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„Formale Dinge sind kein Selbstzweck“

DAZ-Interview mit DAK-Chef Herbert Rebscher über Null-Retaxationen, Handwerker-Rechnungen und Hilfsmittel-Ausschreibungen

BERLIN (lk) | Professor Herbert Rebscher, der Vorstandsvorsitzende der ­Ersatzkasse DAK-Gesundheit, ist ein Freund deutlicher Worte. Damit sorgt er immer wieder für Irritationen, ­zuletzt bei den Apothekerinnen und Apothekern. Vor allem über seinen Vergleich eines Rezepts mit der Rechnung eines Schlossers haben sich viele von Retaxationen Betroffene ­geärgert. Im DAZ-Interview erläutert der Chef der mit 6,2 Millionen ­Versicherten drittgrößten deutschen Kasse, wie es zu dem Vergleich kam, dass die Rezeptabrechnung ein ­vollständig automatisierter Vorgang ist und warum Rezept-Formalien kein Selbstzweck sind. Das Gespräch führte DAZ-Hauptstadtkorrespondent Lothar Klein.

DAZ: Herr Rebscher, sie haben sich zuletzt mit Ihrem „Schlosser“-Vergleich unter den Apothekerinnen und Apothekern keine Freunde gemacht. Wie ist dieser Vergleich zu verstehen?

Rebscher: Am Rande unserer Pressekonferenz zum AMNOG-Report wurde ich aus einem anderen Gesprächszusammenhang gerissen und auf das Retax-Thema angesprochen. Dabei ist dieser Halbsatz gefallen und aufgebauscht worden. Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich mich zu Apothekerthemen differenziert äußere und mich gegenüber dem Apothekerstand partnerschaftlich verhalte.

„Retaxationen sind keine Erfindung der ­Kassen, um Apotheker zu schikanieren.“

DAZ: Wie können Retaxationen partner­schaftlich sein?

Rebscher: Ich weiß sehr gut, dass Retaxationen in Apotheken nerven, genauso wie sie uns als Kassen nerven. Wir, ich meine hier den vdek, stehen mit dem Deutschen Apothekerverband in Verhandlungen über Retaxationen und nach meinen Informationen laufen die Gespräche sehr konstruktiv und positiv. Auf beiden Seiten herrscht viel Verständnis für die Probleme der Retax-Thematik. Unstrittig ist, dass wir uns als DAK mit unseren Retaxationen auf der Basis geltenden Rechts bewegen. Unstrittig ist auch, dass die Retax-Verfahren auf Grundlage geltender Vertragsregelungen laufen. Sogar das Bundesverfassungsgericht hat Null-Retaxationen bei Nichtabgabe von ­Rabattarzneimitteln höchstrichterlich bestätigt.

DAZ: Das ändert nichts am Ärger in den Apotheken.

Rebscher: Das mag sein. Aber diese ­Retaxationen sind keine Erfindungen der Kassen, um Apotheker zu schikanieren. Auch das gebetsmühlenartige Zitieren von extremen und zum Teil absurden Einzelfällen vermittelt ein schiefes Bild von der tatsächlichen Problematik. Es geht um die automatisierte Massenabrechnung von Rezepten. Jedes Jahr rechnet die GKV rund 900 Millionen Rezepte mit einem niedrigen Durchschnittswert von circa 15 Euro ab. Das geschieht mithilfe hochstandardisierter und automatisierter Verfahren. Da nimmt niemand mehr ein Rezept in die Hand. Die Prüfung läuft über IT-Systeme, die entsprechend der Rechtslage und der Verträge programmiert sind. Man kann sicher im Einzelfall über den vergessenen Arztstempel, die vergessene Unterschrift des Arztes, das fehlende Datum oder andere formale Dinge diskutieren. Aber die Maschine kann das nicht. Die Maschine erkennt den Fehler und veranlasst die Retaxation, auch wenn es sich nur um Cent-Beträge handelt. Klar könnte man in Gesprächen mit allen Beteiligten klären, dass trotzdem eine ordnungsgemäße Versorgung erfolgt ist und den Fehler nachträglich korrigieren. Aber die Massenverfahren werfen dies als formalen Fehler aus. Der Versand des entsprechenden Briefes ­erfolgt auch automatisch. Das habe ich auch mit dem Schlosser-Vergleich ­sagen wollen: Das gilt eben auch für andere Verfahren, die wir im Alltag durchführen. Der muss auch eine ­formal korrekte Rechnung schreiben. Wenn Sie ein Kreuz beispielsweise bei der Flugbuchung nicht setzen, kommt kein Vertrag zustande oder die Überweisung beim Onlinebanking funktioniert dann nicht. Kleine formale Dinge haben in maschinellen Verfahren weitreichende Konsequenzen.

„Verträge sind auch dann bindend, wenn einem Apotheker etwas ­durchgeflutscht ist.“

DAZ: Aber der Schlosser kann nachbessern, der Apotheker nicht.

Rebscher: Genau deshalb sitzen wir jetzt in diesen Verhandlungen zusammen und suchen nach Lösungen. Ich bin hier für jeden pragmatischen Kompromiss zu haben. Unter einer Bedingung: Der gilt dann auch, an ihn müssen sich alle Apothekerinnen und Apotheker halten. Auf der neuen vertraglichen ­Basis müssen dann alle Abrechnungen erfolgen – ohne Ausnahme. Dann kann auch die Einrede eines formalen Mangels nicht mehr zu Diskussionen führen. Die Korrektur eines formalen Fehlers ist häufig teurer als der Betrag um den es geht. Nochmal: Wenn wir uns auf einen Retax-Katalog einigen, muss der für alle gelten – ohne Ausnahme und Nachkarten. Verträge sind auch dann bindend, wenn einem Apotheker etwas durchgeflutscht ist.

DAZ: In einem konkreten Fall hat die DAK ein 10.000-Euro-Rezept retaxiert, weil anstelle des Arztstempels der Berliner Charité die Adressdaten handschriftlich vermerkt waren. Selbst die erneute Versicherung der Echtheit durch die Charité hat die DAK nicht einlenken lassen. Sie waren persönlich damit befasst. Sieht so Ihre Kompromissbereitschaft aus?

Rebscher: Bitte haben Sie Verständnis, dass ich zu diesem konkreten Fall nichts sagen kann. Das Verfahren läuft noch. Aber grundsätzlich: Laut Vertrag ist der Arztstempel erforderlich. Mit Blockbuchstaben kann jeder ein Rezept fälschen. Formale Dinge sind kein Selbstzweck. Dahinter stehen Sicherheitsfragen, Verlässlichkeit und andere wichtige Dinge. Gerade in der Apotheke, wo ­Rezepte angenommen werden, muss doch geprüft werden, ob die eigenen Vertragsbedingungen zur Abrechnung erfüllt werden. Wenn nicht, kann man im Vorfeld Korrekturen vornehmen, beispielsweise mit dem verordnenden Arzt Rücksprache halten, und nicht darauf warten, dass irgendein Kassencomputer einen formalen Fehler ausgespuckt.

DAZ: Verfügt die DAK über eine Statistik der Retaxationen? Wie groß ist der Retax-Anteil? Was sind die häufigsten Fehlerursachen?

Rebscher:

Sie werden sich wundern. Durchschnittlich werden 0,02 Prozent der eingereichten Belege bei uns retaxiert. Der Anteil der retaxierten Beträge am gesamten Abrechnungsvolumen beträgt 0,13 Prozent. Ein besonders häufiger Grund ist die nicht rabatt­vertragskonforme Abgabe von Arzneimitteln.

„Ich bin für jeden ­Kompromiss zu haben.“

DAZ: Wie geht es mit den von der Po­litik im GKV-Versorgungsstärkungs­gesetz angedachten Retax-Gesprächen zwischen Kassen und Apothekern ­weiter?

Rebscher: Ich bin für jeden Kompromiss zu haben. Ich weiß auch, dass jede formale Logik im Einzelfall zu absurden Konsequenzen führen kann. Das müssen wir jetzt in den Verhandlungen regeln. Mit den Krankenhäusern funktioniert das doch auch. Da retaxieren wir jährlich viele Millionen Euro. Damit wird dort professionell umgegangen. Da käme niemand auf die Idee, Einzelbeispiele öffentlich hochzuziehen. Ich habe großes Verständnis dafür, dass Apotheker verärgert reagieren, wenn sie ein teures Arzneimittel abgegeben haben und dann aus formalen Gründen retaxiert werden. Aber extreme Beispiele dann in die Medien zu bringen, hilft nicht, das Problem zu lösen. Sie sollten angesichts des Einzelfalles nicht vergessen, dass es darum geht, 900 Millionen Rezepte jährlich auf einer vernünftigen automatisierten Basis abzurechnen. Wir können nicht jedem Rezept hinter her telefonieren. Geht es um die formal korrekte Abrechnung ist der Apotheker eben auch als Kaufmann gefragt.

„Wir sollten uns als Selbstverwaltung nicht erneut die Blöße geben und uns am Ende vom Gesetzgeber Vorschriften diktieren lassen.“

DAZ: Wird es einen Kompromiss geben?

Rebscher: Nach meinen Informationen laufen die Gespräche auf verschiedenen Ebenen abseits der öffentlichen Aufregung sehr kompromissbereit. Die Kassen sind auch zu Kulanzregelungen bereit, wo es sinnvoll und vertretbar ist. Wir sollten uns als Selbstverwaltung nicht erneut die Blöße geben und uns am Ende vom Gesetzgeber Vorschriften diktieren lassen.

DAZ: Zu einem anderen Ärgernis: Die DAK hat letztes Jahr einen Liefervertrag über Medikamentenvernebler mit einem Unternehmen geschlossen. ­Apotheker sollen aber einspringen, wenn die Firma am Wochenende und feiertags nicht arbeitet. Können Sie nachempfinden, dass sich Apotheker dadurch zu Aushilfslieferanten degradiert fühlen?

Rebscher: Wir machen das nicht, um Apotheker zu ärgern. Der Gesetzgeber hat uns aufgefordert, solche Produkte über europaweite Ausschreibungen einzukaufen. Daran kann sich jeder beteiligen. Ausschreibungsverträge werden den Markt für bestimmte Produkte weiter sehr grundlegend verändern. Das machen alle Kassen. Das ist etwas völlig normales. Zurzeit werden sogar Ausschreibungsverfahren für ­integrierte Versorgungsverträge diskutiert. Für die Notfallversorgung mit Medikamentenverneblern gibt es übrigens seit September vergangenen Jahres eine Lösung, bei der sich die Apotheker nicht mehr zu Aushilfslieferanten degradiert fühlen müssen.

„Wir machen das nicht, um Apotheker zu ärgern.“

DAZ: Trotzdem fühlen sich die Apotheker in die Ecke gedrängt.

Rebscher: An dieser Stelle muss sich die Apothekerschaft mal fragen, ob sie organisatorisch noch zeitgemäß aufgestellt ist. Ist sie in bestimmten Ausschreibungsfragen noch handlungsfähig? Das kann ja bei solchen Dingen nicht mehr der einzelne Apotheker sein. Dieser Trend wird in Zukunft aufgrund unserer gesetzlichen Verpflichtungen noch zunehmen. Regionale Versorgungsstrukturen fallen unserer Verpflichtung zur europaweiten Ausschreibung zum Opfer. Ich persönlich sehe das durchaus auch kritisch. Aber wir müssen uns an das halten, was der Gesetzgeber ordnungspolitisch vorgibt. Von der organisierten Apothekerschaft habe ich zu diesen Fragen wenig bis gar nichts gehört, obwohl die Apotheker davon massiv betroffen sind. Auch zur aktuellen Diskussion in der EU über die Ausschreibungspflicht von Integrierten-Versorgungs-Verträgen höre ich nichts von der ABDA.

DAZ: Der GKV-Spitzenverband fordert regelmäßig die Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes. Wie stehen Sie dazu?

Rebscher: Ich sehe das ganz gelassen und leidenschaftslos. Zunächst muss man an dieser Stelle ein ganz großes Kompliment machen: Da bewundere ich die Lobbyarbeit der ABDA, die die Position seit Jahrzehnten gut gehalten haben. Das wird wahrscheinlich noch eine ganze Weile so weitergehen. Da hat die ABDA einen guten Job für ihre Apotheker gemacht.

„Das Ende des Fremd- und Mehrbesitzverbotes wird keine Krankenkasse erzwingen wollen und können. Das bringt der Markt von ganz alleine.“

DAZ: Also besser die gebetsmühlenartigen Forderungen aufgeben?

Rebscher: Damit werden wir die Qualität der Arzneimittelversorgung und unsere Ausgaben nicht verändern. Aber man muss die Apotheker fairerweise darauf aufmerksam machen, dass sich in vielen anderen Bereichen mit ähnlichen Versorgungsstrukturen die Dinge geändert haben. Man kann solche Positionen am Markt vorbei noch eine ganze Weile halten. Aber ­irgendwann regelt sich das über den Markt: Es gab in den letzten Jahren schon Lockerungen über die Fillialisierung, Lieferdienste und den Versandhandel. Das Ende des Fremd- und Mehrbesitzverbotes wird keine Krankenkasse erzwingen wollen und können. Das bringt der Markt von ganz alleine. Das Apothekensystem hält nur aus formalen Gründen noch zusammen. Das wird sich ändern.

DAZ: Herr Rebscher, vielen Dank für das Gespräch. |

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