Arzneimittel und Therapie

Wann werden wir die Masern los?

Deutschland gefährdet als „bad guy“ das weltweite Ziel der Eliminierung

Aktuellen Zahlen zufolge ist Deutschland von dem Ziel, Masern zu eliminieren, so weit entfernt wie lange nicht. 2015 wurden bundesweit etwa 30-mal mehr Masern-Fälle gemeldet als die WHO als Maximum „erlaubt“. Verlieren wir das Ziel aus den Augen? Dr. med. Dorothea Matysiak-Klose vom Robert Koch-Institut (RKI) aus dem Fachgebiet Impf­prävention stand uns Rede und Antwort.
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Dr. med. Dorothea Matysiak-Klose

DAZ: 2464 Masern-Fälle im Jahr 2015: Was bedeutet die Zahl für den Plan, Masern in Deutschland zu eliminieren?

Dorothea Matysiak-Klose: 2015 war eines der masernreichsten Jahre seit 2001. Wir sprechen zwar insgesamt von niedrigen Fallzahlen im Vergleich zu anderen meldepflichtigen Infektionen, aber diese sind enttäuschend angesichts der Anstrengungen, die unternommen wurden, um auf die Bedeutung der Impfung aufmerksam zu machen.

DAZ: Warum wird gerade die Masern-Impfung so infrage gestellt?

Matysiak-Klose: Impfungen haben schon immer Gegenwind verursacht. Der Nutzen einer Impfung besteht darin, eine Krankheit nicht zu kriegen, was aber als Ergebnis nicht zu sehen ist. Bei der Masern-Impfung kommt hinzu, dass es sich um eine Lebend­impfung handelt, nach der es häufiger zu Fieber kommen kann. Auch die Autismus-Debatte hängt noch immer in den Köpfen, obwohl das Thema nun wirklich durch ist. Insgesamt treten Masern so selten auf, dass sie nicht als Bedrohung wahrgenommen werden.

DAZ: Der amerikanische Kontinent gilt bereits als masernfrei. Wie hat man es dort geschafft?

Matysiak-Klose: Es wurde viel Geld in die Hand genommen, um landesweite Impfkampagnen neben den Routine­impfungen durchzuführen. Zudem wurde, wenn ein Masern-Fall auftrat, sehr offensiv damit umgegangen und die Infektionskette intensiv nachverfolgt. Auch in Europa gibt es durchaus Unterschiede. Osteuropäische Länder haben insgesamt mehr Impfkampagnen durchgeführt. Deutschland bietet dagegen als eines der wenigen Länder die Möglichkeit, Impfungen bei denen, die nach 1970 geboren sind, jederzeit nachzuholen, was in anderen Ländern für Nachholimpfungen nicht unbedingt der Fall ist. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten vollständig für die von der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlenen Masern-Impfungen.

DAZ: Ist die ablehnende Haltung gegen die Masern-Impfung ein typisch deutsches Problem?

Matysiak-Klose: Durchaus nicht. Die Argumente der Impfgegner werden auch in Ländern wahrgenommen, wo Masern lange Zeit eine hohe Inzidenz hatten. Zum Beispiel hat die Ukraine schwer mit diesem Problem zu kämpfen, obwohl osteuropäische Länder sonst hohe Impfquoten aufwiesen als Konsequenz der Impfpflicht.

DAZ: Auch in der ehemaligen DDR herrschte vor der Wiedervereinigung eine Impfpflicht. Gehen die Menschen im Osten Deutschlands anders mit der Masern-Impfung um?

Matysiak-Klose: Lange Zeit waren die Meldedaten für akute Masern aus den östlichen Bundesländern wesentlich niedriger als aus den westlichen. Jetzt dreht sich das aber, weil sich die Bevölkerung hinsichtlich des Impf­status durchmischt. Gerade junge Erwachsene zeigen schlechtere Impfquoten. Sie ziehen wegen Ausbildung und Arbeit in andere Teile Deutschlands. Damit steigt die Gefahr, dass die Masern auch in den östlichen Bundesländern wieder zunehmen. Tatsächlich war die Neuerkrankungsrate letztes Jahr im Osten höher als im Westen. Zudem gibt es hinsichtlich der Impfquoten ein Nord-Süd-Gefälle. Insbesondere die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg waren häufig von Masern-Fällen betroffen, nun zunehmend Berlin.

DAZ: Rückt die Impfpflicht näher?

Matysiak-Klose: Eine Impfpflicht wird immer wieder diskutiert und von Kinderärzten vehement gefordert. Letztendlich sehe ich persönlich darin momentan keine Option. Auch andere Länder haben die Masern-Elimination ohne Impfpflicht geschafft. Außerdem ergeben sich durch eine Pflicht andere Probleme. Welche Konsequenzen soll es haben, wenn ein Kind trotzdem nicht geimpft wird? Soll ihm dann der Besuch einer Schule verweigert werden? Eine Impfpflicht für Masern ist extrem schwer umzusetzen und kann einer Studie zufolge zum Ablehnen anderer Impfungen führen. Zudem sollte berücksichtigt werden, dass Kritiker, die eine Impfung komplett ablehnen, nur einen Prozentsatz von etwa 1 bis 2% ausmachen. Ein großer Teil der impfkritischen Menschen ist tatsächlich nur einem Teil der Impfungen gegenüber kritisch eingestellt. Die letzten großen Masern-Ausbrüche in Deutschland haben in Bezug auf die Risikoeinschätzung der Masern-Erkrankung zum Glück bei vielen zu einem Umdenken geführt. Mein Empfinden ist aber, dass das noch nicht ausreicht. Es besteht noch ein breites Informationsdefizit bei Erwachsenen, die nach 1970 geboren und nicht mit Masern in Kontakt gekommen sind.

„Auf einer Skala von 1 bis 10 stehen wir momentan etwa bei 7.“

DAZ: Demnach sind die unbefriedigenden Durchimpfungsraten also das Ergebnis mangelhafter Aufklärung?

Matysiak-Klose: Insbesondere das Internet bietet Impfkritikern eine Plattform, wo erfahrungsgemäß sehr emotional kommuniziert wird. Hier werden zum Beispiel Einzelfälle berichtet, die angeblich schwere unerwünschte Wirkungen von Impfungen erlebt haben, ohne die Kausalität näher auszuführen. Häufig wird sogar die Wirksamkeit der Impfungen infrage gestellt, die weltweit zu einer Verhinderung von Millionen von Todesfällen geführt haben. Wir müssen dem Ganzen mit unseren wissenschaftlich sehr begründeten Argumenten begegnen. Die Masern-Impfung ist wirksam und sicher. Wir haben in Deutschland keine schlechten Impfquoten, sie sind sogar wesentlich höher als in anderen Ländern. 97% aller Kinder haben zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchungen die erste Impfung hinter sich, 93% auch die zweite. Trotzdem haben wir es bisher nicht geschafft, die Masern zu eliminieren. Die Masern sind nicht etwa wiedergekommen, sie waren nie weg. Das Problem ist zum Beispiel eher, dass Kinder oft zu spät geimpft werden. Mit drei Jahren haben rund 15% immer noch nicht die zweite Impfung erhalten, die nach STIKO-Empfehlungen im Alter von 24 Monaten erfolgt sein sollte. Zurückführen lässt sich dies auf den langen Prozess der Empfehlungen. Erst hielt man eine Impfung für ausreichend, dann waren es zwei. Diese zweite Impfung wurde bei vielen Kindern nicht nachgeholt. Wenn die Kinder zum Impftermin krank waren, verschob man den Impftermin, mit der Gefahr, ihn gänzlich zu verpassen. Kinder und Jugendliche wurden demnach älter, ohne geimpft worden und jemals mit Masern in Kontakt gekommen zu sein. Leider passiert es damit häufiger, dass Frauen mit 20 oder 30 Jahren überhaupt keine Immunität gegen Masern aufweisen und somit auch keinen Nestschutz für Säuglinge bieten können. Und gerade die müssen passiv geschützt werden, bis sie selbst geimpft werden können!

DAZ: In Deutschland gibt es einige private Einrichtungen, die ungeimpfte Kinder nicht aufnehmen. Wie stehen Sie dieser Maßnahme gegenüber?

Matysiak-Klose: Ich halte das für eine konsequente Entscheidung, um sicher Masern insbesondere bei Kindern zu verhindern, die nicht geimpft werden können. Ich finde es prinzipiell super, dass sich die Einrichtungen so klar hinter die Impfung stellen. Allerdings sehe ich das Problem, dass die Impfpflicht nicht für alle Gemeinschaftseinrichtungen eine Lösung sein kann. Wir brauchen andere Maßnahmen, um Eltern von unserer wissenschaftlich gut begründeten Einschätzung zu überzeugen, dass die Impfung sicher und wirksam ist.

DAZ: Die da wären?

Matysiak-Klose: Informationskampagnen, um Masern ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken. Die bisherigen Aktionen halte ich teilweise für nicht spezifisch genug. Die Ziele, die wir verfolgen, wurden in einem nationalen Aktionsplan festgehalten, der im Internet einzusehen ist. So soll der Anteil der Kinder, die die zweite Impfung zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchungen erhalten haben, auf über 95% angehoben werden. Aber auch das Ausbruchsmanagement soll gestärkt werden. Zu jedem gesteckten Ziel werden konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie es erreicht werden kann.

DAZ: Wie realistisch ist die Elimination der Masern bis 2020?

Matysiak-Klose: Der Kampf gegen die Masern ist ein konstanter Prozess. Einen konkreten Zeitpunkt festzulegen, ist eher mit der Intention verbunden, die Länder zum Reagieren zu motivieren. Auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 10 die komplette Elimination der Masern bedeutet, stehen wir momentan etwa bei 7. Wir sollten uns davon nicht entmutigen lassen, dass wir die 10 noch nicht erreicht haben, sondern überlegen, was wir tun können, um von 7 auf 8 und von 8 auf 9 zu kommen. Wir müssen den politischen Willen weiter fördern, denn wir werden die Elimination nicht schaffen, wenn nicht die nötigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung stehen.

DAZ: Die WHO hat den Plan, Masern weltweit bis 2030 zu eliminieren. Kann Deutschland dieses Ziel gefährden?

Matysiak-Klose: Deutschland ist tatsächlich in Bezug auf Masern der „bad guy“. In den nächsten Jahren werden wahrscheinlich rund 30 Länder in der europäischen WHO-Region die Elimination erreichen, 21 haben sie bereits geschafft. In 18 Ländern sind dagegen Masern noch endemisch, darunter Deutschland. Im Jahr 2015 war Deutschland für rund 60% aller Masern-Fälle in der EU verantwortlich und ist damit klar ein Faktor, der das Eliminationsziel zurzeit entscheidend verhindert. Die WHO hat ein Auge auf uns, aber man ist sich auch bewusst, dass eine Erreichung des Ziels in Deutschland aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte und des intensiven Personenverkehrs besonders schwierig ist. Auf dem Weg zur Elimination sind viele, ja alle relevanten Akteure gefragt: niedergelas­sene Ärzte, Fachgesellschaften, der öffentliche Gesundheitsdienst, Krankenversicherungen, aber auch Apotheker.

DAZ: Vielen Dank für das Gespräch! |


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Zahlen und Fakten zu Masern

  • Mehr als neun von zehn ungeimpften Personen erkranken nach einem Kontakt mit dem Masern-Virus. Nur eine Impfung bietet sicheren Schutz.
  • Die Inkubationszeit beträgt bei Masern zwischen acht und zehn Tage bis zum Beginn des katarrhalischen Stadiums. Die Gefahr der Ansteckung besteht drei bis fünf Tage vor dem Auftreten des Exanthems bis vier Tage danach.
  • Bei sporadisch auftretenden Verdachtsfällen wird die Diagnose „Masern“ momentan in nur etwa jedem fünften Fall bestätigt, meist handelt es sich um andere exanthematische Erkrankungen (z. B. Röteln, Parvovirus B19, Scharlach).
  • In 30 bis 40% der Masern-Fälle kommt es zu Komplikationen, die vor allem für Kinder und Senioren schwerwiegend ausfallen können. In Afrika sind Masern die Hauptursache für Erblindung.
  • Ist das zentrale Nervensystem betroffen, kann es zur primären Masernenzephalitis kommen – mit einer Mortalität von 10% bis 15%.
  • Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine sehr seltene Spätkomplikation (4 bis 11 Fälle pro 100.000 Masernerkrankungen), die sich durchschnittlich sechs bis acht Jahre nach der Infektion manifestiert. Die Patienten werden wegen psychischer und intellektueller Veränderungen auffällig, später kann es zum Verlust zerebraler Funktionen kommen.
  • Durch die Impfung konnten von 2000 bis 2014 weltweit die Todesfälle infolge Masern um 79% gesenkt werden. In 44 afrikanischen Ländern und 24 weiteren Ländern (z. B. Russland) wird eine Einkomponenten-Impfung angewendet. In Europa und Nordamerika wird eine Kombination gegen Masern-Mumps-Röteln (MMR) eingesetzt.
  • In Deutschland sollte die erste MMR-Impfung nach Angaben der Ständigen Impfkommission (STIKO) im Alter von 11 bis 14 Monaten durchgeführt werden, die zweite Impfung im Alter von 15 bis 23 Monaten. Die zweite Impfung ist keine „Auffrischimpfung“, sondern nötig, um einen vollständigen Impfschutz zu erreichen (Immunität > 99%).
  • Etwa 5 bis 15% der Geimpften zeigen besonders nach der ersten Impfung – meist in der zweiten Woche - die sogenannten „Impfmasern“ mit mäßigem Fieber, Exanthem und respiratorischen Symptomen, die aber selbstlimitierend und nicht ansteckend sind.
  • Die Bedenken, eine Masern-Impfung könnte Autismus verursachen, kamen 1998 durch eine Publikation im Lancet auf. Aufgrund methodischer Mängel und Interessenkonflikten des Autors wurde der Artikel aber schließlich zurückgezogen. Seither haben viele Studien eine Verknüpfung zwischen Autismus und dem MMR-Impfstoff widerlegt.
  • Die Meldepflicht für Masern wurde in Deutschland im Jahr 2001 eingeführt. Damals wurden 6139 Masern-Fälle regis­triert. 2004 wurde der bisherige Tiefststand mit 123 Fällen erreicht. 2015 wurden 2464 Fälle gemeldet, davon 37% bei über 20-Jährigen und 27% bei 10- bis 19-Jährigen.
  • Für eine Masern-Elimination fordert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Zielwert von weniger als einem Fall pro 1 Million Einwohner und eine völlige Abwesenheit endemischer Infektionen über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten. Hierzu ist eine Impfquote von mindestens 95% in der Bevölkerung notwendig.
  • Als „masernfrei“ gelten mittlerweile beispielsweise Nord- und Südamerika, Finnland und Australien.

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