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Todesfall in Phase I-Studie

Wirkstoffkandidat BIA 10-2474 mit schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen

RENNES (hb) | In einer Phase I-Studie mit dem Wirkstoffkandidaten BIA 10-2474, die im bretonischen Rennes durchgeführt wurde, ist es bei sechs gesunden Probanden zu schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen gekommen. Ein Studienteilnehmer ist mittlerweile verstorben.

Am vergangenen Freitag hat die französische Gesundheitsministerin Marisol Touraine in Rennes eine Pressekonferenz anlässlich des Studienzwischenfalls abgehalten. Wie sie dort darlegte, hat das Auftragsforschungsinstitut Biotrial bei der französischen Arzneimittelbehörde ANSM am 30. April 2015 ­einen Antrag auf Genehmigung einer klinischen Studie der Phase I eingereicht. Er bezog sich auf ein neues, weltweit bislang nicht als Arzneimittel zugelassenes Molekül, das von dem portugiesischen Pharmaunternehmen Bial-Portela (Bial), dem Sponsor der Studie, entwickelt wurde. Die Nationale Arzneimittel-Agentur (ANSM) hat die Studie am 26. Juni 2015 genehmigt. Sie startete am 9. Juli 2015 und war auf insgesamt 128 gesunde Probanden, Männer und Frauen im Alter von 18 bis 55 Jahren, ausgelegt. Zunächst sollte sie Erkenntnisse zur Einmalgabe, dann zur Mehrfachgabe über mehrere Tage und schließlich zusammen mit einer Mahlzeit gegen Placebo liefern.

Bis zum Zeitpunkt des Zwischenfalls hatten 90 Personen die Verbindung in unterschiedlichen Dosen bekommen, bis dahin ohne Probleme. Die geschädigten Personen erhielten die Testsubstanz alle erstmals am 7. Januar. Die ersten Symptome machten sich bei einer Testperson am 10. Januar bemerkbar. Insgesamt wurden sechs Probanden nach und nach in die Neurologie an der Universitätsklinik von Rennes eingeliefert, alles Männer im Alter von 28 bis 49 Jahren. Eine Person wurde auf der Pressekonferenz als hirntot bezeichnet, für vier weitere wurde am Freitag von ähnlichen Symptomen unterschiedlichen Schweregrades berichtet. Ein Teilnehmer hatte zwar den Berichten zufolge keine Symptome, soll aber aus Vorsichtsgründen beobachtet werden. Der für hirntot erklärte Versuchsteilnehmer ist mittlerweile verstorben, nähere Details nannte das Universitätsklinikum von Rennes dazu nicht. Der Zustand der weiteren Versuchsteilnehmer hat sich mittlerweile wieder verbessert.

Die Betroffenen sollen die bisher höchste Dosis von BIA 10-2474 verabreicht bekommen haben, unter dem Regime „Mehrfachgabe“. Am 11. Januar wurde die Studie durch Biotrial gestoppt.

BIA 10-2474 und sein Wirkansatz

Einer der Probanden soll den französischen Medien eine Kopie der Dokumente von Biotrial zur Information über die Studie zugespielt haben. Mittlerweile werden in französischen Medien weitere Details berichtet, unter anderem zu dem eingesetzten Test-Wirkstoff. Hierbei handelt es sich um eine Substanz mit dem Code BIA 10-2474. Das Schmerzagens inhibiert das Enzym Fettsäureamid-Hydrolase (fatty acid amide hydrolase, FAAH), ein Schlüsselenzym im Endocannabinoidsystem. Die Pharmakologie von Cannabinoid-Rezeptoren ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ein aktives Gebiet der Forschung, was den vorliegenden Fall umso rätselhafter macht. FAAH beeinflusst die vorhandene Menge an Endocannabinoiden und stellt damit eine interessante Zielstruktur für Arzneimittel dar. Durch das Ausschalten des Enzyms kommt es zu einer vielfach niedrigeren Schmerzanfälligkeit. Mittlerweile sind sowohl nicht-selektive als auch selektive Inhibitoren des Enzyms bekannt. Bial hält einige Patente für FAAH-Inhibitoren. Laut Aussage des Chefneurologen am Universitätskrankhaus von Rennes, Gilles Edan, gibt es kein Antidot gegen BIA 10-2474.

In der Studieninformation werden auch die Ziele der Studie erläutert, berichtet das Wirtschaftsmagazin „Forbes“. Als primärer Zielparameter wird dort die Prüfung der oralen Verträglichkeit angeführt. Die Information beschreibt BIA 10-2474 als „Produkt in der Entwicklung für die Behandlung von verschiedenen Erkrankungen wie Angstzuständen, Parkinson, aber auch für die Behandlung von chronischen Schmerzen bei multipler Sklerose, von Krebs, Bluthochdruck oder auch zur Behandlung von Fettleibigkeit.“

In der Produkt-Pipeline von Bial wird BIA 10-2474 als Wirkstoffkandidat gegen neurologische und psychiatrische Erkrankungen ausgewiesen.

Mit aller Sorgfaltspflicht

Presseberichten zufolge sollte die Studie am 1. Februar 2016 abgeschlossen werden. Jeder Freiwillige soll für die Teilnahme 1900 Euro erhalten haben.

Wie Ministerin Touraine in ihrem Statement bei der Pressekonferenz betonte, wurden sämtliche Bestimmungen, die die Durchführung der Studie betreffen, das heißt auch diejenigen in Bezug auf das Auftragsforschungsinstitut, eingehalten. Die ANSM wurde unverzüglich mit einer Überwachungsmaßnahme beauftragt, um die Einhaltung der für klinische Studien relevanten Vorschriften und der guten klinischen Praxis vor Ort zu überprüfen. Außerdem sollte die Generalinspektion für soziale Angelegenheiten (IGAS) eine sorgfältige Besichtigung vornehmen, unter anderen auch hinsichtlich der Berichterstattung über schwerwiegende unerwünschte Ereignisse. Ein erster Sachstandsbericht soll bis Ende dieses Monats vorliegen, der Abschlussbericht vor Ende März. Weiterhin wurden alle Probanden, die den Test-Wirkstoff seit dem 9. Juli eingenommen haben, dazu aufgefordert, zu einer genaueren medizinischen Untersuchung in die Universitätsklinik von Rennes zu kommen.

Zuverlässige Unternehmen

Das Auftragsforschungsinstitut Biotrial bezeichnet sich auf seiner Webseite selbst als „Nischenprovider mit strategischen Standorten“. 200 von insgesamt 300 Mitarbeitern des Unternehmens, das als absolut zuverlässig gilt, sind in Rennes beschäftigt, weitere an Standorten in Belgien, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada. Neben Studien an gesunden Probanden führt Biotrial auch Studien zur Sicherheitspharmakologie durch. Das Unternehmen verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet. Es hat eine eigene Apotheke, die sich um das Handling der Studienmedikation kümmert. Jedem Projekt wird regelmäßig ein Apotheker und ein pharmazeutischer Assistent zuge­ordnet.

Bial ist ein renommiertes portugiesisches Pharmaunternehmen mit Sitz in der Region Porto. In Europa unterhält es außerdem Niederlassungen in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz. Es gehört zu den Top 10 der Pharma-Branche Portugals.

Nichts Vergleichbares bekannt

Die französische Gesundheitsministerin gab sich in Rennes zutiefst betroffen und konsterniert: „Der Schock war umso größer, als Unfälle von solcher Schwere bislang nicht berichtet worden sind,“ sagte sie. „Mir ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts Vergleichbares bekannt. Was geschah, ist beispiellos, und fordert von uns die größte Wachsamkeit. Ich erinnere daran, dass es sich um gesunde Menschen in einer klinischen Studie der Phase I handelt. Sie konnten nicht erwarten, dass ihre Gesundheit in Gefahr ist.“

In Phase I wird ein Wirkstoff erstmals an Menschen (first-in-human) verabreicht, nachdem umfangreiche Studien an Tieren eine ausreichende Sicherheit nachgewiesen haben. Dies ist stets eine besondere Phase in der klinischen Erprobung eines neuen Arzneimittels. Unmöglich können die Studien an Tieren alle Wirkungen voraussagen. Und selbst nach einem kompletten erfolgreichen klinischen Forschungsprogramm kann es in der breiten Anwendung noch unliebsame Überraschungen geben.

Offene Fragen

Trotz dieser Imponderabilien, die wohl akzeptiert werden müssen, bleiben zurzeit viele Fragen offen: Zum Beispiel ist zu klären, ob der Schaden tatsächlich durch BIA 10-2474 ausgelöst wurde oder vielleicht durch eine Verunreinigung. Falls BIA 10-2474 dafür verantwortlich ist, liegt es an dem bekannten Wirkmechanismus, der FAAH-Inhibition oder einem anderen Mechanismus? Warum erhielten relativ viele Patienten Placebo, was von Experten als ungewöhnlich eingestuft wird? Offenbar bekamen die Probanden in der Kohorte die erste Dosis und damit wahrscheinlich auch die Folgedosen mehr oder weniger gleichzeitig. Warum nicht nacheinander, wie es bei „first-in-human“ seit der TeGenero-Tragödie im Jahr 2006 vorgeschrieben ist? Nach der geltenden EU-Guideline, die sich mit den Strategien für solche Studien befasst, sollte die allererste Dosis zunächst nur einem einzigen Patienten gegeben werden. Die weitere Verabreichung der Dosen innerhalb der Kohorte sollte dann sequenziell erfolgen, um das Risiko zu mindern. Zwischen der Gabe des Prüfarzneimittels an den ersten, den zweiten und weitere Probanden innerhalb einer Kohorte muss genügend Zeit liegen, um die jeweils bis dahin beobachteten Wirkungen und Nebenwirkungen interpretieren zu können. Dosissteigerungen sollten mit Vorsicht erfolgen. Dabei sollte die nächste Dosis stets auf Basis der Abschätzung potenzieller pharmakologischer Effekte und etwaiger Nebenwirkungen gewählt werden. Wichtig ist, dass die ersten Dosen sehr gering sein können, so dass frühe Kohorten möglicherweise gar keine pharmakologischen Wirkungen zeigen. Auch im Falle, dass es hier keine Response gibt, sollten die Vorsichtsmaßnahmen bei der nächsten Kohorte dieselben sein wie bei der vorherigen Kohorte.

Hätten die katastrophalen Wirkungen sich eventuell schon in den Tierstudien zeigen können? War die Testung möglicherweise nicht adäquat, um diese anzuzeigen? Auf das Ergebnis der Untersuchungen darf man gespannt sein. |

Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP). Guideline on strategies to identify and mitigate risks for first-in-human clinical trials with investigational medicinal products of 19 July 2007 (EMEA/CHMP/SWP/28367/07).

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