Feuilleton

Die „chlorreichen Sieben“

Nützlich, heilsam, schädlich, gefährlich

Jeder kennt sie, die „glorreichen ­Sieben“, die Männer eines weltberühmten Westerns. Aber wer kennt die chlor­reichen Sieben, die sieben wichtigsten Chlorverbindungen des Alltags?

Beginnen wir diesen Essay mit sechs Aspekten des Chlors, das uns im Alltag – je nachdem – begleitet, beschützt, nützt, belästigt, tötet oder heilt.

Begleiten. Elementares Chlor war ein Zusatz zum Trinkwasser (seit 1991 ist die „Schutz-Chlorung“ in Deutschland unzulässig) und findet sich heute noch im Wasser vieler Schwimmbäder, dort auch in Form von Hypochlorit-produzierenden Verbindungen, deren Funktionsprodukt als „aktives Chlor“ bezeichnet wird.

Beschützen. Der Chlorzusatz im Wasser schützt vor pathogenen Keimen wie Viren und Bakterien, die durch Chlor abgetötet werden.

Nützen. Von großem Nutzen waren Chlor und reaktive Chlorverbindungen zum Bleichen, anfangs vor allem von Wäsche, später bevorzugt von Zellstoff für die Papierherstellung.

Zur Desinfektion benutzt man Chlorkalk (Calcium-chlorid-hypochlorit), Eau de Javelle oder Eau de Labarraque (Lösungen von KOCl bzw. NaOCl). Alternative Verfahren haben das Chlor hier weitgehend verdrängt.

Belästigen.

Lästig, gesundheits­schädigend und umweltbelastend sind chlorhaltige Lösemittel und ­Verbindungen vom Typ des Lindans (γ-Hexachlorcyclohexan, γ-HCH) und des Dioxins (2,3,7,8-Tetrachlor-dibenzo-­dioxin; s. Grafik), die als Pestizide Verwendung fanden und finden.

Dioxin – der Tod sieht dich an. Grafik von H. Roth.

Töten.

Im Ersten Weltkrieg, genauer am 22. April 1915, wurde in der Nähe der flandrischen Stadt Ypern Chlorgas als chemische Waffe eingesetzt. Ferner besteht der Verdacht, dass syrische Regierungstruppen im Mai 2014 die gleiche C-Waffe benutzten.

Heilen. Viele therapeutisch wertvolle Arzneistoffe sind chlorierte, organische Verbindungen. Dabei muss unterschieden werden,

  • ob das Chlor an einen Aromaten (Benzolring o. ä.) gebunden und schwer davon abzutrennen ist oder
  • ob es aliphatisch gebunden und leicht zu hydrolysieren bzw. zu ­metabolisieren ist.

Die chlorreichen Sieben des Alltags sind mit ihren prozentualen Chlor­gehalten in Tabelle 1 zusammen­gestellt.

Tab. 1: Die chlorreichen Sieben des Alltags
Bezeichnung Summenformel Atommasse Chlorgehalt
Tetrachlormethan(Tetrachlorkohlenstoff) CCl4 153,8 91,5%
Trichlormethan(Chloroform) CHCl3 122,4 86,9%
Dichlormethan (Methylenchlorid) CH2Cl2 84,9 83,8%
Lindan (γ-HCH) C6H6Cl6 290,8 73,1%
Trichloressigsäure C2HCl3O2 163,4 65,1%
Polyvinylchlorid (PVC) (C2H3Cl)n n x 62,5 56,0%
Dioxin C12H4Cl4O2 321,9 44,0%

Betrachtet man die chlorhaltigen Arzneistoffe, die in der soeben erschienenen 8. Ausgabe des Europäischen Arzneibuchs monografiert sind, so zählt man ebenfalls sieben (Tab. 2). Aromatisch gebundenes Chlor enthalten die Arzneistoffe Clonidin, Diclofenac und Dicloxacillin (alle mit dem Wortbestandteil „clo“). Die anderen vier Verbindungen enthalten aliphatisch gebundenes, leicht metabolisierbares Chlor.

Tab. 2: Die chlorreichen Sieben des Europäischen ­Arzneibuchs
Arzneistoff Summenformel Atommasse Chlorgehalt
Chloralhydrat C2H3Cl3O2 165,4 64,3%
Chlorbutanol C4H7Cl3O 177,5 59,3%
Clonidin* C9H9Cl2N2 230,2 39,8%
Diclofenac* C14H11Cl2NO2 296,1 23,7%
Chlorambucil C14H19Cl2NO2 304,2 23,3%
Chlor­amphenicol C11H12Cl2N2O5 323,1 22,9%
Dicloxacillin* C19H17Cl2N3O5S 498,3 14,3%
* Chlor an Aromaten gebunden

Die Chlorierung aromatischer Verbindungen erhöht meistens deren Lipophilie und metabolische Stabilität. So werden z. B. Diclofenac zu 70 Prozent und Clonidin zu 80 Prozent unverändert ausgeschieden. Diclofenac ist neben Carbamazepin der in Abwässern und im Klärschlamm am meisten zu findende Arzneimittelrückstand. Seine Rückstände in Tierkadavern sind für Geier tödlich.

Die chlorierten aliphatischen Verbindungen werden teilweise zu toxischen Metaboliten abgebaut. Im Chlorambucil stellen die N-gebundenen Chlorethylgruppen sogar alkylierende Funktionen dar.

Legt man die Gesamtmenge an Chlor zugrunde, die für die Herstellung chlorierter organischer Verbindungen verwendet wird, so dient ein Drittel davon der Synthese des Vinylchlorids, das zu PVC polymerisiert wird. Zahlreiche chlororganische Zwischenprodukte werden für die Synthese von ­anderen chlorfreien und chlorhaltigen Kunststoffen, Arzneistoffen oder Pestiziden benötigt. Einer im Jahr 1995 ­erstellten Statistik zufolge wurden 85 Prozent aller Arzneistoffe unter Verwendung von Chlor hergestellt.

Autor

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth, Friedrich-Naumann-Str. 33, 76187 Karlsruhe

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