Feuilleton

Schutz bei Invalidität und Alter

Vor 125 Jahren beschloss der Reichstag die gesetzliche Rentenversicherung

Die gesetzliche Rentenversicherung hat Jubiläum: Nach dem Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883 und dem Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 erließ der Reichstag vor 125 Jahren – am 22. Juni 1889 – das Gesetz zur Invaliditäts- und Altersversicherung. Eine Altersvorsorge für Arbeiter hatte es zuvor nur im Bergbau gegeben.

Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert hatte zu großen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in Deutschland geführt. Die Kehrseite des Fortschritts waren soziale Missstände, die politische Unruhe hervorriefen. Viele Wissenschaftler, Wirtschaftsführer, Theologen und Politiker forderten daher ein Eingreifen des Staates.

Die „Kaiserliche Botschaft“ vom 17. November 1881, die als „Magna Charta“ der Sozialversicherung gilt und die Handschrift des Reichskanzlers Otto von Bismarck trägt, enthielt erste Leitlinien für den Aufbau einer Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung für Arbeiter: Korporative Genossenschaften sollten unter staatlichem Schutz und mit staatlicher Förderung die Arbeiter versichern, die ihrerseits einen Rechtsanspruch auf die entsprechenden Leistungen erhalten sollten.

Paritätisch mit staatlichem Zuschuss

Das „Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ (s. Abb.) bildete einen Meilenstein für den heute größten Zweig der Sozialversicherung. Im Laufe des Jahres 1890 wurden die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen und neben zehn Sonderanstalten 31 Versicherungsanstalten als Träger der Invalidenversicherung gebildet. Die Versicherungspflicht bestand für alle Lohnarbeiter und unteren Betriebsbeamten vom 16. Lebensjahr an. Zudem war eine freiwillige Weiterversicherung bei Beendigung der versicherungspflichtigen Beschäftigung möglich. Altersrenten bzw. Invalidenrenten wurden ab dem 70. Lebensjahr nach mindestens 30 bzw. fünf Beitragsjahren gezahlt. Nur bei bestimmten Voraussetzungen erhielten auch jüngere Erwerbsunfähige eine Alters- oder Invalidenrente.

Die Beiträge wurden nach Lohnklassen berechnet und paritätisch von Versicherten und Arbeitgebern gezahlt. Bei der Zahlung erhielten die Versicherten Beitragsmarken, die sie in ihre Versicherungskarte klebten. Die Auszahlung der Renten nahm die Post vor. Zu jeder Rente zahlte das Reich einen Zuschuss, der wesentlich aus den Erträgen des Tabakmonopols finanziert wurde.

Reichsversicherungsordnung

Die Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911, die am 1. Januar 1912 in Kraft trat, fasste die drei gesetzlichen Versicherungen zusammen. Zugleich erweiterte sie den Kreis der versicherungspflichtigen Personen. Neu eingeführt wurden eine freiwillige Zusatzversicherung und die Hinterbliebenenversicherung zugunsten der Witwen und Waisen der Versicherten.

Versicherungen für Angestellte, Bergleute und Apotheker

Viele Angestellten waren damals nicht in den Versicherungsschutz einbezogen. Sie strebten für sich eine eigene gesetzliche Versicherung an und fanden die Zustimmung der Parlamentarier, sodass das Angestelltenversicherungsgesetz schon am 1. Januar 1913 in Kraft treten konnte. Einziger Versicherungsträger war die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. Angestellte mit einem Jahresgehalt bis 2000 Mark blieben in der Invalidenversicherung versichert und wurden von beiden Versicherungen erfasst. Angestellte mit einem Jahresgehalt ab 5000 Mark waren nicht versicherungspflichtig. Eine Befreiung war durch den befristeten Abschluss eines Versicherungsvertrages mit einer privaten oder öffentlichen Lebensversicherungsanstalt möglich.

Das Reichsknappschaftsgesetz vom 23. Juni 1923 regelte die gesetzliche Rentenversicherung der im Bergbau Beschäftigten. Träger war der Reichsknappschaftsverein (später: Reichs- bzw. Bundesknappschaft) mit örtlichen Verwaltungsstellen. Ebenfalls in den 1920er Jahren bauten die Apotheker auf Landesebene ihre Versorgungswerke auf, die aber erst in den 1960er Jahren so umgestaltet wurden, dass sie eine Vollversorgung leisten.

Eine „Dauerbaustelle“

Im Ersten Weltkrieg und in den Nachkriegswirren mitsamt Inflation blieben die Sozialversicherungsanstalten nur dank einer Reihe von Gesetzesänderungen und Verordnungen funktionsfähig. Alle weiteren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen und Ereignisse haben sich auf die gesetzliche Rentenversicherung ausgewirkt: die Weltwirtschaftskrise mit der hohen Arbeitslosigkeit und empfindlichen Leistungskürzungen, die zwölfjährige Nazi-Diktatur mit dem Zweiten Weltkrieg, danach die Eingliederung von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, das „Wirtschaftswunder“, den Zuzug ausländischer Arbeitnehmer, die Einführung des Euro und den demografischen Wandel in der Gegenwart.

Deutsche Rentenversicherung

Am 1. Oktober 2005 gründeten die damals 22 Landesversicherungsanstalten (LVA, für die Arbeiter und Handwerker), die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), die Bundesknappschaft, die Bahnversicherungsanstalt und die Seekasse die Deutsche Rentenversicherung. Sie umfasst heute zwei bundesweite und 14 regionale Rentenversicherungen. Die Gesamtausgaben der Deutschen Rentenversicherung beliefen sich im Jahr 2012 auf knapp 250 Milliarden Euro. Knapp ein Viertel ihrer Einnahmen waren staatliche Zuschüsse. Dies erklärt den großen staatlichen Einfluss auf die gesetzliche Rentenversicherung. Sie ist zur „Dauerbaustelle“ geworden, die nur durch ständige Reformen funktionsfähig bleibt. 

Dieter Leopold/cae

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