Arzneimittel und Therapie

Antihypertensivum bei ADHS

Guanfacin jetzt auch in Europa zugelassen

Für Kinder und Jugendliche mit ADHS wird voraussichtlich ab Januar ein neues Medikament EU-weit verfügbar sein. Die Europäische Kommission hat kürzlich Guanfacin (Intuniv®) die Zulassung erteilt. In den USA ist der Wirkstoff, ein selektiver, zentral wirksamer adrenerger α2-Agonist seit 2011 zur ADHS-Behandlung zugelassen. Guanfacin soll kein Missbrauchspotenzial besitzen, die Verschreibung erfordert kein BtM-Rezept. Häufig beobachtete Nebenwirkungen sind Blutdruckabfall und Somnolenz.

Guanfacin ist ein Phenylacetyl-Guanidin-Derivat, das als Agonist an zentralen α2A-Rezeptoren wirkt.

Neurobiologische Forschungsergebnisse lassen den Schluss zu, dass im ZNS mehrere Transmitter-Systeme an der Entstehung von ADHS beteiligt sind – nicht nur das dopaminerge, sondern auch das noradrenerge und das serotonerge System. Dysfunktionen in diesen Regelkreisen sind wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass Betroffene eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne besitzen, einer inneren Unruhe schlechter gegensteuern und/oder ihre Impulse weniger gut kontrollieren können als Menschen ohne ADHS. Wie stark die ADHS-Hauptsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität ausgeprägt sind, hängt auch von Umweltfaktoren ab.

Multimodales Therapiekonzept

Ist die Diagnose gesichert, empfehlen Leitlinien die Behandlung im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts. Dabei benötigt nicht jeder Patient Medikamente. Psychotherapie, Elterntraining (s. http://www.ag-adhs.de/adhs-hilfe/um­gang-mit-kindern-und-jugendlichen-mit-adhs.html), die Behandlung von assoziierten Störungen wie beispielsweise einer Lese-Rechtschreib-Schwäche sowie die Einbindung in Selbsthilfegruppen sind gleichberechtigte Optionen. Erst ab dem sechsten Lebensjahr ist auch die Anwendung von Arzneimitteln möglich. Derzeit sind in Deutschland vier Substanzen zur ADHS-Behandlung zugelassen (siehe Tab.)

Tab.: Derzeit in Deutschland zur Behandlung von ADHS zugelassene Wirkstoffe (modif. nach der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e. V.)
Wirkstoff
Präparate (Auswahl)
Wirkungsein­tritt nach ca.
Wirkdauer ca.
Stimulanzien
Methyl­phenidat
nicht retardiert:
Ritalin® 10 mg
Medikinet® 5, 10, 20 mg
Methylphenidat® Hexal 10 mg
20 min
2 bis 5 Std., Maximum nach 1 Std.
retardiert:
Ritalin® LA
Medikinet® retard,
- adult
Equasym® retard
30 bis 60 min
6 bis 8 Std.
Concerta®
8 bis 12 Std.
Dexamfetamin
Attentin®
60 min
6 bis 8 Std.
Lisdexam­fetamin
Elvanse®
60 min
9 bis 13 Std. (bei Kindern)
Nicht-Stimulans
Atomoxetin
Strattera®
2 bis 4 Wochen
24 Std.

Weitere Optionen

Weitere (Reserve-)Substanzen, die sich in der Behandlung von ADHS als wirksam erwiesen haben, jedoch nur off-label angewendet werden können, sind

  • die trizyklischen Antidepressiva Imipramin und Desipramin
  • atypische Neuroleptika wie Risperidon
  • der zur Raucherentwöhnung und als Antidepressivum eingesetzte, kombinierte Dopamin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Bupropion
  • das zur Behandlung der Narkolepsie zugelassene Modafinil.

Darüber hinaus sind in den USA die antihypertensiven Wirkstoffe Guan­facin (IntunivTM) und Clonidin (KapvayTM) zur Monotherapie der ADHS bzw. in Kombination mit einem Stiumlans zugelassen.

Clonidin ist ein zentraler Agonist am präsynaptischen α2A-Rezeptor. Dessen Stimulation führt zur Verringerung der Noradrenalin-Ausschüttung und damit zu einem Abfall der Sympathikus-Aktivität, was sich z. B. in Sedierung und Blutdruckabfall äußert.

Derzeit ist Clonidin in Deutschland als Reserve-Antihypertonikum sowie für hypertensive Notfälle (Catapresan®) und als Glaukommittel (z. B. Isoglaucon®) zugelassen.

Stellenwert von Guanfacin in der ADHS-Behandlung

Guanfacin ist in Anlehnung an die EMA-Empfehlung zunächst nur bei Kindern und Jugendlichen indiziert, und auch nur dann, wenn Stimulanzien nicht geeignet sind, nicht vertragen werden oder nicht wirken. Für die Verordnung wird kein BtM-Rezept benötigt. Darüber hinaus soll Guanfacin laut EMA-Empfehlung analog zu den anderen derzeit zugelassenen ADHS-Medikamenten als Teil eines multimodalen Konzepts, d. h. mit einer Kombination mehrerer Behandlungsbausteine und möglichst unter Kontrolle eines erfahrenen Spezialisten für kindliche Verhaltensstörungen zum Einsatz kommen.

Die Zulassungsempfehlung basiert auf 13 Studien, zu denen placebokontrollierte Monotherapie-Kurzzeitstudien, Untersuchungen zur Kombinationstherapie mit Stimulanzien und eine Langzeitstudie zur Erhaltenstherapie mit Guanfacin gehören. Zur Beurteilung der Wirksamkeit kam einmal wöchentlich die ADHD-Rating-Scale (ADHD-RS-IV) zum Einsatz, wobei Guanfacin bezüglich der Symptomreduktion Placebo statistisch signifikant überlegen war.

Erwartungsgemäß zählen aufgrund des Wirkmechanismus zu den am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen Blutdruckabfall, Bradykardie, Synkopen, Schläfrigkeit und Sedierung. Man geht davon aus, dass damit ein erhöhtes Unfall- und Sturzrisiko sowie eine Gewichtszunahme verbunden sein können.

Patienten mit bekanntem Drogenkonsum soll Methylphenidat oder Amphetamin nicht verordnet werden. Für sie ist derzeit der ebenfalls in den Noradrenalin-Stoffwechsel eingreifende selektive Noradrenalin-Reuptake-Inhibitor (SNRI) Atomoxetin Mittel der Wahl. Auch Guanfacin besitzt nach heutigen Erkenntnissen kein Missbrauchspotenzial. Bei einer Stimulanzientherapie werden von Zeit zu Zeit Auslassversuche unternommen. Im Falle von Guanfacin dürfen diese nicht eigenmächtig, sondern nur ärztlich initiiert und unter Blutdruckmonitoring vorgenommen werden. Zudem soll der Wirkstoff schrittweise in der Dosis reduziert werden, um Rebound-Effekte zu vermeiden, die sich in Blutdruckanstieg und erhöhter Herzfrequenz zeigen können. Ein Novum im Zulassungsverfahren ist, dass erstmalig auch Patientenmeinungen darin einfließen. So waren beispielsweise auf einer Sitzung des Committee for medicinal products for human use (CHMP) auch die Mutter eines ADHS-Patienten sowie ein junger Erwachsener mit dieser Störung eingeladen, über ihre Erfahrungen bei der Therapie zu berichten. Dies ist Teil eines im September 2014 gestarteten Pilotprojektes der EMA. |

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

Quellen

Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e. V., Stand 2007, letzte Aktualisierung März 2014, http://www.ag-adhs.de

Stellungnahme zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Langfassung, Stand 26.8.2005, http://www.bundes­aerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/ADHSLang.pdf, letzter Abruf am 15.9.2015

Herdegen Th.: „Pharmako-logisch! – ADHS” DAZ Nr. 13/2010, Dtsch. Apoth. Ztg. (2010) 150(13):1448-1463

EMA recommends approval of treatment for attention deficit hyperactivity disorder. Pressemitteilung der European Medicines Agency (EMA) vom 24. Juli 2015, http://www.ema.europa.eu

Intuniv (guanfacine). Summary of opinion (initial authorisation), 23. Juli 2015, http://www.ema.europa.eu

Die Zeit der leisen Töne ist vorbei… Bericht vom Niedersächsischen Apothekertag 2011, Dtsch. Apoth. Ztg. (2011) 151(20):2425

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