Gesundheitspolitik

„Perfektes Verbrechen“ wegen fehlender Kontrollen

Bottroper Zytoprozess: Urteilsgründe liegen vor / Journalist akzeptiert Strafbefehl wegen Veröffentlichung der Prozessakte im Internet

KARLSRUHE (hfd) | Beim Bottroper Zyto-Prozess haben bekanntlich alle Seiten Revision eingelegt. In den Verhandlungen vor dem Bundesgerichtshof (BGH) könnte es eine Rolle spielen, dass sich im Rahmen des Prozesses eine fast vollständige Ermittlungsakte im Internet fand. Auch weitere Aspekte dürften vor dem BGH intensiver behandelt werden, wie aus den jetzt vorliegenden Urteilsgründen hervorgeht.

Seit vergangener Woche liegt die 1500 Seiten umfassende schriftliche Urteilsbegründung gegen den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. vor. Darin stellen die Richter des Essener Landgerichts fest: „Es ist völlig ausgeschlossen, dass es sich beim Handeln des Angeklagten um ein massenhaftes Versehen handeln könnte. Die Vielzahl der objektiv unterdosierten Zubereitungen über Jahre hinweg und die enormen finanziellen Vorteile, die er damit erzielte, lassen die Kammer darauf schließen, dass es sich bei dem Tun des Angeklagten um ein bewusstes, systematisches Vorgehen zur dauerhaften Erzielung erheblicher Gewinne handelte.“

Von den 117 bei der Razzia am 29. November 2016 sichergestellten Zubereitungen seien 66 deutlich unterdosiert gewesen – 27 habe S. selber hergestellt, die anderen ließen sich teils Mitarbeitern zuordnen. Von den 61.863 bis zum Vortag hergestellten Zubereitungen enthielten mindestens 14.498 nicht den deklarierten Wirkstoff in der verschriebenen Menge, schätzten die Richter. Sowohl S. als auch angewiesene Mitarbeiter haben laut dem Urteil absichtlich unterdosiert. Jedoch lag laut den Richtern kein Beweis vor, dass der Apotheker damit rechnete oder es in Kauf nahm, dass aufgrund der Unterdosierungen ein konkreter Patient einen Schaden erleiden würde.

Außerdem verurteilte das Land­gericht Essen Peter S. wegen Abrechnungsbetrugs; auf Basis mehrerer Abschätzungen bezifferten die Richter den Gesamtschaden bei den Krankenkassen auf 17.943.846 Euro, die sie auf 17,3 Mio. Euro abrundeten.

Angesichts der „völlig fehlenden Kontrollen“ handelte es sich aus Sicht des Apothekers wohl um das „perfekte Verbrechen“, schreiben die Richter weiter: S. musste sich laut dem Urteil keine größeren Sorgen machen, durch Kontrollen aufzufliegen.

Einige mögliche Schwachpunkte hat das Urteil, mit denen sich der BGH im Revisionsverfahren wohl beschäftigen wird. Neben der Veröffentlichung der Prozessakte dürfte die Frage eine Rolle spielen, ob S. die mit einem Kürzel ver­sehenen Beutel, die bei der Razzia sichergestellt wurden, selber hergestellt hat. Auch wird wohl erneut geprüft werden, ob ausreichend klar erwiesen ist, dass die Differenzen zwischen eingekaufter und verkaufter Wirkstoffmenge nicht etwa durch Schwarzmarkteinkäufe zu erklären seien, wie die Verteidigung argumentierte.

Geheime Strafakte war für jedermann online zugänglich

Im Februar hatte die Veröffentlichung einer nur teilweise geschwärzten, geheimen Strafakte aus dem Prozess gegen S. für viel Aufregung gesorgt: Die Verteidigung des Angeklagten Peter S. wies darauf hin, dass das Dokument, das auch den Haftbefehl enthielt, offenbar seit Monaten im Internet frei einsehbar war. Sofern dies vorsätzlich geschah, handelt es sich um eine Straftat: Nach § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch werden verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen mit bis zu einem Jahr Haft oder mit Geldstrafe bestraft.

Die Staatsanwaltschaft Essen leitete damals ein Ermittlungsverfahren gegen einen Journalisten des Recherchebüros Correctiv ein, die Verteidigung beantragte wegen möglicher Zeugenbeeinflussung den Neustart des Prozesses, was später zurückgewiesen wurde. „Die Intention der Verteidigung von Peter S. ist deutlich“, erklärte Correctiv damals. „Sie möchte den Prozess zum Platzen bringen, mit allen Mitteln, auch oder gerade auf Kosten von ‚Correctiv‘.“ Die Redaktion sei bestrebt, die Vorwürfe gründlich aufzuklären. „Egal, was wann wo auch immer angeblich im Netz steht oder stand — dadurch kommt kein Milligramm mehr an Krebswirkstoffen in eine der beschlagnahmten und untersuchten Proben aus der Apotheke.“

Die Staatsanwaltschaft wies im Verfahren darauf hin, dass die Veröffentlichung ein gravierender Vorgang sei: Wer meine, mit rechtswidrigen Mitteln die Aufklärung voranzutreiben, liege falsch, erklärte Staatsanwalt Jakubowski: Derjenige sei kein Unterstützer, sondern vielmehr ein Störer des Verfahrens. Aus den späteren Ermittlungen in dieser Sache ergab sich laut Staatsanwaltschaft, dass der Journalist tatsächlich gegen das Gesetz verstoßen hat: Sie beantragte einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe auf Bewährung von 60 Tagessätzen zu je 20 Euro.

Der Journalist legte zunächst Einspruch gegen den Strafbefehl ein, zog diesen aber nach Auskunft eines Sprechers des Amtsgerichts ­Essen zwischenzeitlich zurück, sodass der Strafbefehl rechtskräftig wurde. „Aus finanziellen Erwägungen haben wir den Einspruch zurückgezogen“, erklärte Correctiv-Chefredakteur Oliver Schröm auf Nachfrage. Weitere Fragen zu dem Fall wollte er nicht beantworten. |

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