Feuilleton

Vom Mo zum Krok

Hintergründe der Geschichte eines aktuellen Suchtmittels*

Mo (gesprochen Em-O) ist ein bei Pharmazeuten gebräuchliches Akronym für Morphin. Krok oder Krokodil ist eine in der Drogenszene übliche Bezeichnung für Desomorphin.

Erst die Säuren, dann die Basen

Nachdem Essig und Milchsäure schon jahrtausendelang eine Rolle in der abendländischen Küche gespielt hatten, wurden im 18. Jahrhundert verschiedene organische Säuren in reiner Form dargestellt (so Oxalsäure 1769, Weinsäure 1769, Milchsäure 1780, ­Citronensäure 1784, Äpfelsäure 1785; alle von dem deutsch-schwedischen Apotheker und Chemiker Carl Wilhelm Scheele entdeckt). Danach vergingen nur einige Jahrzehnte bis zum Jahr 1804, in dem es dem angehenden Apotheker Friedrich Wilhelm Adam Sertürner gelang, erstmals ein Al­kaloid zu isolieren: das Morphin aus Opium, von ihm selbst „Morphium“ genannt.

Abb. 1: Möglichkeiten zur Molekülprofilierung des Morphins. Der gelbe Bereich ist essenziell für die analgetische Wirkung der Verbindungen und bleibt bei allen Variationen erhalten.

Eine Besonderheit des Morphins ist sein amphoterer Charakter. Es enthält neben dem alkalisch reagierenden tertiären Amin eine sauer reagierende phenolische OH-Gruppe. Es kann also sowohl mit Säuren als auch mit Basen Salze bilden und lässt sich weder aus saurer noch aus alkalischer wässriger Lösung mit Löse­mitteln ausschütteln.

Molekülprofilierungen

Opium gehört zu den ältesten Rauschgiften der Welt; sein Hauptalkaloid Morphin setzte diese Tradition auf einer höheren Ebene fort. Andererseits wird Morphin als offizineller Arzneistoff zur Bekämpfung starker bis stärkster Schmerzen eingesetzt.

Wegen seines amphoteren Charakters bleibt es in allen Kompartimenten des menschlichen Körpers wasserlöslich und kann die Blut-Hirn-Schranke in unveränderter Form kaum überwinden. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, diesen Mangel durch Derivatisierung oder Molekülprofilierung zu beseitigen und zugleich die analgetische und die suchtmachende Wirkkomponente voneinander zu trennen. Dazu erschienen folgende chemische Operationen geeignet:

  • Entfernung oder Substitution der Methylgruppe sowie Quaternisierung des tertiären Amins (Ring D),
  • Alkylierung oder Acylierung einer oder beider OH-Gruppen (Ring A und Ring C),
  • Dehydratisierung von Ring C (β-Eli­minierung von H-OH, 4 in Abb. 3),
  • Hydrierung der Doppelbindung in Ring C (1 in Abb. 3), danach Oxida­tion der OH-Gruppe zur Carbonylgruppe (2) und Hydroxylierung (3),
  • Hydrierung der Doppelbindung in Ring C (wie oben), dann Dehydratisierung (β-Eliminierung von H-OH, 5a und 5b) und Hydrierung (6).

Abb. 3: Profilierungen am Ring C des Morphins (hier vereinfacht gezeichnet).

Diese Molekülprofilierungen seien kurz kommentiert:

Eine Demethylierung des Amins erfolgt im Zuge der Biotransformation. Der Austausch der Methylgruppe durch einen Cyclopropylmethylrest oder eine Allylgruppe führt – zusammen mit anderen Änderungen – zu den Opioidrezeptor-Antagonisten ­Naloxon und Naltrexon (Abb. 2).Die Quaternisierung des tertiären Amins verstärkt die Hydrophilie, wird aber therapeutisch selten genutzt, z. B. beim Methylnaltrexon.

Die Methylierung (einfachste Form der Alkylierung) der phenolischen OH-Gruppe (Ring A) führt zum Codein (Abb. 4), das bereits als Nebenalkaloid im Opium enthalten ist, als Antitussivum verwendet wird, zu Morphin metabolisiert werden kann und in Russland ohne Rezept zu erwerben ist.

Abb. 2: Synthetische Morphin-Derivate (Opioide) aufgrund einer Substitution (gelb) der Methylgruppe am Stickstoff (Ring D) und/oder der alkoholischen OH-Gruppe (Ring C).

Eine besondere Art der Alkylierung der alkoholischen OH-Gruppe (Ring C) ist die Pegylierung. Darunter versteht man die Anknüpfung mehrerer Polyethylenglycolreste, die im Naloxegol mit der Zahl 7 realisiert ist (Abb. 2). Es zeigt keine zentralen Effekte und kann bei Opioid-induzierter Obstipation eingesetzt werden. – Die Acetylierung (als Beispiel einer Acylierung) an beiden OH-Gruppen liefert das Diamorphin (Heroin©, Abb. 4), das als entschärftes Morphin zur therapeutischen Schmerzbekämpfung gedacht war, sich aber als gefährliches Rauschgift entpuppte. Infolge der fehlenden freien OH-Gruppen ist es so lipophil, dass es die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden vermag.

Abb. 4: Wichtige natürliche und synthetische Morphin-Derivate.

Dehydratisiertes Morphin (4 in Abb. 3) dürfte u. a. bei der laienhaften Herstellung des Desomorphins aus Codein mit Iod und rotem Phosphor entstehen.

Die Hydrierung zum Dihydromorphin (1 in Abb. 3) hat im analogen Dihydrocodein (Abb. 4) zu einem wertvollen Antitussivum geführt. Die weitere Oxidation zum Hydromorphon (2) bzw. Hydrocodon erbrachte ein starkes Analgetikum und ein wertvolles Antitussivum. Die analgetische Wirkung des Hydromorphons wird noch verstärkt durch dessen Hydroxylierung (3) zum Oxycodon (Abb. 4).

Für die Umwandlung des Dihydro­morphins zum Desomorphin (1 und 6 in Abb. 3) durch die Abspaltung der alkoholischen OH-Gruppe dürfte weniger eine direkte Hydrogenolyse nach dem Schema R–OH + H2 – H2O = R–H infrage kommen als vielmehr eine β-Eliminierung zu den Zwischenprodukten 5a und 5b und deren Hydrierung (entsprechende Reaktion auch beim Dihydrocodein).

Krok ist mehr als Desomorphin

Bei der in der Szene üblichen Gewinnung des Krok durch Umsetzung von Codein mit einem höllischen Cocktail aus Iod, rotem Phosphor, Salzsäure und Lösemitteln sind u. a. Reduktionsreaktionen, Spaltung des zyklischen Ethers (Brücke zwischen Ring A und Ring C), β-Eliminierun­gen, Fragmentierungen und Iodierungen des aromatischen Ringes A zu erwarten.

Man muss also von der Bildung mehrerer Nebenprodukte ausgehen, die wesentlich toxischer sind als das Desomorphin, das bereits 1932 synthetisiert und 1934 patentiert wurde. Desomorphin war – produziert von Hoffmann-La Roche – unter dem Warennamen Permonid® im Handel, zählt aber heute in Deutschland und Österreich zu den nicht verkehrsfähigen ­Betäubungsmitteln.

Die Bezeichnung „Krokodil“ geht auf die Beobachtung zurück, dass sich die Haut an der Einstichstelle (i.m. Applikation) grün verfärbt und runzelig wird. Medienberichten zufolge macht die Droge schon nach einmaligem Gebrauch abhängig und führt bei regelmäßiger Injektion nach etwa einem Jahr zum Tode. Die schweren Gewebeschädigungen, Venenentzündungen und Nekrosen beruhen auf den toxischen Nebenprodukten, die aus der unsachgemäßen Herstellung stammen.

Andere Opioide

Um das Wirkungsspektrum des ­Morphins zu erweitern, hat man außer der geringfügigen Molekülprofilierung auch die massive Molekülvergrößerung betrieben, wie sie im Buprenorphin (Abb. 4) realisiert ist. Als Rauschgift ist es wegen der schwierigen und komplizierten Herstellung uninteressant.

Eine andere Möglichkeit der Molekülprofilierung des Morphins besteht in seinem – theoretisch zu vollziehenden – „Abspecken“ zum Pethidin (siehe Steinhilber, Schubert-Zsilavecz, Roth, Medizinische Chemie, 2. Aufl., S. 187). Dessen reverser Ester wird als MPPP (1-Methyl-4-phenyl-4-propion-oxy-­piperidin) bezeichnet und ist eine beliebte synthetische Droge (Abb. 5).

Abb. 5: „Abgespeckte“ Opioide: Pethidinund sein reverser Ester MPPP.

Morphinan-Derivate, beispielsweise Dextromethorphan, werden nicht durch den Abbau von Morphin er­halten, sondern vollsynthetisch auf­gebaut. Zudem gilt Dextromethorphan aus pharmakologischer Sicht nicht mehr als Opioid.

Ansichtssache

Zum Schluss sei die Frage erlaubt, wie die Wirkqualitäten zu benennen sind, die bei der Modifikation des Morphins durch die verschiedenen Eingriffe verursacht werden: Wird das Morphin

  • veredelt oder ramponiert?
  • verbessert oder verbogen?
  • entschärft oder kriminalisiert?
  • umgekrempelt oder moduliert? |

Literatur

Hackenthal E. Desomorphin, Hagers Handbuch der Pharmazeutischen Praxis, Band 4, 5. Auflage, Springer-Verlag, Berlin 1998

US-Patent 1980972 für Desomorphin, Erfinder Lyndon Frederick Small.

Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1997, Teil II, Anhang I

Neue Billigdroge „Krokodil“: Der Stoff, der ­Junkies verfaulen lässt. www.spiegel.de, News vom 9. Juli 2011

Roth HJ. Diamorphin – Ironie eines Arzneistoff-Schicksals. Dtsch Apoth Ztg 2007;147:5592

Steinhilber D, Schubert-Zsilavecz M, Roth HJ. Medizinische Chemie, 2. Aufl. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart 2010

Autor

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth, Friedrich-Naumann-Str. 33, 76187 Karlsruhe

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* Herrn Prof. Dr. Thomas Jira in kollegialer Verbundenheit mit besten Wünschen zum 65. Geburtstag gewidmet.

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