Wirtschaft

Die digitale Welle reiten

Gesundheit wird zum digitalen Lifestyle – wichtige Rolle für Apotheker

BERLIN (wes) | Uhren, die ständig die Vitalparameter messen, Technologiekonzerne, die in den Gesundheitsmarkt drängen, Kapseln, die ihre korrekte Einnahme kontrollieren, Menschen, die ihren Gesundheitszustand in sozialen Netzwerken teilen: Der digitale Lebensstil wird tiefgreifende Auswirkungen auf das Gesundheitssystem haben. Werden die Apotheker von der „digitalen Welle“ hinweggespült oder gelingt es ihnen, sie wie ein Surfer zu reiten?

Gesundheit ist für den Internet-Aktivisten und Digital-Journalisten Sascha Lobo ein wesentlicher Bestandteil des „digitalen Lifestyles“. Er beobachtet eine zunehmende „Datenbegeisterung“ in der Bevölkerung – es gebe geradezu den Drang, Daten zu erheben und diese zu teilen. Die dadurch entstehenden Datenströme könnten zu ungeheuren Effizienzsteigerungen führen. Das Gesundheitswesen sei deshalb geradezu prädestiniert für diese Entwicklungen, wie Lobo am Mittwoch in Berlin auf der „Digitalkonferenz“ Vision.A sagte.

Foto: Reto Klar

Internet-Aktivist Sascha Lobo ist überzeugt, dass Daten und die diese analysierende Software selbst zu Arzneimitteln werden.

Problematisch an dieser Entwicklung ist jedoch, dass diese Datenströme zunehmend auch einen Machtfaktor darstellen. Dabei denkt Lobo nicht nur an Krankenversicherungen oder Arbeitgeber, die Interesse an Daten zu Vorerkrankungen oder gar zukünftigen Krankheitsrisiken von einzelnen Versicherten oder (potenziellen) Angestellten haben. Er ist überzeugt, dass Daten und die Software, die diese analysiert, selbst zu Arzneimitteln werden. Unternehmen forschten bereits an Nanorobotern, die in der Blutbahn zirkulieren und gezielt beispielsweise Krebszellen vernichten können. Doch die Frage, welche Zelle entartet ist und entfernt werden soll, lässt sich nur mithilfe von riesigen Datenmengen und den entsprechenden Analyse-Algorithmen beantworten – die damit zu einem Teil des Therapeutikums werden. Aber man muss gar nicht in die ferne Zukunft blicken. Schon heute gibt es beispielsweise in den USA elektrische Zahnbürsten, die genau erfassen, wie lange welche Zähne wie oft geputzt werden – und diese Daten an eine App übertragen.

Kafkaeske Dystopie oder ungeheures Potenzial?

Dabei bleibt es aber nicht. Erste Versicherungen locken mit niedrigeren Beiträgen, wenn die Versicherten der Erfassung bestimmter Gesundheitsdaten über sogenannte Wearables (mit Sensoren ausgestattete kleine Geräte wie Armbänder oder Uhren, die die erfassten Daten an das Smartphone funken) zustimmen. Wenn er dies höre, wünsche er sich, dass Kafka noch lebe und einen Roman über den Mann schreibe, der eines Tages aufwacht und mitansehen muss, wie er wegen eines statistischen Krankheitsrisikos nicht nur bei einer Beförderung ignoriert, sondern auch von seiner Freundin verlassen werde, meint Dr. Georg Ralle, Generalsekretär des Netzwerks gegen den Darmkrebs.

Dabei sagt auch Ralle, dass in der Datennutzung ungeheure Potenziale liegen. Nur durch die Analyse großer Datenmengen könne beispielsweise nach einer Tumorsequenzierung bestimmt werden, welche Therapie die besten Heilungsaussichten für den jeweiligen Patienten birgt.

Für Lobo ist diese Ambivalenz zwischen der Begeisterung für die Chancen und der Angst vor den Risiken nicht überraschend: „Eine Mischung aus Furcht und Faszination ist etwas ganz normales, wenn man dem Fortschritt gegenübersteht.“ Ähnlich äußert sich die Gaggenauer Apothekerin Tatjana Zambo. Datensammlung und -analyse könne in vielen Fällen nützlich oder auch nur bequem sein, meistens sei das auch völlig unschädlich – das ändere sich aber schlagartig, wenn es um Krankheiten bzw. Risiken für eine Erkrankung gehe. Hier sei die Sensibilität gerade in Deutschland zu Recht hoch.

Niedrigschwelliger als das Internet

Für Zambo eröffnet die Digitalisierung aber auch große Chancen, auch und gerade für Apotheken. Diese könnten sich als Lotsen in ­einem digitalisierten Gesundheitssystem etablieren und profilieren. Unterstützung kommt von Gerd Folkers, Professor für Pharmazeu­tische Chemie an der ETH Zürich und bis vor Kurzem Leiter des interdisziplinären Collegium Helveticum. Apotheken sind und bleiben die Anlaufstelle mit der niedrigsten Zugangsschwelle im ganzen Gesundheitssystem, ist Folkers überzeugt, „viel niedriger als das Internet. Dort kann man zwar viel fragen, bekommt aber eben auch zu viele Antworten“. Für Folkers könnte das die „vornehmste Aufgabe der Apotheker“ werden: die Menschen hier zu unterstützen.

Dass die Digitalisierung schon heute Realität auch für die Apotheken ist, betont Joss Hertle von Google Deutschland. Gesundheit spiele beispielsweise im Internet eine überragende Rolle. Alleine in Deutschland gebe es pro Jahr rund fünf Milliarden Suchanfragen nach Gesundheitsthemen. Die zunehmende mobile Nutzung des Internets auf Smartphones führt laut Hertle zu immer lokaleren Suchanfragen („Wo ist die nächste …“). Schon heute gehöre „Apotheke“ zu den häufigsten lokalen Suchbegriffen überhaupt. Mobil werde vor ­allem nach den Apotheken-Notdiensten, -Öffnungszeiten und der nächstgelegenen Apotheke gesucht.

Drei Regeln für den „digitalen Fahrplan“

Google empfiehlt Apotheken, die sich im Internet professionell präsentieren und von den Nutzern einfach gefunden werden wollen, folgende drei Punkte zu beherzigen:

1. Sichtbarkeit: Die Apotheke in Google MyBusiness eintragen. Dazu ist ein (kostenloser) Google-Account notwendig. Geben Sie dort und auf Ihrer Website so viele Informationen über die Apotheke (Öffnungszeiten, Spezialisierungen …) an wie möglich.

2. Erreichbarkeit: Kontrollieren Sie, ob Ihre Apotheke bei Google Maps gefunden wird. Wenn nicht, tragen Sie sie ein. Korrigieren Sie ggf. falsche Angaben.

3. Differenzierung: Machen Sie sowohl in Google MyBusiness als auch auf Ihrer Website klar, was Ihre Apotheke von anderen unterscheidet.

Beratungsklau selten

Nebenbei entkräftete Hertle in Berlin auch noch ein weit verbreitetes Vorurteil: Acht von zehn Nutzern, die nach einem Arzneimittel suchten, kauften dieses später in einer stationären Apotheke. Den viel beklagten „Beratungsklau“, wenn nach ausgiebiger Beratung in der Apotheke doch billiger im Internet bestellt wird, mag es geben. Das Phänomen „ROPO“ (resarch online, purchase offline), bei dem einer intensiven online-Recherche der Kauf im stationären Handel folgt, sei gerade im Arzneimittelbereich aber sehr stark ausgeprägt, so Hertle.

Keine Angst vor „Plattformen“

Experten wie Lobo oder Andreas Liedtke von der Unternehmensberatung A. T. Kearney sehen aber noch ganz andere Auswirkungen der Digitalisierung auf den Gesundheitsmarkt zukommen: „Plattformen“. Solche übergreifenden, horizontalen Geschäftsmodelle (beispielsweise von Amazon, die heute vorwiegend den Marktplatz für andere Verkäufer zur Verfügung stellen, oder Apple, die ein komplettes „Ökosystem“ aus Computern, Smartphones, Software, Apps, Musik usw. anbieten) können den Zugang zu ganzen Märkten kontrollieren. Für Liedtke ist das zunehmende Interesse großer Technologie- und Lebensmittelunternehmen am Gesundheitsmarkt ein starkes Indiz dafür, dass die Entwicklung vor diesem Bereich nicht Halt machen wird. Er erwartet, dass Konsumgüter- und Technologieunternehmen zusammen mit der „klassischen“ Gesundheits- und Pharmaindustrie versuchen werden, solche Plattformen und „digitale Ökosysteme“ zu bilden.

Für Kerstin Neumann ist das aber kein Schreckensszenario. Neumann, beim Vision.A-Veranstalter Apotheke adhoc für den Bereich Pharmazie zuständig, sieht die Apotheke gut gerüstet. Bei allen bisher bekannt gewordenen Konzepten für „digitale Ökosysteme“ im Gesundheitswesen sei der Apotheker weiterhin notwendig. Oft biete er den Patienten den einzigen Kontakt zu einem echten Menschen, beispielsweise wenn Algorithmen in einer App die Diagnosestellung und Therapieentscheidungen übernähmen.

Liedtke ist da skeptischer. Es gelte für die Apotheker, in dieser neuen digitalen Welt einen Platz zu finden. Dabei solle man durchaus auch ausprobieren und sich keinesfalls zu früh an eine Plattform binden. Doch ein bisschen aktiver müssten die Apotheker in seinen Augen schon werden. |

Barrierefreiheit einmal anders

In Berlin gebe es eine Postfiliale, an deren Eingang eine Klingel angebracht sei, ­erzählt Raúl Aguayo-Krauthausen, Internetaktivist und Mitgründer von wheelmap.org. Wer nun aber erwarte, dass der Rollstuhlfahrer zur Umgehung der Treppenstufen durch einen Hintereingang o. ä. in den Verkaufsraum gebracht werde, täusche sich. Auf das Klingeln hin erscheine nämlich ein Postmitarbeiter, der mithilfe eines Klapptisches auf dem Gehsteig eine „kleine Postfiliale eröffnet“. Was im Sommer ja noch ganz lustig sei, werde „im Winter einfach nur kalt!“. Also weder aus Sicht der Rollstuhlfahrer noch im Licht der Apothekenbetriebsordnung eine sinnvolle Alternative zum teuren Umbau einer bisher nicht barriere­freien Apotheke.

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