissionen“) ins Gesetz geraten. Jahrelang war dies eine Einkommensquelle für abmahnwillige Anwälte nach dem Motto „Der Gesetzgeber hat sich schon etwas dabei gedacht“. Doch leider Fehlanzeige: Er hatte einfach nicht gelesen und aufgepasst. Sang- und klanglos wurde der Fehler in einer späteren Novelle dann bereinigt.
DAZ: Zurück zum EuGH-Urteil vom Oktober 2016: Hätten Sie damit gerechnet, dass es so schwierig sein wird, eine Lösung zu finden und auch umzusetzen?
Schweim: Ja, ich zitiere aus den Stuttgarter Gesprächen in DAZ 2017, Nr. 29, S. 18: „Schweims Überlegungen: Da bei der Bundestagswahl keine Mehrheit für die CDU/CSU zustande kommt, wird voraussichtlich die Union wieder mit der SPD koalieren und das Problem beim Rx-Versandverbot bleibt wie gehabt: Die SPD blockiert.“
DAZ: Nun gibt es seit rund 20 Jahren immer wieder Vorstöße, das Apothekenwesen in Deutschland zu liberalisieren. Was verspricht man sich eigentlich von einer Öffnung des Marktes?
Schweim: Ich habe keine Vorstellungen. Arzneimittel sind Waren besonderer Art und damit nicht den üblichen Marktmechanismen unterworfen. Kein Marketing der Welt wird einen Gesunden dazu bringen, sich ein Arzneimittel verordnen zu lassen. Dafür muss der Patient umfassend und preisunabhängig beraten werden. Der Sicherstellungsauftrag und die Gemeinwohlpflichten schränken das freie Unternehmertum des Heilberufes Apotheker bewusst ein. Woran ich erinnern möchte: Der bekannte Apotheker und Professor Gerd Glaeske hatte Anfang der 2000er-Jahre in der SPD, besonders auf die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, einen immensen politischen Einfluss und versprach ebenfalls Milliardeneinsparungen durch Versandhandel, Fremd- und Mehrbesitz. Und große Kapitalgesellschaften stehen auch immer wieder dahinter. Den meisten ist es nämlich völlig gleich, ob sie ihre Millionen mit Schlachthöfen oder Apothekenketten erwirtschaften.
DAZ: Kosten-Nutzen-Rechnungen ergeben aber, dass Apotheken mehr Geld einsparen als sie dem System kosten. Wird so etwas der Politik und der Gesellschaft nicht richtig kommuniziert?
Schweim: So ist es – und dazu kommt das elende Thema „Apothekenpreise“. Man will immer an den Arzneimitteln und nicht mithilfe der Arzneimittel sparen. Die beste Therapie ist aber immer noch die Vorbeugung, wie uns beispielsweise das Impfen zeigt. Und warum gibt es dann keine Masern-Impfpflicht vor dem Kindergarten bzw. der Schule? „In Berlin ist ein Kleinkind an Masern gestorben, jetzt mehren sich Rufe nach einer Impfpflicht.“ Der ehemalige Justizminister Heiko Maas sagte 2015 dazu: „Wer nicht impft, gefährdet unser aller Gesundheit und Leben.“ Wo ist die Konsequenz im Koalitionsvertrag?
DAZ: Inwiefern sehen Sie die Standesvertretung der Apotheker auch ein Stück weit verantwortlich für die aktuelle Lage?
Schweim: Im Wesentlichen durch Fehleinschätzungen und Fantasielosigkeit. Es war zu keinem Zeitpunkt ein Plan B da. Ein Weiterbestehen des Rx-Versandhandels kann man sich einfach nicht vorstellen. Dann kam dilettantisches Agieren dazu, das als Anti-EU-Kampagne auslegbar wäre. Dann die Taktik des Wattebäuschchenwerfens, weil man die Politik ja auch anderswo noch braucht. Mein schlimmster Verdacht: Nun folgt Anbiederung, um auch zu den Großen zu gehören.
DAZ: Als Wissenschaftler haben Sie sich intensiv mit dem Versandhandel von Arzneimitteln beschäftigt. Was waren die größten Probleme und Risiken, die Sie fanden?
Schweim: Die gravierendsten Probleme liegen bei den Menschen selbst. Das beginnt beispielsweise damit, dass legale Versender aus den USA das Recht im Adressatenland einfach ignorieren. Hat das je ein deutscher Politiker in den USA thematisiert? Wie war das noch: „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht.“ Aber Menschenleben gefährden, das geht? Und dann läuft jahrelange Aufklärung der Patienten ins Leere. „Geiz ist geil“ lässt grüßen, und wenn es mich das Leben kostet. „Viagra ohne Rezept und billig“ war der Renner. Dass die Verschreibungspflicht dem Schutz der Gesundheit dient, wird besonders bei Potenzmitteln nicht verstanden. Aber auch die Versender gehen nachlässig mit der Gesundheit ihrer Kunden um. Wir konnten zeigen, dass problematische OTC-Arzneimittel, z. B. Paracetamol, die nur in Kleinmengen abgegeben werden sollten, in Großpackungen versendet werden und insgesamt über dem Durchschnitt aller OTC liegen. Ein deutliches Zeichen für mangelnde Arzneimitteltherapiesicherheit. Der Verdacht auf fehlende Beratung liegt nahe, weil – anders als die Vor-Ort-Apotheken – Arzneimittelversender mengenorientiert handeln. Es sollte zumindest der Versandhandel mit sicherheitspharmakologisch relevanten OTC-Arzneimitteln untersagt werden. Ein Vorbild dafür könnten die Regelungen bei der „Pille danach“ sein.
DAZ: In der aktuellen Debatte geht es vor allem darum, dass durch die Einlösung der Rezepte im Ausland die Vor-Ort-Apotheken wirtschaftlich gefährdet werden. Wäre das nicht auch anders lösbar, als durch ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln? Was halten Sie von Fonds oder alternativen Vergütungssystemen?
Schweim: Blödsinn. Wir hatten vor der großen Gesundheitsreform von 2004 kein perfektes, aber das beste Arzneimittelversorgungsystem, das ich mir vorstellen kann. Das Problem war und ist nach wie vor die Finanzierung in einer alternden Gesellschaft. Diese Entwicklung ist seit Langem absehbar. Aber statt dies durch echte Reformen anzugehen, wird nur kurzfristig – von Wahl zu Wahl – „jahrhundertreformiert“. Politiker denken selten an die Gesellschaft als Ganzes, meist nur an ihre eigene Wiederwahl.
DAZ: Stichwort: Länderliste – Sie haben mehrmals öffentlich darauf hingewiesen, dass der Bundesgesundheitsminister hierüber regeln könnte, ob und welche EU-Staaten Arzneimittel nach Deutschland versenden dürfen. Glauben Sie, dass dieser Weg europarechtlich weniger holprig wäre als ein Rx-Versandverbot?
Schweim: Ja, weil der deutsche Gesetzgeber hier konkrete Vorgaben machen kann, die von den Arzneimittelversendern zu erfüllen sind. Die Länderliste legt ja fest – europarechtlich unbeanstandet – ob aus einem Land der Versand von verschreibungspflichtigen, apothekenpflichtigen oder allen Arzneimitteln erlaubt ist. Und was heißt „holprig“? Die Parole der „europarechtlichen Bedenken“ ist doch nur ein Kampfbegriff der Befürworter des Versandes. Einfach sofort machen und abwarten wäre richtig. Nur sieben der (noch) 28 EU-Mitgliedstaaten erlauben den Versand mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Handeln die etwa alle europarechtswidrig?
DAZ: Dann gibt es ja auch den Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung zwischen dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und dem Deutschen Apothekerverband. Der niederländische Arzneimittelversender DocMorris darf seit Jahren auch Vertragspartner sein und verstößt durch die Rabatte und Boni auf Rezepte aber gegen die Vertragsbestimmungen. Wäre es Ihrer Meinung nach klug, wenn die Apotheker öffentlich auf diesen Zustand hinweisen würden oder Konsequenzen ziehen und beispielsweise austreten würden?
Schweim: Eindeutig beides. Und vor allem: Konsequenzen ziehen, austreten. Dass hier nichts geschieht ist wieder mit dem „Wattebäuschchenwerfen“ zu erklären. Die Kassen als „Partner“ der Apotheken müssten nach dem Sozialgesetzbuch längst die Boni von ihren Versicherten juristisch einfordern. So bereichern sich einige wenige auf Kosten der Solidargemeinschaft.
DAZ: Wie erklären Sie sich, dass der Gesetzgeber offensichtlich zwei verschiedene Versorgungssysteme nebeneinander duldet: Auf der einen Seite die Vor-Ort-Apotheken mit den hohen Anforderungen an Ausbildung und Betrieb, auf der anderen Seite die Arzneimittelversender aus dem Ausland, wo diese Bedingungen nicht herrschen?
Schweim: Nur durch unerklärbare Dummheit. Ich empfehle allen Politikern als Fortbildungslektüre die Urteilsbegründung zum „Apotheken-Urteil“ von 1958 sowie die DAZ 19/2018.
DAZ: Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, damit das System der Arzneimittelversorgung durch Vor-Ort-Apotheken erhalten bleibt?
Schweim: Wenn ich darauf eine kurze, klare und richtige Antwort hätte, würde ich am Samstag Lotto spielen.
DAZ: Herr Prof. Schweim, vielen Dank für das Interview. |
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