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Arzneimittel und Therapie
Frühe ACC-Gabe ohne Benefit
Neue Erkenntnisse bei Paracetamol-Vergiftungen
Paracetamol-Vergiftungen zählen zu den häufigsten Arzneimittel-Intoxikationen in den Industrienationen. Allein in Großbritannien treten jährlich circa 82.000 bis 90.000 Fälle auf, wovon 150 bis 250 tödlich enden. Dass die Zahl der Todesfälle nicht höher liegt, ist auf die Behandlung mit dem Antidot Acetylcystein (ACC) zurückzuführen. Rund 40 Jahre lang wurde hierfür ein Therapieregime verwendet, welches aus drei intravenösen Gaben von ACC in 5%iger Glucoselösung bestand: 150 mg pro kg Körpergewicht innerhalb von 15 Minuten, gefolgt von 50 mg pro kg Körpergewicht innerhalb von vier Stunden und abschließend 100 mg pro kg Körpergewicht in weiteren 16 Stunden.
Bis 2012 sollte eine Behandlung mit ACC bei einer akuten Überdosierung mit einer Paracetamol-Plasmakonzentration über der 200 mg/l Nomogramm-Linie eingeleitet werden. Auch wenn 150 mg Paracetamol pro kg Körpergewicht in 24 Stunden eingenommen wurden, sollte das Antidot gegeben werden. Bei Patienten mit Risikofaktoren für eine Hepatotoxizität (z.B. schlechter Ernährungszustand, Alkoholismus, Einnahme bestimmter Arzneimittel) wurde die Vergiftungsbehandlung bereits dann eingeleitet, wenn die Plasmakonzentration über der 100 mg/l Nomogramm-Linie lag bzw. mehr als 75 mg Paracetamol pro kg Körpergewicht in 24 Stunden eingenommen wurden.
Die intravenöse Gabe von ACC ist allerdings sehr häufig mit Nebenwirkungen assoziiert. Erbrechen und anaphylaktische Reaktionen treten oftmals während der ersten 15-minütigen ACC-Infusion auf. Personen mit niedrigeren Paracetamol-Plasmakonzentrationen sind häufiger von Nebenwirkungen betroffen, sodass manchmal eher zurückhaltend gehandelt wurde. Nachdem eine Paracetamol-Vergiftung nicht erkannt wurde und der Patient an der Leberschädigung verstarb, untersuchte die CHM die vergangenen Todesfälle. Daraufhin wurden die Empfehlungen der Antidot-Behandlung im Jahr 2012 folgendermaßen angepasst:
- Einleitung einer Antidot-Behandlung mit ACC bei akuter Überdosierung, wenn die Paracetamol-Plasmakonzentration über der 100 mg/l Nomogramm-Linie liegt – unabhängig davon, ob Risikofaktoren für eine Hepatotoxizität vorliegen
- Behandlung aller Patienten mit schleichender Paracetamol-Intoxikation
- Verlängerung der Infusionsdauer der ersten intravenösen ACC-Gabe von 15 auf 60 Minuten, um die Nebenwirkungen zu reduzieren
Um zu untersuchen, inwiefern sich diese Änderungen positiv auf den Behandlungserfolg und die Nebenwirkungsrate auswirken, wurden die Paracetamol-Vergiftungen im Jahr vor und nach der Änderung der Antidot-Behandlung verglichen mit folgenden Ergebnissen.
Durch die veränderten Empfehlungen kam es zu mehr Vergiftungsbehandlungen, sodass auch die Kosten anstiegen. Die Kosten, die pro zusätzliches gerettetes Leben aufzuwenden wären, würden sich auf 17,4 Millionen Pfund belaufen.
Wichtig für die Praxis
Suizidversuche sind die häufigste Ursache für eine Paracetamol-Überdosierung. Um einer Hepatotoxizität mit Todesfolge vorzubeugen, ist es am wichtigsten, die Vergiftung frühzeitig zu erkennen und den Patienten rasch ins Krankenhaus einzuliefern.
Fazit
Durch die geänderten Richtlinien für die Behandlung einer Paracetamol- Vergiftung wurden mehr Personen therapiert, wobei die Kosten pro zusätzliches gerettetes Leben mit 17,4 Millionen Pfund extrem hoch waren. Trotz verlängerter Infusionsdauer stieg die Nebenwirkungsrate an. Vor diesem Hintergrund ist eine Überprüfung der Empfehlungen der CHM berechtigt.
Quelle
Bateman DN, Carroll R, Pettie J et al. Effect of the UK’s revised paracetamol poisoning management guidelines on admissions, adverse reactions and costs of treatment. Br J Clin Pharmacol. 2014;78(3):610–618
Übeltäter Paracetamol!?
Paracetamol hat eine geringe therapeutische Breite und ist wegen seiner Lebertoxizität zu Recht gefürchtet, keine Frage. Schon bei mehr als 8 Tabletten a 500 mg pro Tag drohen Leberschäden bis hin zum Leberversagen. Aber nicht nur deshalb wird immer wieder gefordert, Paracetamol der Verschreibungspflicht zu unterstellen.
Der wohl prominenteste Kämpfer für die Verschreibungspflicht ist Prof. Dr. Dr. Kay Brune aus Erlangen, der von 1981 bis zum Erreichen der Altersgrenze im Jahr 2006 den Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Erlangen innehatte. Immer wieder betont er, dass es gerade für die Schwangerschaft und für Kinder mit Ibuprofen ein risikoärmeres Schmerz- und Fieber-senkendes Mittel gibt. Auch wenn seine Bemühungen bislang nicht zum Erfolg geführt haben, gibt er nicht auf. Jetzt warnt er publikumswirksam auf Spiegel online und in weiteren Medien vor Paracetamol-Nebenwirkungen, die schon im therapeutischen Dosierungsbereich auftreten können. Belege dafür soll ein Review liefern, den Brune zusammen mit Kollegen auf Basis von Datenbank-Analysen und Fall-Kontroll-Studien erstellt hat, der aber noch nicht öffentlich zugänglich ist.
Nun sind wir in der Vergangenheit immer wieder durch diese Datenerhebungen in Sachen Paracetamol aufgeschreckt worden. Einmal waren es Indizien, dass Paracetamol – in der Schwangerschaft eingenommen – Asthma im Kindesalter fördert, dann wird das Schmerzmittel für Hodenhochstand und Fertilitätsprobleme bei Jungen verantwortlich gemacht, dann für Entwicklungsstörungen im Kindesalter – und vor wenigen Wochen sorgte die Nachricht für Verunsicherung, dass auch das Risiko von ADHS bei Kindern verdoppelt war, wenn deren Mütter in der Schwangerschaft über 20 Wochen (!) Paracetamol eingenommen hatten.
Solche Datenanalysen enden in der Regel mit dem Hinweis, dass Kausalitäten nicht erwiesen und weitere Studien erforderlich sind. Daran kommt auch der Review von Brune nicht vorbei, denn eigene Daten wurden nicht erhoben. Jeder, der sich mit der Datenlage beschäftigt hat, kennt die Limitationen der Studien. Wie viel Paracetamol tatsächlich eingenommen wurde und gegen welche Beschwerden, ist in den meist Jahre später durchgeführten Befragungen kaum mehr zweifelsfrei zu ermitteln. Vor diesem Hintergrund muss daher auch die Frage gestellt werden, ob nicht die Gründe für die Paracetamol-Einnahme, also z.B. Schmerzen infolge von Migräne oder fieberhafte Infekte, für die späteren Probleme der Kinder verantwortlich sein können. Interessant wäre zudem die Antwort auf die Frage, wie sich eine exzessive Einnahme von Ibuprofen über Wochen in der Schwangerschaft auf die spätere Entwicklung der Kinder auswirkt. Und dass nun tatsächlich der Paracetamol-Metabolit NAPQI für fetale Entwicklungsstörungen verantwortlich ist, das können auch Brune und Kollegen bislang nur vermuten, nicht beweisen.
Angesichts so vieler offener Fragen bleibt letztlich nur, darauf hinzuwirken, dass Schmerzmittel in der Schwangerschaft, egal welcher Art, so selten und so niedrig dosiert wie möglich eingenommen werden. Aber das gilt nicht nur für die Schwangerschaft und nicht nur für Schmerzmittel, das ist schlicht eine Binsenweisheit.
P.S. Das unabhängige deutsche Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie - Embryotox (www.embryotox.de) - empfiehlt neben Paracetamol nur im ersten und zweiten Schwangerschaftsdrittel das von Brune propagierte Ibuprofen. Im dritten Trimenon gibt es laut Embryotox zu Paracetamol keine Alternative. Wird Ibuprofen im letzten Schwangerschaftsdrittel eingenommen, dann drohen ein vorzeitiger Verschluss des Ductus arteriosus Botalli und eine Einschränkung der fetalen und neonatalen Nierenfunktion bis hin zur Anurie.
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