Arzneimittel und Therapie

Weniger ist manchmal mehr

Werden ältere Diabetiker überbehandelt?

Amerikanische Wissenschaftler stellten die Hypothese auf, dass bei vielen älteren Diabetikern in den USA die Blutzuckereinstellung zu streng erfolgt. Eine Analyse der Gesundheits- und Behandlungsdaten einer repräsentativen Kohorte ergab tatsächlich, dass annähernd zwei Drittel der Diabetiker über 65 trotz eines mittleren bis schlechten Gesundheitszustandes jahrelang auf einen Ziel-HbA1c unter 7% eingestellt sind. Mehr als die Hälfte wurde jahrelang mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen behandelt, obwohl die Risiken einer solchen Therapie in dieser Altersgruppe den Nutzen überwiegen können.

Was empfehlen die Leitlinien in Deutschland?

Aktuell empfiehlt die Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) „Therapie des Typ-2-Diabetes“ für Erwachsene einen HbA1c-Zielkorridor von 6,5% bis 7,5%, der der Primärprävention von Folgekomplikationen dienen soll. Worauf in diesem Korridor abgezielt werden soll, hängt nach der NVL von folgenden individuellen Aspekten ab:

  • Patientenwille nach Aufklärung
  • Alter und Komorbidität (je jünger und gesünder, desto näher am empfohlenen Ziel-HbA1c)
  • Abwägung von Nutzen und Risiken (Hypoglykämien, Gewichtszunahme) der Substanzen
  • Art der eingesetzten Substanz (mit Metformin um 7%, gegebenenfalls bei guter Verträglichkeit auch darunter, mit Glibenclamid und Insulin maximale Senkung auf 7%)

Für die Diabetestherapie im Alter bzw. in der Altenpflege werden besondere Empfehlungen ausgesprochen:

  • Für alte Menschen mit Diabetes ohne funktionelle oder kognitive Beeinträchtigungen und mit angemessener Lebenserwartung sind die gleichen Therapieziele wie bei allen Erwachsenen zu berücksichtigen.
  • Im Vordergrund steht im Alter aber die Vermeidung Diabetes-spezifischer Symptome. Unter diesem Gesichtspunkt sind die HbA1c-Zielwerte individuell festzulegen. Zentrales Therapieziel ist die strikte Vermeidung von Hypoglykämien.
  • Generell ist ein HbA1c-Zielbereich zwischen 7 und 8% sinnvoll.
  • Bei neu entdecktem Diabetes im Alter kann bei gesundem und fittem Allgemeinzustand durchaus noch ein HbA1c-Ziel in Richtung 7 bis 7,5% angebracht sein, während bei älteren multimorbiden Patienten mit eher kürzerer Lebenserwartung ein HbA1c-Ziel über 8% noch tolerabel ist.

Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät der Yale University sind der Ansicht, dass eine strenge Blutzuckereinstellung bei älteren Diabetikern, obwohl sie möglicherweise eher schadet als nützt, dennoch häufig praktiziert wird. Sie führten deshalb eine Untersuchung durch, in der Beziehungen zwischen der glykämischen Kontrolle und dem Gesundheitsstatus evaluiert und die Prävalenz einer möglichen Überbehandlung bestimmt werden sollte. Ihre Analyse basiert auf den Daten von 1288 Diabetikern (≥ 65 Jahre), bei denen im Rahmen des amerikanischen Gesundheitssurveys NHANES (National Health and Nutrition Examination Survey) zwischen 2001 und 2010 ein HbA1C-Wert erfasst worden war. Eigentliches Ziel von NHANES ist es, mithilfe von Patientengesprächen und körperlicher Untersuchung den Gesundheits- und Ernährungszustand von Erwachsenen und Kindern in den USA zu erheben und zu dokumentieren. In der betrachteten Kohorte lag das mittlere Alter bei 73,2 Jahren, rund 21% waren ≥ 80 Jahre alt.

Foto: Miriam Dörr – Fotolia.com

Ältere Diabetiker profitieren von einer strengen Blutzuckereinstellung möglicherweise nur wenig. Bei ihnen ist das Risiko für Hypoglykämien höher. Dennoch werden sie oft über viele Jahre mit Insulin und Sulfonylharnstoffen behandelt, die zu schweren Hypoglykämien führen können.

Die ausgewählten Teilnehmer wurden hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes in drei Gruppen eingeteilt:

  • schlechter Gesundheitszustand: Dialysepflicht oder Schwierigkeiten mit zwei oder mehr basalen Alltagsaktivitäten (wie z. B. Waschen, Ankleiden, Fortbewegung, Kontrolle von Ausscheidungen)
  • mittlerer Gesundheitszustand: Schwierigkeiten mit zwei oder mehr komplexeren Alltagsaktivitäten (z. B. Einkaufen, telefonieren, sich außerhalb der Wohnung zurechtfinden, finanzielle Angelegenheiten regeln) oder mehr als drei chronische Erkrankungen
  • relativ gesund: keines der genannten Merkmale trifft zu.

Von den 1288 älteren Erwachsenen mit Diabetes waren rund 51% relativ gesund, rund 28% bei mittlerer Gesundheit und rund 21% in schlechtem Gesundheitszustand. Insgesamt besaßen 62% einen HbA1c unter 7%; dieser Anteil war in allen drei genannten Gruppen annähernd gleich verteilt (p = 0,26). Bei 32% lag der HbA1c zwischen 7% und 8,9%, bei 6% ≥ 9%. Bemerkenswert war, dass 45 bzw. 38% der Diabetiker mit mittlerem oder schlechtem Gesundheitszustand sogar einen HbA1c unter 6,5% aufwiesen. Rund 55% der älteren Diabetiker mit einem HbA1c < 7% wurden mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen behandelt. Auch dieser Anteil war in allen drei Gruppen ähnlich (51%, 59% bzw. 60%, p = 0,14).

Auch Diabetiker mit einem HbA1c < 6,5% wurden mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen behandelt: 44% der relativ Gesunden, rund 52% der Patienten mit mittlerem und rund 56% der mit schlechtem Gesundheitszustand.

Jahrelange strenge Blutzuckereinstellung

Über den Beobachtungszeitraum von zehn Jahren hinweg gab es keine signifikanten Veränderungen im Anteil der älteren Diabetiker mit einem HbA1c < 7%. Auch die Patienten mit einem HbA1c < 7%, die einen mittleren oder schlechten Gesundheitszustand aufwiesen, wurden über diesen Zeitraum hinweg mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen behandelt.

Die Autoren vertreten die These, dass ein substanzieller Anteil von Diabetikern in den USA potenziell überbehandelt ist, weil sie trotz mäßigem Gesundheitszustand mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen therapiert werden, die bekanntermaßen Hypoglyk­ämien und andere Nebenwirkungen hervorrufen können. Nach diesen Ergebnissen sprechen sich die Studienautoren dafür aus, ältere Diabetiker individueller zu behandeln und die Komorbiditäten in dieser Altersgruppe stärker zu berücksichtigen (s. Kasten). |

Quelle

Lipska KJ et al. Potential overtreatment of diabetes mellitus in older adults with tight glycemic control JAMA Intern Med (2015), doi:10.1001/jamainternmed.2014.7345, online vorab publiziert am 12. Januar 2015

Nationale Versorgungsleitlinie „Therapie des Typ-2-Diabetes“, 1. Auflage August 2013, zuletzt geändert im November 2014, www.awmf-online.de, Zugriff 11. Februar 2015

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

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