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Titelthema
Methylphenidat bei Erwachsenen
Was ist bei der Therapie zu beachten?
Über die Indikation „ADHS bei Erwachsenen“ hat die DAZ bereits ausführlich berichtet [1, 2]. Die Fakten in Kürze: Etwa die Hälfte aller Kinder mit ADHS nimmt die Erkrankung mit ins Erwachsenenalter, wobei sie sich von motorischer Unruhe zu einer eher inneren Unruhe in Form von Ruhelosigkeit, Getriebenheit und Einschlafstörungen wandelt. Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität bleiben bestehen. Es entsteht eine diagnostische Grauzone, in der die Grenzen zwischen ADHS und Komorbiditäten wie Depression, Angststörungen, Substanzabhängigkeit und sozialen Störungen verschwimmen. Die Diagnose ADHS im Erwachsenenalter ist daher Sache von erfahrenen Fachärzten und beruht auf der Diagnose ADHS im Kindesalter, die – insbesondere bei Patienten im fortgeschrittenen Alter – mitunter retrospektiv (z.B. anhand von Zeugnissen und Fragebögen) gestellt werden muss. Bis zur Zulassung von Atomoxetin (2013) und Methylphenidat für Erwachsene (Medikinet adult 2011, Ritalin adult 2014) wurden Erwachsenen meist die für Kinder und Jugendliche zugelassenen wirkstoffgleichen Präparate off label verordnet.
Biphasische Freisetzung
Bei beiden Methylphenidatpräparaten handelt es sich um mit Pellets gefüllte Hartgelatinekapseln, die jeweils zu 50 Prozent ihren Wirkstoff schnell freisetzen. Der Unterschied liegt in der Galenik des zweiten, verzögert freisetzenden Anteils.
Im Fall von Medikinet adult sind dies magensaftresistent ummantelte Pellets, die bei Einnahme zur Mahlzeit oder kurz nach der Mahlzeit den Wirkstoff protrahiert freisetzen. Bei Nüchterneinnahme dagegen leidet der Retardeffekt. Medikinet adult wird daher zu den Mahlzeiten eingenommen, und zwar zweimal täglich zum Frühstück und zum Mittagessen.
In Ritalin adult kommt wie bei Ritalin LA die SODAS®-Technologie („Spheroidal Oral Drug Absorption System“) zum Einsatz. Die retardierten Pellets tragen ein Polymer-Coating, das etwa vier Stunden nach der Einnahme für Flüssigkeit durchlässig wird, welche dann den Wirkstoff löst und freisetzt. Die daraus resultierende biphasische Freisetzung simuliert die zweimalige Einnahme eines unretardierten Präparats im Abstand von vier Stunden. Ritalin adult wird daher nur einmal täglich eingenommen, nämlich morgens. Eine Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme besteht dabei nach Herstellerangaben nicht.
Cave Nüchterneinnahme
Was zunächst nach einem klaren Vorteil für das einmal täglich einzunehmende Präparat aussieht, relativiert sich möglicherweise aufgrund der Daten einer vom Ritalin-Hersteller Novartis in Auftrag gegebenen, 2008 publizierten Bioäquivalenzstudie, in der die Pharmakokinetik von Ritalin LA und Medikinet retard an gesunden Erwachsenen bei einmal täglicher Einnahme von 40 mg untersucht wurde. Bei Einnahme nach dem Frühstück zeigten beide Präparate eine biphasische Freisetzung von Methylphenidat, dessen AUC- und Cmax-Werte unterschieden sich jedoch erheblich: Im Fall von Medikinet retard lagen die Mittelwertskurven deutlich höher als im Fall von Ritalin LA [3].
Wie die Erfahrung mit dem ebenfalls nach vier Stunden freisetzenden (allerdings monolithisch aufgebauten) Prednison-Präparat Lodotra® zeigt, besteht bei einer so langen Latenzzeit zwischen Einnahme und Freisetzung immer die Gefahr, dass die Arzneiform bereits in hintere Darmabschnitte transportiert wurde, in denen eine quantitative Resorption des freigesetzten Arzneistoffs nicht mehr sichergestellt ist. Die Einnahme zur oder nach der Mahlzeit wirkt hier gewissermaßen als Bremse für den intestinalen Transport, indem die Verweildauer im Magen verlängert wird.
In geringerem Maße als bei Lodotra® scheint dies auch auf Ritalin LA zuzutreffen, da die in der o.g. Bioäquivalenzstudie angegebene Bioverfügbarkeit bei Einnahme nach der Mahlzeit um etwa elf Prozent höher liegt als bei Nüchterneinnahme (126,8 ± 35,4 ng × h/ml vs. 114,1 ± 30,8 ng × h/ml). Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, dem Patienten auch bei Ritalin adult eine Einnahme zur oder nach der Mahlzeit nahezulegen.
Aufgrund der im Durchschnitt weniger als vierstündigen Halbwertszeit von Methylphenidat führen beide Einnahmemodi der jeweiligen Präparate nicht zu wirksamen Plasmaspiegeln in den Abendstunden, und es baut sich kein steady state auf. Diese kurze Wirkdauer wirft die Frage auf, ob eine einmal tägliche Einnahme, wie sie bei Ritalin adult praktiziert wird, für jeden Erwachsenen ausreichend sein kann. Erwachsene gehen später ins Bett als Kinder, und ihre Konzentration ist mit größerer Wahrscheinlichkeit auch noch am späten Nachmittag oder frühen Abend gefordert. Dieser Aspekt könnte für den Arzt auch bei der Auswahl des individuell geeigneten Präparats eine Rolle spielen.
Achtung bei Umstellung
Festzuhalten ist, dass sich beide Methylphenidatpräparate hinsichtlich ihres Einnahmeschemas, ihrer Galenik und ihrer Pharmakokinetik grundlegend voneinander unterscheiden; ein Austausch kommt somit nicht infrage. Bei der Umstellung von einem Präparat auf das andere fällt nicht nur ein erhöhter Beratungsbedarf hinsichtlich der Einnahme an, sondern der Patient ist – insbesondere in den ersten Tagen nach der Umstellung – auch dazu anzuhalten, Nebenwirkungen oder Wirkungsverluste zu beobachten und zu melden.
Mögliche Arzneimittelinteraktionen
Eine weitere Problematik des Methylphenidats ergibt sich aus den möglichen Komorbiditäten der Erwachsenen mit ADHS. Standen bei Kindern Nebenwirkungen wie Appetitverlust und – daraus folgend – Wachstumsverzögerungen im Vordergrund, sind beim Erwachsenen mögliche Arzneimittelinteraktionen, eventuell sogar Kontraindikationen zu beachten. Bei älteren Menschen sollte Methylphenidat gar nicht eingesetzt werden; meist erübrigt sich diese Medikation im Rentenalter ohnehin, da mit dem Leistungsdruck auch der Leidensdruck wegfällt. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass beim ADHS-Patienten Komorbiditäten bereits im jüngeren Erwachsenenalter auftreten können. Einerseits betrifft dies die psychiatrischen Diagnosen, andererseits die Folgen des häufig anzutreffenden Substanzmissbrauchs, der sich auch auf die legalen „Drogen“ Tabak und Alkohol erstreckt. Daraus ergibt sich für den Patienten ein vergleichsweise höheres Risiko, schon in relativ jungen Jahren z.B. an Kreislauferkrankungen zu leiden.
Kreislauf
Methylphenidat kann durch seine Effekte auf den Kreislauf die Wirkung von Antihypertensiva abschwächen bzw. die Wirkung von blutdrucksteigernden Substanzen verstärken (Tab. 1). Halogenierte Narkosegase können bei Patienten unter Methylphenidat Blutdruckspitzen auslösen. Bei geplanten chirurgischen Eingriffen ist Methylphenidat daher am Operationstag nicht anzuwenden. Die Kombination von Methylphenidat mit dem irreversiblen MAO-Hemmer Tranylcypromin ist wegen des Risikos hypertensiver Krisen kontraindiziert; der Einnahmeabstand nach Absetzen von Tranylcypromin beträgt zwei Wochen.
Bei allen anderen zentral dopaminergen oder noradrenergen Wirkstoffen (Moclobemid, Linezolid, Selegilin, Rasagilin, Levodopa und andere Parkinsonmittel, zentral wirkende α2-Agonisten wie Clonidin oder Methyldopa) soll die Kombination mit Methylphenidat vorsichtig unter engmaschiger Kontrolle von Puls und Blutdruck erfolgen. Pharmakodynamische Interaktionen sind grundsätzlich auch mit trizyklischen Antidepressiva und Antipsychotika sowie dem Prokinetikum Metoclopramid (Dopaminantagonist) möglich.
Magen
Bei einem Magen-pH-Wert über 5,5, verursacht durch Protonenpumpenhemmer (Pantoprazol, Omeprazol u.a.) oder (weniger wahrscheinlich) H2-Antagonisten (Ranitidin, Famotidin u.a.) und Antazida, kann es bei Medikinet adult zu Dose-Dumping-Phänomenen kommen: Der Wirkstoff wird zu schnell freigesetzt und entfaltet dadurch erhöhte Wirkungen und Nebenwirkungen (Tab. 2). Die Freisetzung von Methylphenidat aus Ritalin adult erfolgt hingegen pH-unabhängig. Die Fachinformation nennt hier eine Resorptionsverminderung als wahrscheinliche Interaktion mit Antazida.
Weitere Interaktionen
Methylphenidat kann die Krampfschwelle senken. Dies gilt sowohl für Patienten mit einer Krampfanfall-Anamnese (z.B. Epileptiker) als auch für Patienten mit Auffälligkeiten im EEG, die bisher keine Krampfanfälle hatten. In seltenen Fällen löst Methylphenidat sogar bei Patienten ohne Krampfanfälle und EEG-Auffälligkeiten in der Anamnese Krampfanfälle aus. Bei einer Zunahme der Anfallshäufigkeit bzw. bei neu auftretenden Krampfanfällen sollte Methylphenidat abgesetzt werden.
Der Metabolismus von Methylphenidat erfolgt unabhängig vom Cytochrom-P450-System, weshalb es nur ein sehr geringes Potenzial für pharmakokinetische Interaktionen aufweist (Tab. 3). Zu oralen Antikoagulanzien vom Cumarin-Typ (Phenprocoumon und Warfarin) liegen Berichte über Wirkungsschwankungen durch eine Interaktion mit Methylphenidat vor, deren Mechanismus nicht geklärt ist. Beim An- und Absetzen von Methylphenidat sind daher bei den betroffenen Patienten die Gerinnungsparameter engmaschig zu kontrollieren. Ebenso gibt es Berichte, die auf mögliche Wirkspiegelerhöhungen von Antidepressiva (Trizyklika und SSRI), Phenytoin, Phenobarbital und Primidon sowie des (allerdings nur noch selten eingesetzten) NSAR Phenylbutazon hinweisen. Die amerikanische Datenbank Drugdex zitiert zwei Fallberichte, in denen es durch Carbamazepin zu Wirksamkeitsverlusten von Methylphenidat kam.
Mögliche Kontraindikationen
Methylphenidat ist bei einer Reihe von Erkrankungen eventuell kontraindiziert. Dazu zählen Glaukom, Hyperthyreose bzw. Thyreotoxikose, schwere Depressionen und Psychosen (Schizophrenie, Manie, bipolare Störung Typ I u.a.) sowie Kardiomyopathien, insbesondere schwere Arrhythmien. Daher ist bei folgenden Arzneimittelgruppen Vorsicht geboten:
- Glaukomtherapeutika,
- Thyreostatika,
- Antidepressiva (trizyklische Antidepressiva, Bupropion, Lithium, Serotoninwiederaufnahmehemmer) und Neuroleptika,
- Antiarrhythmika (Betablocker) und andere Herztherapeutika (Digitalisglykoside).
Wenn der Patient Arzneimittel einnimmt, die auf solche Erkrankungen hindeuten, muss vor der Abgabe von Methylphenidat sichergestellt werden, dass die entsprechenden Gegenanzeigen nicht vorliegen.
Literatur
[1] Schlenger R. Erstes Methylphenidat-Präparat für Erwachsene. Dtsch Apoth Ztg 2011;151(27):3136-3137
[2] Schlenger R. Gestörte Aufmerksamkeit – ADHS ist nicht nur eine Kinderkrankheit. Dtsch Apoth Ztg 2014;154(15):1587
[3] Haessler F, et al. A pharmacokinetic study of two modified-release methylphenidate formulations under different food conditions in healthy volunteers. Int J Clin Pharmacol Ther 2008;46(9):466-476
Autor
Dr. Markus Zieglmeier, Apotheker, studierte Pharmazie an der LMU in München und ist seit 1989 in der Apotheke des Klinikums München-Bogenhausen tätig. Promotion zum Dr. rer. biol. hum. Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Zusatzbezeichnungen Medikationsmanager BA KlinPharm, Ernährungsberatung und Geriatrische Pharmazie.
Seit 2002 ist er verstärkt als Referent und Autor tätig.
Dr. Markus Zieglmeier, Städt. Klinikum München, Apotheke Klinikum Bogenhausen, Englschalkinger Str. 77, 81925 München
1 Kommentar
Medikinet abhängigkeit
von Andrea Kaisig am 29.11.2019 um 12:07 Uhr
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