Feuilleton

Valium hat Geburtstag

Die Psychopharmaka-Revolution der 50er Jahre

Anfang August 1963 führte die Firma Hoffmann-La Roche ein neues Präparat in den deutschen Arzneimittelmarkt ein: Valium® „Roche“. Es war für folgende Anwendungsgebiete bestimmt: Vegetative Dystonie, Schlaflosigkeit, psychosomatische Störungen und Organneurosen, Angina pectoris sowie klimakterische Beschwerden. Wegen der breiten Anwendungspalette und der scheinbar fehlenden Nebenwirkungen war es schon nach kurzer Zeit eins der am häufigsten verordneten Medikamente.

Die Geschichte der Therapie psychiatrischer Patienten ist eine Geschichte von Misserfolgen und Grausamkeiten. Umso segensreicher war die Einführung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin in den 1950er Jahren. Nicht weniger revolutionär war die Entwicklung der Tranquillanzien und Sedativa; sie waren zwar für Patienten mit weniger schweren psychischen Störungen bestimmt, die aber viel häufiger auftraten, sodass auch die Nachfrage sehr groß war und trotz vieler kritischer Töne heute noch ist. Am Anfang ihrer Geschichte steht das Carbaminsäurederivat Meprobamat (Miltown®, Miltaun®), das 1955 in den USA auf den Markt kam und sofort ein „Renner“ in den dortigen Apotheken war: Innerhalb von zehn Jahren wurden 14 Milliarden Tabletten abgesetzt. Dies war ein Vorgeschmack auf die noch viel größere Erfolgsgeschichte der Benzodiazepine, die 1960 begann und kein Ende zu kennen scheint. Erfinder der neuen Substanzklasse war der Chemiker Leo Henryk Sternbach (s. Kasten).

Leo Henryk Sternbach

Der „Vater“ von Librium® und Valium®

Foto: Roche
Leo Henryk Sternbach

Als Sohn eines polnisch-jüdischen Apothekers wurde Leo Henryk Sternbach am 7. Mai 1908 in Opatija in Kroatien geboren. Die Adriastadt gehörte damals zu Österreich-Ungarn; gut zehn Jahre später, als der Vielvölkerstaat zusammengebrochen war und auf mehrere Nationalstaaten aufgeteilt wurde, gelangte sie (vorübergehend) an Italien und hieß Abbazia. Da Vater Sternbach kein Italiener werden wollte, ging er mit seiner Familie nach Polen, wo er im Krakauer Ghetto eine Apotheke eröffnete.

In Krakau studierte Sternbach junior zunächst Pharmazie und nach bestandenem Examen Chemie. Trotz Promotion suchte er in Krakau und später in Wien vergeblich eine Stelle als Chemiker, fand diese aber 1937 an der ETH Zürich bei Leopold Ruzicka, der ebenfalls aus Kroatien stammte und 1917 die schweizerische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Ruzicka vermittelte Sternbach 1940 an die Firma Hoffmann-La Roche in Basel, die ihn ein Jahr später an ein Forschungslabor des Unternehmens in den USA (Nutley, New Jersey) versetzte.

In den 40er-Jahren befasste sich Sternbach erfolgreich mit der Synthese von Biotin, danach verlegt er sich mehr auf die Synthese neuer Verbindungen und entdeckte dabei die Benzodiazepine. 1966 wurde Sternbach zum medizinischen Direktor von Roche in Nutley ernannt, was für einen pharmazeutischen Chemiker eher ungewöhnlich war. Doch auch in dieser Position war er erfolgreich, denn er verstand es, „interdisziplinär zu planen und zu handeln“, und er betonte unermüdlich „die Zusammenhänge zwischen Grundlagenforschung und Klinik“ sowie „den Wert einer sich daraus ergebenden Konsekutivforschung“, wie es der mit ihm befreundete Krankenhausapotheker Dr. Otfried K. Linde einmal ausgedrückt hat. Auch im Ruhestand (ab 1973) arbeitete Sternbach bis über sein 90. Lebensjahr hinaus als Berater seiner Firma weiter und verfolgte die weitere Entwicklung seiner „Kinder“, der Benzos. Als 1987 publiziert wurde, dass Benzodiazepine auch in Pflanzen und Tieren von Natur aus vorkommen, konnte Sternbach die Nachricht lange Zeit nicht fassen. Es fiel ihm sehr schwer, zur Kenntnis zu nehmen, dass er nichts prinzipiell Neues erfunden hatte, sondern etwas nacherfunden hatte, wenn auch mit einem anderen Syntheseweg.

Leo Henryk Sternbach starb am 28. September 2005 im Alter von 97 Jahren in Chapel Hill in den USA. Ihm gebührt das äußerst seltene Verdienst, nicht nur wichtige Arzneistoffe, sondern sogar eine neue Arzneistoffklasse entdeckt zu haben.

Eine neue Substanzklasse

Sternbach befasste sich 1955 mit sogenannten Benzo-heptoxdiazinen, deren besonderes Strukturmerkmal ein siebengliedriger Ring mit zwei N- und einem O-Atom zu sein schien (Abb. 1); erst im Zuge seiner Synthesen und Analysen kam Sternbach zu der Erkenntnis, dass das O-Atom sich nicht im Heterozyklus befindet, sondern an das eine der beiden N-Atome eines Diazepin-Ringes gebunden ist, und zwar an dasjenige in 4-Stellung. Darauf beantragte er im Mai 1958 – er war gerade 50 Jahre alt geworden – den Patentschutz für die Synthese der 2-Amino-5-phenyl-1,4-benzodiazepin-4-oxide.

Abb. 1: Strukturformel eines Benzodiazepins mit falscher Heptoxdiazin-Struktur. Zeichnung von Sternbachs Mitarbeiter Earl Reeder, 1955. Aus [1].

Etwa ein Jahr zuvor hatten seine Mitarbeiter das pharmakologische Potenzial einer dieser Substanzen, des Chlordiazepoxids, entdeckt. Sie bewirkte bei Mäusen eine enorme Muskelentspannung und ließ wilde Tiere wie Affe, Luchs und Tiger in beeindruckender Weise zahm werden. Am 24. Januar 1958 unternahm Sternberg einen Selbstversuch mit Chlordiazepoxid, dessen ins Laborjournal geschriebenes Protokoll er selbst veröffentlicht hat (Abb. 2).

Abb. 2: „Cheerful“, „sleepy“ … Eintrag in Sternbachs Laborjournal vom 24. Januar 1958 nach Einnahme von 50 mg Ro 5-0690 (Chlordiazepoxid).

Er kam zu dem Schluss, dass die Substanz keine hypnotischen Eigenschaften hat und die Funktion des autonomen Nervensystems nicht beeinträchtigt. Zudem war ihre Toxizität sehr gering, was umso erfreulicher war, als Psychopharmaka damals häufig in Überdosis als Suizidgifte missbraucht wurden.

Etwas für die Gesundheit

Aufgrund dieser günstigen Voraussetzungen kam Chlordiazepoxid schon 1960 auf den Markt. Es erhielt den Namen Librium®, weil es das gestörte seelische Gleichgewicht (engl. „equilibrium“ oder lat. „aequilibrium“) der Patienten wiederherstellt, so jedenfalls der Anspruch des Herstellers. Schon kurz nach der Einführung war Librium® das am häufigsten verschriebene Arzneimittel in den USA, bis es im Jahr 1969 diesen Rang an Valium® verlor. Dessen Wirkstoff Diazepam war potenter, sodass nur geringere Dosierungen notwendig waren, und wurde auch in seinem Wirkprofil als überlegen erachtet. Sein Name ist die Kombination des lateinischen Wortstamms „val“, der Gesundheit bedeutet, mit der Endung „ium“ von Librium®.

Frauen als Klientel

Zu seinen besten Zeiten als Blockbuster brachte Valium® seinem Hersteller 600 Millionen Dollar jährlich ein. Am häufigsten wurde es Frauen am Beginn der zweiten Lebenshälfte verschrieben – die Indikation „klimakterische Beschwerden“ zielte von Anfang an auf diese Klientel (Abb. 3).

Abb. 3: In der DAZ aus dem Jahr 1963 wird Valium® als neues Arzneimittel bekannt gegeben.

Bereits 1965 spielten die Rolling Stones in ihrem Song „Mother’s little helper“ auf die fragwürdige Beliebtheit von Valium® gerade bei Frauen an, die zur Alltagsbewältigung eine „kleine Hilfe“ brauchen (s. Kasten). Einige Personen kombinierten Valium® paradoxerweise mit einem Psychostimulans, um die Sedierung im Griff zu haben – der Glaube an den Segen der Psychopharmaka trieb seltsame Blüten.

Mother’s little helper


Mother needs something today

to calm her down.

And though she‘s not really ill,

there‘s a little yellow pill.

She goes running for the shelter

of a mother‘s little helper.

And it helps her on her way,

gets her through her busy day.

Rolling Stones, 1965

Missbrauch und die Folgen

Die unkritische Verordnung von Valium® durch Ärzte machte nicht nur viele Patienten auf die Dauer abhängig, quasi ohne dass sie es merkten, sondern sie ermöglichte auch eine gefährliche Form des Missbrauchs, nämlich die Kombination mit Alkohol.

In einer Gesellschaft, die sowohl alkoholische Drinks als auch die Einnahme von Psychopharmaka als normal akzeptierte, fiel das nicht weiter auf. Bedenklich stimmten dann aber doch die schlagzeilenträchtigen Zusammenbrüche von Prominenten wie Simone de Beauvoir oder Liz Taylor und Todesfälle, bei denen Diazepam im Spiel war, so bei Elvis Presley 1977.

In den vielen generischen Diazepam-Präparaten setzt sich die Erfolgsgeschichte von Valium® 50 Jahre nach seiner Marktzulassung weiter fort. Obwohl die Familie der Benzodiazepine gewachsen ist und die Z-Substanzen mit anderer chemischer Struktur, aber gleichartiger Wirkungsweise den Arzneimittelmarkt bereichert haben, ist Diazepam nicht völlig zu ersetzen. Wer weiß, ob es noch einmal 50 Jahre vor sich hat? 

Quelle

[1] Sternbach L. Die Benzodiazepin-Story, in: Linde OK. Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit. Klingenmünster 1998, S. 271–289.

[2] Linde OK. Leo Henryk Sternbach 90 Jahre alt. Dtsch Apoth Ztg 1998; 138: 1713–1715.

[3] Caesar W. Leo Henryk Sternbach gestorben. Dtsch Apoth Ztg 2005; 145: 5659.

 

W. Caesar

Das könnte Sie auch interessieren

Geburtstag eines Klassikers

55 Jahre Valium

Benzodiazepine, Z-Substanzen und das zentrale Nervensystem

Ein Angriffspunkt, viele Wirkungen

Substanzmissbrauch ist bei traumatisierten Patienten häufig

Trauma und Sucht - ein Albtraum

Keine Unterschiede zwischen kurz- und langwirksamen Benzodiazepinen

Cave Abortrisiko

Risiken von Benzodiazepinen und Z-Substanzen vergleichbar

Mehr Stürze und Schlaganfälle unter Z-Substanzen bei Demenzpatienten

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.