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TK-Chef Baas: Alle Kassen schummeln

Krankenkassen manipulieren Abrechnungen, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten

STUTTGART (wes) | Bereits Mitte September hatte die „Welt am Sonntag“ (WamS) berichtet, dass gesetzliche Krankenkassen versuchen, ihre Versicherten auf dem Papier kränker zu machen, als sie wirklich sind. Der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, hat diese Praktiken nun in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS) zugegeben.
Foto: Techniker Krankenkasse
Packt aus TK-Chef Jens Baas hat in einem Interview über Mogeleien der Krankenkassen beim Morbi-RSA gesprochen. Er dürfte sich bei seinen Kollegen damit wenig beliebt machen.

Auf den ersten Blick mag es widersinnig erscheinen, dass Krankenkassen ein Interesse daran haben sollten, ihre Versicherten kränker zu machen, als sie tatsächlich sind. Hintergrund dieser Machenschaften ist der komplexe finanzielle Ausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, genannt morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich oder kurz Morbi-RSA. Ziel dieses Instruments ist es, dass Krankenkassen mit vielen „schlechten Risiken“ – also älteren Versicherten, vielen chronisch Kranken usw. – dafür von den Krankenkassen mit eher „guten Risiken“ – junge Versicherte, wenige Chroniker – finanziell entlastet werden. Für die Errechnung der Zuschüsse aus bzw. der Einzahlungen in den Morbi-RSA werden u. a. 80 ausgewählte Krankheiten berücksichtigt (s. auch Kasten „Der Morbi-RSA“).

Der Morbi-RSA

Bereits seit Mitte der 1990er-Jahre gibt es einen finanziellen Ausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, den Risikostrukturausgleich (RSA). Er wurde zusammen mit dem Wahlrecht zwischen den gesetzlichen Krankenkassen eingeführt. Seit 2001 werden nicht mehr nur Kriterien wie das Geschlecht oder das Alter der Versicherten beim RSA berücksichtigt, sondern auch die Zahl der chronisch Erkrankten. 2009 wurde der Gesundheitsfonds eingerichtet, in den die Krankenkassenbeiträge der Versicherten sowie Steuerzuschüsse fließen. Bei der Auszahlung an die Krankenkassen werden Unterschiede in den beitragspflichtigen Einnahmen zwischen den Mitgliedern der Krankenkassen ausgeglichen. Außerdem wird der unterschiedlich hohe Versorgungsbedarf von Versicherten mit einer kostenintensiven chronischen oder schwerwiegenden Krankheit berücksichtigt – der RSA ist „morbiditätsorientiert“.

Dieser morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) berücksichtigt die Merkmale Alter, Geschlecht, Bezug einer Erwerbsminderungsrente der Versicherten sowie ihre Krankheitslast anhand von 80 ausgewählten Krankheiten.

Der AOK-Bundesverband bezeichnet den Morbi-RSA als „eine unverzichtbare Bedingung für den Wettbewerb zwischen den Krankenversicherern um Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung von Kranken“. Der Präsident des Bundesversicherungsamts, Frank Plate, konstatiert: „Der Morbi-RSA hat sich bewährt“. Der Verband der Ersatzkassen vdek ist dagegen der Ansicht, der Morbi-RSA erfülle seine Aufgabe „in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung nicht ausreichend“. Er führe zu einer finanziellen Ungleichbehandlung der Krankenkassen. „Auf Ebene der Kassenarten betrachtet, ergibt sich für die Ersatzkrankenkassen eine dauerhafte Unterdeckung“.

Der Chef der größten deutschen gesetzlichen Krankenkasse, der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse Jens Baas, hat nun in einem Interview mit der FAS zugegeben, dass die Krankenkassen ihre Abrechnungen manipulieren, um mehr Gelder aus dem Morbi-RSA zu erhalten. „Alle, auch wir können uns dem nicht völlig entziehen“, antwortet Baas auf die Frage, welche Kassen denn genau bei der Abrechnung schummeln. „Am intensivsten“ manipulierten die „großen regionalen Kassen“, also die AOKen, so Baas. „Sie bekommen in diesem Jahr voraussichtlich eine Milliarde Euro mehr, als sie tatsächlich für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen“, wirft er ihnen vor. Die Ersatzkassen, zu denen auch die TK gehört, bekämen dagegen 700 Millionen Euro zu wenig.

Baas erläutert auch relativ detailliert, wie die Manipulationen ablaufen. So würden die Kassen Prämien zahlen, „zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen“. Dabei werde um eine „Optimierung“ der Codierungen bei der Abrechnung gebeten. Baas: „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“

Neben persönlichen Besuchen oder Anrufen von Kassenmitarbeitern in Arztpraxen gebe es auch „Verträge mit Ärztevereinigungen, die mehr und schwerwiegendere Diagnosen zum Ziel haben“, so Baas. Die Krankenkassen ließen sich sogar extra beraten, wie sie die Abrechnungen optimieren könnten. Für solche Beratungsleistungen sei seit 2014 eine Milliarde ­Euro an Honoraren gezahlt worden. |

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