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Was kann die parenterale Ernährung?

Eine Übersicht über die Möglichkeiten und Grenzen

Von Birgit Blumenschein und Martin Smollich | Ernährungsmediziner diskutieren seit Jahren den Stellenwert der parenteralen Ernährung, da sie bei bestimmten Indikationen zwar unverändert lebenswichtig, jedoch auch mit einem hohen Komplikationsrisiko behaftet ist [1 – 3]. Auch die Baseler Ernährungsrichtlinie 2015 sieht die parenterale Ernährung lediglich als einen „Plan B“ [4]. Dennoch ist die parenterale Ernährung elementarer ­Bestandteil moderner klinischer Ernährungstherapie – und das nicht nur in Konkurrenz zur enteralen Ernährung. Sie kristallisiert sich immer mehr als wichtiger, ergänzender Baustein sowohl oraler als auch enteraler Ernährung von z. B. Tumorpatienten oder kritisch Kranken heraus [5]. Wie sehen die aktuellen Entwicklungen aus?

Historische Entwicklungen

Die Geschichte der parenteralen Ernährung beginnt 1628 mit der Entdeckung des Blutkreislaufes [6]. Nach ersten Versuchen an Tieren führte der englische Architekt und Erbauer der St. Paul’s Cathedral erstmals intravenöse Injektionen durch, wobei als „Injektionsnadel“ die angesägten Oberschenkelknochen von Nachtigallen verwendet wurden [7]. Aufgrund der Beobachtung, dass die Infusion von Olivenöl für Hunde tödlich ist, wurde die Hypothese aufgestellt, dass die parenterale Applikation von Fetten nicht geeignet ist [8]. Entscheidende Fortschritte für die parenterale Ernährung gelangen erst in der Zeit der europäischen Cholera-Epidemie (1830 – 1832). Der schottische Arzt Dr. Thomas Latta verabreichte den Patienten erstmals auf parenteralem Weg Wasser und eine Salzlösung, womit er zur „schnelleren Genesung“ der Cholera-Kranken beitragen konnte [9]. Aufgrund der ­hygienischen Mängel kam es jedoch häufig zu septischen Fieberschüben und Hämolysen mit entsprechender Mortalität, weshalb die parenterale Infusionstherapie in ­der medizinischen Wissenschaft weitestgehend abgelehnt wurde [10].

Erst mit der Entwicklung metallischer Hohlnadeln sowie mit den Möglichkeiten der Dampfsterilisation konnte die Infektionsrate der Patienten drastisch gesenkt werden [6]. Die erste physiologische Infusionslösung beinhaltete Kochsalz, Kaliumchlorid und Calciumchlorid – die Basis der noch heute gebräuchlichen Ringer-Lösung [11]. Die Entwicklung von Polyethylen-Kathetern (1950) und Braunülen (1962) ermöglichte es dann, längerfristige Infusionstherapien durchzuführen, und durch die Technik der Subklavia-Katheterisierung konnten bald auch hochosmolare Lösungen sicher appliziert werden [6]. Die modernste Version eines vollständig unter der Haut implantierten Katheters mit einer Injektionskammer („Port“) bietet einen infektiologisch relativ sicheren Zugang zum Gefäßsystem [12].

Definition parenterale Ernährung

Parenterale Ernährung ist die totale oder partielle Zufuhr von Nährstoffen unter Umgehung des Magen-Darm-Kanals. Sie erfolgt mittels peripher- oder zentralvenöser Infusionen über einen beliebig langen Zeitraum. Vollständig parenteral ernährt werden müssen alle Patienten, die ihren Bedarf an Energie, Proteinen, Spurenelementen, Vitaminen und Wasser nicht durch normale Nahrungsaufnahme decken können. Dies betrifft internistische Patienten mit konsumierenden und chronischen Erkrankungen (z. B. Karzinome) ebenso wie chirurgische Patienten in der längeren postoperativen Phase.

Was ist „Plan A“?

Über die Indikationen einer parenteralen Ernährung ist in den vergangenen Jahren in der Ernährungsmedizin ausgiebig und kontrovers diskutiert worden. „Plan A“ der Ernährungstherapie ist unverändert die enterale Ernährung [4]. So betonen alle Leitlinien der nationalen wie internationalen ernährungsmedizinischen Gesellschaften die Prämisse „if the gut works – use it“ [13 – 16]. Parenterale Ernährung als „Plan B“ ist danach nur dann indiziert, wenn der Patient seinen Energie- und Nährstoffbedarf sowohl über orale als auch enterale Ernährung nicht bzw. nicht ausreichend decken kann [5]. Neben der grundsätzlichen Indikation der parenteralen Ernährung gab es in jüngster Vergangenheit auch große Interventionsstudien, die sich mit dem optimalen Zeitpunkt, der optimalen Dauer sowie der indikationsspezifisch optimalen Zusammensetzung von parenteraler Ernährung beschäftigten [5].

Der optimale Zeitpunkt für parenterale Ernährung

Das ausgewiesene Ziel künstlicher Ernährungstherapie ist eine bedarfsadaptierte Substrat- und Energiezufuhr [17]. Um Muskel- und damit stoffwechselaktive Masse zu erhalten und einen Proteinverlust zu minimieren, ist die ernährungsmedizinische Intervention sorgfältig zu planen oder in Antizipation des Krankheitsverlaufs möglichst präventiv anzuordnen („agieren statt reagieren“). Diese moderne und präventiv wie therapeutisch wirksame Ernährungstherapie [18 – 21] basiert auf dem Stufenschema nach Löser (Abb. 1).

Abb. 1: Etablierte ernährungsmedizinische Behandlungsstrategien von Patienten mit Unter- bzw. Mangelernährung, modifiziert nach [50].

Besonders gut belegt ist die Wirksamkeit einer antizipierenden parenteralen Ernährung am Beispiel der Tumorkachexie, die als spezifische Form einer exzessiv katabolen Stoffwechsellage einen erheblichen negativen Effekt auf Lebensqualität, Funktionalität, Mortalität sowie auf das Ansprechen und die Verträglichkeit antitumoraler Therapien besitzt [22 – 26]. Daher ist die frühzeitige ernährungstherapeutische Intervention essenzieller Bestandteil moderner Medizin [27].

Auch kritisch Kranke profitieren von einer rechtzeitig begonnenen, kalorisch bedarfs- und nährstoffgerechten Ernährung; bei dieser Patientengruppe ist die adäquate Ernährung ein entscheidender Faktor für eine möglichst kurze Beatmungszeit, eine Verkürzung der Liegedauer auf der Intensivstation sowie eine minimierte Komplikationsrate [28, 29]. Die unterschiedlichen Fachgesellschaften empfehlen jedoch nach wie vor unterschiedliche Zeitpunkte für den Beginn einer (supportiv oder ausschließlichen) parenteralen Ernährung bei kritisch kranken Patienten:

Kritisch Kranke sollen supportiv oder alleinig parenteral ernährt werden,

  • wenn nach sieben Tagen eine bestehende orale oder enterale Ernährung nicht ausreicht (American Society for ­Enteral and Parenteral Nutrition, ASPEN) [16];
  • wenn nach drei Tagen eine bestehende orale oder enterale Ernährung nicht ausreicht (European Society for Enteral and Parenteral Nutrition and Metabolism, ESPEN) [15];
  • wenn nach fünf bis sieben Tagen eine bestehende orale oder enterale Ernährung nicht ausreicht (Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin, DGEM) [30].

Die Empfehlung eines möglichst frühen Beginns einer Ernährungstherapie bei kritisch kranken Patienten [15] wurde in jüngster Vergangenheit durch mehrere Studien (EPaNIC, SPN, TICANOS) infrage gestellt [1, 31, 32]. Die jeweiligen Studiendesigns waren jedoch diskussionswürdig und führten zu der Frage, ob die Ergebnisse überhaupt auf ein Patientenkollektiv übertragbar sind, das nicht exakt den Studienbedingungen entspricht [2, 5, 33 – 35]. Inwiefern diese Studienergebnisse also tatsächlich praktisch-klinische Konsequenzen haben werden und zu einem vielleicht zumindest teilweisen Abrücken von der derzeitigen Frühintervention führen werden, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Vermutlich stellt sich hier eher die Frage nach der optimalen Patientenstratifizierung als nach einer grundsätzlichen Verschiebung des Beginns der Ernährungstherapie nach hinten.

Indikationen und Kontraindikationen

Die Indikation für eine parenterale Ernährung (nach [5]) ist dann gegeben, wenn eine ausreichende Versorgung über die enterale Ernährung nicht möglich ist, z. B. bei

  • chronisch entzündlichen Darmerkrankungen
  • Kurzdarmsyndrom
  • Passagestörung des Gastrointestinaltrakts (Ileus, Dünndarm-Atonie, Stenose)
  • unstillbare Diarrhö/unstillbares Erbrechen
  • Aids
  • Tumorerkrankungen
  • Mukositis
  • Anorexie, Kachexie
  • zerebrale Störungen
  • Malabsorption
  • schwerer akuter Pankreatitis
  • Aszites

Kontraindikationen für eine parenterale Ernährung (nach [5])

  • Akutphase einer Erkrankung, unmittelbar nach Operationen und Trauma
  • Schockgeschehen
  • Serum-Laktat > 3 bis 4 mmol/l
  • Hypoxie (pO2 < 50 mmHg)
  • schwere Azidose (pH < 7,2)

Adäquater Energieverbrauch und -zufuhr

Um sowohl eine prognostisch ungünstige Hypo- oder Hyperalimentation zu vermeiden, ist die adäquate Energiezufuhr für den parenteral ernährten Patienten von essenzieller Bedeutung, da es sonst zu einer erhöhten Mortalität kommen kann [1, 15, 31, 32]. Wichtig ist zu beachten, dass auch ein früher häufig als unproblematisch in Kauf genommenes „Overfeeding“ gravierende negative Folgen wie Leberversagen und vermehrte Infektionen haben kann [36, 37]. Daher muss die Energiezufuhr stets an eine sich verändernde Stoffwechsellage angepasst werden.

Die möglichst exakte Erfassung des aktuellen Energieverbrauchs über die indirekte Kalorimetrie ist der Goldstandard zur Ermittlung des tatsächlichen Energiebedarfs und der rein rechnerischen Ermittlung des Energiebedarfs grundsätzlich vorzuziehen [15, 17, 31, 38]. Es gibt jedoch auch Meinungen, die diese Form der individuellen Energiebedarfsdiagnostik als nicht erforderlich ansehen, um eine adäquate Energiezufuhr zu gewährleisten [39]. Pragmatisch etabliert hat sich die Berechnung des Energiebedarfs anhand des Standard-Ruhe-Energieumsatzes unter Verwendung eines Korrekturfaktors je nach Krankheitsphase [38, 40], wie die Tabelle zeigt:

Tab.:
Berechnung des Energiebedarfs mit Korrekturfaktoren
Alter des Patienten
Standard-Ruhe-Energieumsatz
Korrekturfaktor
20 bis 30 Jahre
25 kcal/kg Körper­gewicht/Tag
instabile Krankheitsphase: × 0,5
anabol stabile Krankheitsphase oder Rekonvaleszenzphase: × 1,0 bis 1,5
30 bis 70 Jahre
22,5 kcal/kg Körpergewicht/Tag
> 70 Jahre
20 kcal/kg Körper­gewicht/Tag

Im Vergleich dazu besitzen Berechnungen mit Formeln nach Harris & Benedict, Ireton & Jones, Mifflin St. Jeor, Faisy & Fagon oder mit den Penn-State-Gleichungen 2003/2007 keine entscheidenden Vorteile [17, 38].

Empfehlungen für die tägliche Praxis

  • Parenterale Ernährung ist nicht die 1. Wahl als Interventionsform der künstlichen Ernährung.
  • Metabolische und hormonelle Veränderungen der Patienten müssen überwacht werden und bestimmen den Zeitpunkt des Einsatzes von parenteraler Ernährung entscheidend mit.
  • Eine Hyperalimentation muss ebenso dringend verhindert werden wie eine Hypoalimentation.
  • Die Energiezufuhr über parenterale Nährlösungen wird pragmatisch gemäß 25 kcal/kg Körpergewicht/Tag und Korrekturfaktor berechnet.
  • Die Höhe der Kohlenhydrat-Zufuhr richtet sich nach dem Blutzuckerspiegel und der Stoffwechselsituation; eine Reduktion der Glucose-Zufuhr bei Erhöhung der Fett-Zufuhr scheint prognostische Vorteile zu besitzen.
  • Mit Fischöl angereicherte Fett-Emulsionen scheinen die Liegezeit von kritisch kranken Patienten zu verkürzen.
  • All-in-one-Lösungen sind besonders auf der Intensivstation anderen Nährlösungsangeboten vorzuziehen.

Low Carb und mehr Fette – ein Trend auch in der parenteralen Ernährung

Die Zufuhrempfehlungen für die Glucose-Menge bewegen sich bei ca. 4 g/kg Körpergewicht/Tag [15, 17], wobei die tägliche Gesamtglucose-Zufuhr je nach Stoffwechsellage eine Obergrenze von 200 bis 400 g/Tag besitzt [15, 17]. Üblicherweise werden ca. 60% der Nicht-Eiweiß-Energiemenge in Form von Kohlenhydraten zugeführt [17], wobei neuere Studien bereits auf Vorteile einer Reduktion auf 50% der Nicht-Eiweiß-Energiemenge (3,0 bis 3,5 g Glucose/kg Körpergewicht/Tag) hindeuten [1, 41].

Während des Postaggressions-Stoffwechsels bei parenteral zu ernährenden Intensivpatienten ist Fett das physiologisch bevorzugte Energiesubstrat. Neuere parenterale Nährlösungen setzen diese Erkenntnisse durch eine Erhöhung des Fettanteils bei entsprechend begrenzter Glucose-Menge um, wodurch auch die unerwünschten Nebeneffekte einer hohen Glucose-Zufuhr wie Azidosen, Hyperglykämien und aktivierte Lipogenese vermieden werden [42]. Aktuell liegt die Zufuhrempfehlung für Fett im Rahmen der parenteralen Ernährung bei 0,5 bis 1,5 g/kg Körpergewicht/Tag [15, 17]. Kritisch Kranke können zudem von einer parenteralen Supplementation mit ω3-Fettsäuren profitieren [43 – 46]. |

Literatur

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Autoren

Prof. Dr. rer. nat. Martin Smollich, Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Antibiotic Stewardship-Experte (DGI). 1998 bis 2004 Studium von Biologie und Pharmazie in Münster und Cambridge (UK), 2005 bis 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitätsfrauenklinik Münster und Promotion über ein Thema zur experimentellen Pharmakotherapie des Mammakarzinoms, 2009 bis 2013 klinische Tätigkeit und pharmakologischer Konsildienst. Seit 2013 Professor und Studiengangsleiter des Studiengangs Clinical Nutrition/Ernährungsmanagement an der Mathias Hochschule Rheine.

Wissenschaftliche Schwerpunkte:

Klinische Ernährung, Klinische Pharmakologie, Arzneimitteltherapiesicherheit und rationale Antiinfektiva-Therapie

Dipl.-med.-päd. Birgit Blumenschein, Diätassistentin, 1988 bis 1990 Ausbildung zur staatlich anerkannten Diätassistentin, 1996 bis 2002 Lehr­assistentin an medizinischer Fachschule, Fachbereich Diätassistenz, 1997 bis 2003 Studium der Medizinpädagogik an der Charité in Berlin. Seit 2003 selbstständig tätig in eigener Praxis, seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Mathias Hochschule Rheine, Studiengangskoordinatorin des Studiengangs Clinical Nutrition/Ernährungsmanagement, B.Sc.

Wissenschaftliche Schwerpunkte:

Ernährungsmedizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie, Stoffwechsel und Adipositas; Gesundheitsbildung, Betriebliches Gesundheitsmanagement

autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

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