Arzneimittel und Therapie

Orales Cortison als Alternative zu i.v. beim akuten MS-Schub?

Studie zeigt Nicht-Unterlegenheit

Erste Wahl beim akuten Schub der Multiplen Sklerose ist die intravenöse Hochdosis(Puls)-Therapie mit Glucocorticoiden, bevorzugt Methylprednisolon. In einer kürzlich im Lancet veröffentlichten Studie wurde dieser Applikationsweg mit der oralen Cortison-Gabe in gleicher Dosierung verglichen und dabei Gleichwertigkeit festgestellt. Ob dieses Ergebnis zu einem „Switch“ in der klinischen Praxis führt, bleibt fraglich.

Ziel einer Cortison-Therapie im akuten MS-Schub ist die Bekämpfung der neugebildeten Entzündungsherde und damit die Verringerung der Dauer und Schwere der neurologischen Ausfälle. Auf den ersten Blick spricht einiges dafür, das Medikament oral statt intravenös zu verabreichen: Der Patient muss sich nicht in die Klinik begeben, zudem wären die Kosten niedriger. Für einige wenige Patienten wird dieser Applikationsweg schon jetzt empfohlen (s. Kasten „Wissenswertes zur Schub-Therapie“), für alle anderen ist die i.v.-Gabe etablierter Standard. Patienten, die nicht auf Cortison ansprechen, erhalten an spezialisierten Zentren zur Beendigung des akuten Schubes eine Plasmapherese bzw. Immun­adsorption.


Wissenswertes zur Schub-Therapie

Für welche Patienten wird bereits jetzt die orale Therapie empfohlen?

In Ausnahmefällen, in denen eine intravenöse Applikation nicht möglich ist, kommt die orale Hochdosistherapie mit 500 mg Methylprednisolon pro Tag über fünf Tage in Betracht.

Warum gerade Methylprednisolon?

Methylprednisolon hat im Vergleich beispielsweise mit Prednisolon eine geringere mineralocorticoide Wirkung bei höherer Rezeptoraffinität. Außerdem ist es besser liquorgängig als andere Corticoide und besitzt eine lineare Dosiskinetik.

Wie wird Methylprednisolon i.v. verabreicht?

Es wird meist morgens als Einzeldosis in einer Kurzinfusion (30 bis 60 Minuten) gegeben. Diese morgendliche Applikation entspricht am ehesten dem physiologischen Hormonverlauf und wird in der Regel besser vertragen. Anhand bestimmter individueller Kriterien (z. B. Verträglichkeit, Weiterbestehen der Symptome) entscheidet der Arzt, ob eine orale Ausschleichphase für maximal zehn bis 14 Tage notwendig ist.

Welche Nebenwirkungen verdienen besondere Beachtung?

Als stark beeinträchtigend werden Schlafstörungen, ein metallischer Geschmack sowie Magen-Darm-Beschwerden empfunden. Bei Patienten mit Ulkus-Anamnese ist ein Schleimhautschutz durch Protonenpumpenhemmer (PPI) sinnvoll. Patienten mit Prä­diabetes oder Diabetes müssen bei Cortison-bedingter Hyperglykämie gegebenenfalls eine Insulin-Therapie erhalten.

Was wird unternommen, wenn die Behandlung nicht anschlägt?

Bei therapierefraktärer Schubsymptomatik kann die i.v.-Therapie bis zu maximal zehn Tagen fortgesetzt werden, gegebenenfalls mit einer höheren Dosis. Bleiben die Symptome des Schubes auch innerhalb von zwei Wochen nach Beendigung der initialen Behandlung funktionell beeinträchtigend, so sollte auf der Basis der Empfehlungen der „Multiple-Sklerose-Therapie Konsensusgruppe“ umgehend die Eskalationstherapie mit ultrahochdosiertem i. v.-Cortison (z. B. 2000 mg Methylprednisolon/Tag über fünf Tage) initiiert werden.

Quelle: Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose. S2e-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, AWMF-Registernummer: 030/050, Stand August 2014

Studie prüfte auf Nicht-Unterlegenheit

Bisherige kleinere Studien hatten keine signifikanten Unterschiede zwischen oraler und intravenöser Gabe gezeigt; eine methodisch hochwertige Untersuchung mit längerer Beobachtungsdauer gab es jedoch bisher noch nicht. Die jetzt vorliegende randomisierte, doppelblinde, kontrollierte Nicht-Unterlegenheitsstudie war an 13 MS-Zentren in Frankreich durchgeführt worden. Die Teilnehmer im Alter zwischen 18 und 55 Jahren litten an einer schubförmig-remittierenden Verlaufsform der Erkrankung (relapsing remitting multiple sclerosis; RRMS). Etwa die Hälfte der Teilnehmer jeder Gruppe nahm weitere Medikamente (z. B. Interferon-beta, Glatirameracetat, Mycophenolatmofetil, Azathioprin).

Die Teilnehmer hatten maximal 15 Tage vor Einschluss in die Studie einen Schub erlitten (Anstieg um mindestens einen Punkt auf einer MS-­spezifischen Bewertungsskala, Kurtzke Functional System Score, KFSS). Sie wurden in zwei Gruppen randomisiert, wobei die eine orales, die andere intravenöses Methylprednisolon über drei Tage in einer Dosis von 1000 mg/Tag erhielt. Als Placebo dienten jeweils i.v.-Kochsalzlösung bzw. wirkstofffreie Kapseln. Primärer Endpunkt war der Anteil der Patienten, bei denen vier Wochen nach der Behandlung eine Verbesserung der neurologischen Symptome erfolgt war (mindestens um einen Punkt auf dem KFSS), ohne dass eine erneute Behandlung mit Cortison notwendig gewesen wäre. Die Studie war mit einer vordefinierten Spanne von 15% auf Nicht-Unterlegenheit gepowert.

Gleichwertigkeit gezeigt

Zwischen Anfang 2008 und Mitte 2013 wurden insgesamt 199 Patienten in die Studie eingeschlossen, wobei 100 von ihnen Methylprednisolon oral, 99 intravenös verabreicht wurde (Dauer vom Schub bis zur Behandlung 7,0 bzw. 7,4 Tage). In die Auswertung flossen schließlich die Daten von 82 bzw. 90 Teilnehmern ein. Unter oraler Therapie erreichten 66 (81%), unter i.v.-Therapie 72 Patienten (80%) den primären Endpunkt. Die absolute Differenz betrug 0,5% (90% KI -9,5 bis 10,4%). Die Nebenwirkungsraten waren ähnlich, abgesehen von Schlaflosigkeit, über die in der i.v.-Gruppe etwas seltener berichtet worden war (63 vs. 77 Patienten).

Das Fazit der Studie: Eine orale Hochdosis-Therapie mit 1000 mg Methylprednisolon über drei Tage war der dosisgleichen intravenösen Behandlung bezüglich der Verbesserung der Beschwerden nicht unterlegen und hatte ein ähnliches Nebenwirkungsprofil.

Hohe Tablettenlast

Zwei Kommentatoren der Studie merken an, dass die orale Hochdosis-Therapie trotz ihrer (bereits früher gezeigten) Vergleichbarkeit mit der i.v.-Behandlung und der einfacheren Anwendbarkeit bisher nur in wenigen Ländern Eingang in den klinischen Alltag gefunden hat. Dies könnte unter anderem daran liegen, dass die benötigten Tabletten-Stärken schlichtweg nicht verfügbar sind. In der Studie von Le Page et al. mussten die Teilnehmer zehn Tabletten à 100 mg einnehmen. In Deutschland liegt die derzeit höchste verfügbare Stärke von Methylprednisolon bei 40 mg. Die Einnahme von 25 Tabletten, wenn auch nur drei Tage lang, dürfte Patienten kaum zuzumuten sein. |

Quelle

Le Page E et al. Oral versus intravenous high-dose methylprednisolone for treatment of relapses in patients with multiple sclerosis (COPOUSEP): a randomised, controlled, double-blind, non-inferiority trial. Lancet 2015;386:974-981

Comi G, Radaelli M. Oral corticosteroids for multiple sclerosis relapse. Lancet 2015;386:937-938

Fachinformation Urbason® solubile forte 250 mg bzw. 1000 mg, Stand November 2014

Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose. S2e-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Stand Januar 2012, Gültigkeit verlängert bis September 2017, AWMF-Registernummer 030/050

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

Das könnte Sie auch interessieren

Bei Multipler Sklerose steht die Abwehr der Immunsystemattacken im Fokus

Wenn es den Nerven an den Kragen geht

Grundlagen für das Medikationsmanagement

Multiple Sklerose

Krankheitsmodifizierende Therapie kann Immunantwort beeinflussen

MS-Patienten sicher impfen

Aktualisierte S2k-Leitlinie gibt Hinweise für spezielle Patientengruppen

Up to date in der MS-Therapie

Antikörper schneidet im Vergleich mit Dimethylfumarat besser ab

Rituximab reduziert MS-Schübe

Kesimpta: Erster B-Zell-Antikörper zur Eigenapplikation

EMA empfiehlt Zulassung von Ofatumumab bei aktiver schubförmiger MS

Phase-2-Studie mit Muskarinrezeptor-Antagonist

Schafft PIPE-307 die Remyelinisierung bei MS?

PIPE-307 wird nun in einer Phase-II-Studie untersucht

Erfolgreiche Remyelinisierung bei MS mit Muskarinrezeptor-Antagonist

Neuer CD20-Antikörper ist auch bei primär progredienter multipler Sklerose wirksam

Ocrelizumab erweitert MS-Therapie

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.