Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

am Mittwoch, den 19. Oktober 2016, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil von überragender Tragweite für das deutsche Apothekenwesen verkündet – einen Tag nach Redaktionsschluss dieser DAZ. Ob die deutsche Arzneimittel­preisverordnung (AMPreisV) und damit das Verbot von Boni und Nachlässen für verschreibungspflichtige Arzneimittel auch für solche Apotheken gilt, die vom EU-Ausland nach Deutschland versenden, oder ob diese Regelung den freien Warenverkehr innerhalb der EU unzulässig einschränkt – diese Frage haben die EuGH-Richter entschieden. Wenn Sie diese DAZ aufschlagen, kennen Sie die Antwort der ­Luxemburger Richter. Wir kannten sie noch nicht, als wir diese DAZ für Sie erstellt haben. (Falls Sie die Entscheidung noch nicht kennen sollten, finden Sie das Urteil, erste ­Stellungnahmen und Hintergründe zur Entscheidung auf DAZ.online unter www.deutsche-apotheker-zeitung.de.)

Wir machen deshalb aus der Not eine Tugend und veröffentlichen in dieser Ausgabe, zum ersten Mal in der Geschichte der DAZ, zwei Editorials – eins für den Fall, dass der EuGH die deutschen Regelungen der Arzneimittelpreisverordnung für europarechtskonform erklärt („Noch einmal gutgegangen“) und eins für den Fall der Fälle, dass nach Auffassung der Luxemburger Richter das deutsche Boni-Verbot für ausländische Arzneimittelversender nicht zur Anwendung kommen darf („Brexit für die AMPreisV“).


EDITORIAL

Noch einmal gutgegangen

DAZ/Kahrmann
Dr. Benjamin Wessinger, Chefredakteur der DAZ

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist seiner Linie treu geblieben: Fragen der Gesundheitsversorgung liegen in der Verantwortung der einzelnen EU-Mitgliedstaaten, hier sind Eingriffe in die Freiheit des Warenverkehrs zulässig, beispielsweise um eine flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln sicherzustellen. Ähnlich hatte der EuGH schon in seinem Urteil zur apothekenrechtlichen Zulässigkeit des Fremdbesitzverbots in Deutschland argumentiert.

Gesundheit ist keine Ware, die Gesetze des Marktes funktionieren hier nur bedingt. Arzneimittel gelten in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern – als Erzeugnisse besonderer Art. Deswegen sind auch hier gesetzliche Regulierungen sinnvoll, ja notwendig. Ein Patient ist eben kein „normaler“ Kunde und ihm fehlen für gewöhnlich wichtige Informationen und Optionen, die Kunden sonst haben oder zumindest haben können: Er kann im Zweifelsfall nicht auf das Arzneimittel verzichten, oft nicht einmal warten. Dazu kommt eine große Wissensasymmetrie zwischen Käufer und Verkäufer.

Zudem bestehen in den verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich ausgestaltete Gesundheitssysteme, ja „Kulturen“. Manche Länder haben staatliche, durch Steuern finanzierte Systeme, wie das Noch-EU-Mitglied Großbritannien. Andere EU-Mitgliedstaaten, wie etwa die Niederlande, kennen ausschließlich private Krankenversicherungen. Und natürlich gibt es allerlei Mischformen und Abstufungen der Systeme. Daher ist der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich auf nationaler Ebene eigenständige Entscheidungen treffen können, in hohem Maße sinnvoll. Dort gilt – weitergehend als in anderen Politikfeldern – der Subsidiaritätsgrundsatz.

Das jetzt vorliegende Urteil stimmt optimistisch, dass der Europäische Gerichtshof auch in Zukunft die nationale Souveränität und eigenständige Regelungsbefugnis der EU-Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich achten wird. Die Luxemburger Richter haben nicht nur das apothekenrechtliche Fremdbesitzverbot in Deutschland (und anderswo) für unionrechtskonform erklärt, sondern mit ihrer aktuellen Entscheidung – gegen das Votum des Generalanwalts – auch die grenzüberschreitende Preisbildung für (verschreibungspflichtige) Arzneimittel. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass die zentralen Pfeiler unseres deutschen Apothekensystems mit europäischem Gemeinschaftsrecht in Einklang stehen. Trotzdem sollten die deutschen Apotheker – wie übrigens auch die anderen Heilberufe – in ihrer Wachsamkeit nicht nachlassen. Es gibt immer noch genügend Akteure, die das System zu ihren Gunsten ändern wollen. Und auch „aus Europa“ könnte noch Ungemach drohen. Aktuelle Beispiele sind die Freihandelsabkommen CETA und TTIP, bei denen der Investitionsschutz mit den deutschen Regulierungen in Konflikt geraten könnte, sowie die Bestrebungen der Europäischen Kommission, die sogenannten regulierten Berufe auf den Prüfstand zu stellen.

Dr. Benjamin Wessinger


EDITORIAL

Brexit für die AMPreisV

DAZ/Kahrmann
Dr. Benjamin Wessinger, Chefredakteur der DAZ

Dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist wie die Abstimmung, ob Großbritannien weiterhin zur Europäischen Union gehören will oder nicht: Selbstverständlich war von vornherein nicht auszuschließen, dass die Briten so entscheiden könnten, wie sie dann entschieden haben – aber so richtig vorstellen konnte man es sich nicht. Doch die Briten haben tatsächlich für den Brexit votiert, und der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seiner jetzt vorliegenden Entscheidung tatsächlich seine bisherige Linie bei der rechtlichen Beurteilung der preisrechtlichen Rahmenbedingungen des deutschen Gesundheits- und Apothekensystems verlassen. Und wie beim Brexit bisher offen ist, was die Entscheidung konkret und langfristig für das Vereinigte Königreich bedeuten wird, lassen sich auch die Konsequenzen der EuGH-Entscheidung, das deutsche Preisrecht für ausländische Versandapotheken nicht zur Anwendung kommen zu lassen, im Einzelnen noch nicht absehen.

Dass die im Ausland ansässigen Versandapotheken, die ihre Arzneimittel vorrangig nach Deutschland liefern – also DocMorris, Europa Apotheek & Co. – nun wie vor dem Boni-Verbot Preisnachlässe auch bei Rx-Arzneimitteln einräumen werden, ist wohl keine Hellseherei. Unklarer ist, welche Bedeutung diese Praxis für die Arzneimittelpreisbindung in Deutschland haben wird.

Der ABDA-Chefjustiziar Lutz Tisch und der Marburger Apothekenrechtsexperte Elmar Mand meinen, dass die Auswirkungen auf die deutschen Apotheken vorerst eher unbedeutend sein werden. Die Arzneimittelpreisverordnung bleibt innerhalb Deutschlands nämlich trotz des EuGH-Votums gültig, eine Preisschlacht unter den deutschen Apotheken werde wohl ausbleiben. Selbst wenn einige Apotheker Preisnachlässe anbieten sollten, könnten und würden Wettbewerber und Aufsichtsbehörden dem Treiben ein schnelles Ende setzen, glaubt Tisch.

Weniger optimistisch ist da der in vielen Gerichtsverfahren gegen DocMorris gestählte Rechtsanwalt Morton Douglas. Er glaubt, dass die Arzneimittelpreisverordnung in ihrer heutigen Form nicht zu halten sein wird. Denn der legitime Zweck der Preisbindung – Gesundheitsschutz und flächendeckende Versorgung – ist mit ihr nicht mehr zu erreichen, wenn sie für bedeutende Marktteilnehmer hinfällig wird. Er ist sich auch nicht sicher, ob Wettbewerber und vor allem die Verbände und Kammern die Apotheken in Deutschland, die ebenfalls Nachlässe anbieten, konsequent verfolgen würden. Zum einen könnten sich die Berufsvertretungen dadurch Schadenersatzforderungen aussetzen, zum anderen würde ein solches Vorgehen ein Aufleben des ungeliebten Vorteil24-Modells geradezu erzwingen. Bei diesem Konzept hatte eine deutsche Apotheke die vom Kunden im Ausland bestellten preisgünstigeren Arzneimittel abgegeben. Dazu käme die Angst der Kammern und Verbände vor schwindenden Mitgliedsbeiträgen, wenn immer größere Umsatzanteile ins Ausland abwandern sollten, weil die Kassen ihre Versicherten drängen, Rx-Arzneimittel bei ausländischen Versandapotheken zu bestellen.

Bleibt zu hoffen, dass die ABDA den „Plan B“, den sie vor dem Urteil nicht kommunizieren wollte, tatsächlich in der Schublade hat – und er in der Politik auf offene Ohren stößt und umgesetzt werden kann. Ob ein Verbot des Versands von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln realistisch ist, wird man sehen. Ein richtiges Signal nach diesem katastrophalen Urteil des EuGH wäre es auf jeden Fall.

Dr. Benjamin Wessinger

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