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Arzneimittel und Therapie
Das Update 2015 der Beers-Liste
Problematische Arzneistoffe für Senioren: Ein Überblick über die Aktualisierungen
Nachdem der amerikanische Geriater Mark H. Beers und seine Mitarbeiter 1991 die ursprüngliche Version einer Auflistung von im höheren Lebensalter potenziell inadäquaten Medikationen (PIM) veröffentlicht hatten, verpflichtete sich die American Geriatrics Society (AGS), diese Liste in angemessenen Zeitabständen zu aktualisieren. Diese Updates fanden 1997, 2003 und 2012 statt. Dabei wurden nicht nur neue oder neu als PIM erkannte Arzneimittel ergänzt, die Liste selbst wurde ebenso erweitert. Ab 2003 bestand sie aus zwei Teilen. Der erste Teil enthält – vergleichbar mit der deutschen PRISCUS-Liste – eine Aufstellung von Arzneimitteln, die bei älteren Menschen problematisch sein können, meist weil sie bei dieser Zielgruppe verstärkt zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) führen. Beim zweiten Teil handelt es sich um eine Auflistung von Arzneimitteln, die bei älteren Patienten mit bestimmten alterstypischen Erkrankungen („geriatrischen Syndromen“) problematisch sein können. Der Ausdruck „problematisch“ wird hier deshalb verwendet, weil die AGS stets betont, dass die Listung eines Arzneistoffs kein absolutes Verbot seines Einsatzes bei Senioren darstellt. In manchen Situationen kann der Einsatz von PIM auf der Basis einer fundierten Abwägung von Nutzen und Risiken vertretbar oder gar unumgänglich sein. Die AGS nimmt daher bestimmte Situationen wie das palliative Setting in Hospizen und Kliniken oder die Therapie von Infektionen (das einzige aufgeführte Antiinfektivum ist Nitrofurantoin – siehe unten) aus dem Anwendungsbereich der Beers-Liste heraus.
Mit dem jüngsten Update hat die Beers-Liste zwei weitere Teile dazugewonnen, nämlich die Interaktionsliste (drug-drug-interactions) und die auf der Verschlechterung der Nierenfunktion basierenden PIMs. Beides ist erklärungsbedürftig.
Neu: Typische Interaktionen
Die AGS betont, dass diese neue Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und keinesfalls die klinische Relevanz von nicht aufgelisteten Wechselwirkungen herabsetzen soll. Im Text werden als Beispiele folgende Interaktionen genannt:
- Alpha-1-Blocker plus Schleifendiuretika: Erhöhung des Risikos von Harninkontinenz insbesondere bei Frauen
- Drei oder mehr ZNS-aktive Substanzen: Erhöhung des Sturzrisikos
- ACE-Hemmer plus kaliumsparende Diuretika (Triamteren und Amilorid, ohne Indikation bei Herzinsuffizienz): Risiko von Hyperkaliämien
- Lithium plus ACE-Hemmer oder Schleifendiuretika: Erhöhte Lithium-Toxizität
Es handelt sich bei diesem Teil der Beers-Liste wohl am ehesten um den Versuch, die Anwender mit den am häufigsten ignorierten Interaktionen in der Geriatrie vertraut zu machen und sie dafür zu sensibilisieren, dass gerade diese Meldungen bei einem Interaktionscheck nicht übergangen werden sollten. Um die Aufnahme dieses neuen Teils in die Beers-Liste zu verstehen, muss man die amerikanische Situation kennen, in der Ärzte und Apotheker eng zusammenarbeiten. Anders als in Deutschland, wo die ärztliche Standespolitik darauf abzielt, den Apothekern im ambulanten Sektor möglichst alle therapierelevanten Patientendaten vorzuenthalten, besteht im interdisziplinär kooperativen Amerika das Problem nicht mehr in der Frage, ob ein Interaktionscheck überhaupt gemacht wird, sondern in der Relevanzbewertung der gemeldeten Interaktionen.
Neu: Von der Nierenfunktion abhängige PIMs
Dieser neue Teil wurde in den Augen der AGS wohl notwendig durch die Einführung der neuen/direkten oralen Antikoagulanzien (NOAK/DOAK) Edoxaban, Apixaban, Dabigatran und Rivaroxaban, bei denen (abhängig vom Grad der Nierenfunktionseinschränkung) ein unterschiedlich großes Blutungsrisiko infolge der Kumulation der Substanzen besteht. Über die NOAK und die parenteralen Antikoagulanzien Enoxaparin und Fondaparinux hinaus beinhaltet die Liste die kaliumsparenden Diuretika Spironolacton und Triamteren, ZNS-aktive Substanzen (Duloxetin, Gabapentin, Levetiracetam, Pregabalin, Tramadol), H2-Blocker und die bei Gicht eingesetzten Substanzen Colchicin und Probenecid. Auch hier wird offensichtlich wieder das Ziel der Sensibilisierung der Verschreiber verfolgt und keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Stoffe mit weithin bekannt hohem Risiko bei reduzierter Nierenleistung, wie z. B. Metformin, fehlen.
Bei so viel Erklärungsbedarf ist es mit einer Veröffentlichung nicht getan. Deshalb weist die AGS auf die Begleitpublikation „How to Use the Beers Criteria – A Guide for Patients, Clinicians, Health Systems and Payors“ hin, die allerdings bisher im Internet noch nicht verfügbar ist. Ebenso wird eine zweite Begleitpublikation angekündigt, die sich mit therapeutischen Alternativen zu PIMs befassen soll.
Viel Stoff zum Nachdenken
Die Lektüre der Kommentare zu den Stoffen, deren Bewertung sich im Vergleich zu 2012 verändert hat, lohnt sich für Ärzte und Apotheker, weil sie zum Nachdenken über liebgewonnene Therapiegewohnheiten anregt. Der Text der Publikation greift die folgenden Änderungen heraus und begründet sie explizit:
Nitrofurantoin. Basierend auf zwei retrospektiven Studien, die eine „relative Sicherheit und Wirksamkeit“ belegen, wird der Grenzwert der Nierenfunktion von einer GFR von 60 ml/min auf 30 ml/min abgesenkt. Die langfristige Anwendung von Nitrofurantoin soll wegen des Risikos von Lungenfibrosen, Leberschäden und peripheren Neuropathien nach wie vor unterbleiben. Die Übernahme dieser revidierten Empfehlung kann in Deutschland aus forensischen Gründen nicht empfohlen werden, da die Fachinformationen eine Niereninsuffizienz „jeden Grades“ als Gegenanzeige nennen. Die veränderte Sicht auf Nitrofurantoin zeigt jedoch, wie sehr die Zunahme von Antibiotikaresistenzen gerade bei rezidivierenden Harnwegsinfekten zum Nachdenken über Reservesubstanzen zwingt, auch wenn sie über Jahrzehnte hinweg als nahezu obsolet galten.
Antiarrhythmika der Klassen Ia, Ic und III als first-line-Therapie des Vorhofflimmerns sind dem Beers-Update zufolge als Konsequenz aus neuen Studien und Leitlinien nicht mehr zu vermeiden. Der Blick auf Amiodaron, Dronedaron und Digoxin (in Tagesdosen über 0,125 mg) bleibt dennoch kritisch und der Einsatz dieser Substanzen auf definierte Indikationen limitiert.
„Z-Substanzen“ wie Zopiclon (in USA Eszopiclon), Zolpidem und Zaleplon, deren Einsatz in der Beers-Liste 2012 nur für eine Dauer über 90 Tage nicht empfohlen wurde, werden im aktuellen Update nun ohne Rücksicht auf eine Therapiedauer nicht mehr empfohlen. Dies wird damit begründet, dass die Risiken bei Senioren die, so wörtlich, „minimale Wirksamkeit“ bei der Behandlung von Schlafstörungen überschreiten. Die Nicht-Benzodiazepine, die jedoch am selben Rezeptor angreifen wie die Benzodiazepine, sind diesen in der Beurteilung für den Einsatz bei Senioren damit in jeder Hinsicht gleichgestellt. Die Message ist eindeutig: Weder Benzodiazepine noch Z-Substanzen sind eine verantwortungsvoll einsetzbare Option bei der Behandlung von Schlafstörungen in der Geriatrie, und das gilt auch für die kurzfristige Anwendung. Man wird das in deutschen Arztpraxen nicht gern hören.
Protonenpumpenhemmer (PPI). Der Einsatz von PPI über eine Dauer von acht Wochen hinaus ohne eine zwingende Indikation ist zu vermeiden. Damit zieht die AGS eine längst überfällige Konsequenz aus der (wohl auch in USA, ganz sicher aber in Deutschland) irrational zunehmenden Verschreibungshäufigkeit der PPI gerade bei Senioren. In der Tat sind auch in Deutschland die von Hausärzten verordneten PPI die meistabgesetzten Arzneimittel in der stationären Akutgeriatrie. Die AGS beruft sich bei ihrer Warnung auf eine Vielzahl von Studien sowie fünf Reviews und Metaanalysen, die ein erhöhtes Risiko von Osteoporose und Frakturen sowie von Darminfektionen insbesondere mit Clostridium difficile belegen. Das zusätzlich mit der Therapiedauer zunehmende Risiko neurologischer und kognitiver Ausfälle infolge eines PPI-induzierten Mangels an Vitamin B12 wird im Text nicht erwähnt.
Man kann nur spekulieren, was die American Geriatrics Society bewogen hat, den Abstand der Updates der Beers-Liste auf drei Jahre zu verkürzen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um eine Kombination von Gründen handelt und einerseits die Einführung der NOAK als eine für geriatrische Patienten hoch relevante, aber auch bei Fehlgebrauch riskante Klasse neuer Arzneimittel, andererseits aber auch die rasche Zunahme von Erkenntnissen in vielerlei Therapiebereichen eine Rolle spielt.
Wie immer wird es einige Wochen dauern, bis das frisch publizierte Update sich in Gestalt von Kärtchen für die Kitteltasche und anderen Medien seinen Weg ins Bewusstsein der verschreibenden Ärzte und beratenden Apotheker gebahnt hat. Natürlich wird dies zunächst in den USA geschehen, da die Beers-Liste ja speziell für diesen Markt konzipiert ist. Trotzdem sollten wir auch in Deutschland, einem Land mit nicht identischen, aber sehr ähnlichen Therapiegewohnheiten, ein Auge auf diese Liste werfen. Es lohnt sich. |
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