DAZ aktuell

Apotheker 2.0

Gerhard Schulze

In einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) vom 8. Juli 2013 las ich vor Kurzem, dass viele Patienten mit Krampfanfällen, Zuckungen und Bewusstseinsstörungen als Epileptiker eingestuft werden, obwohl eine andere Erkrankung vorliegt. Synkopen und dissoziative Krampfanfälle würden am häufigsten als Epilepsie fehlgedeutet. Solche Patienten kämen dann nach längerem Leidensweg wegen vermeintlich pharmakoresistenter Epilepsien in eine spezielle Anfallsambulanz. Erst dort würde sich herausstellen, dass sie gar keine Epilepsie hätten, sondern andere Störungen, bei denen Neuroleptika nicht helfen. Die falsch positiven Epilepsie-Diagnosen kämen, so die DGKN weiter, durch die Fehlinterpretation von EEG-Befunden zustande, viele Neurologen hätten damit nicht genug Erfahrung.

Zu viele falsch positive Befunde gibt es auch rund um das Krankheitsbild Alzheimer, wie die Wissenschaftsjournalistin Cornelia Stolze in ihrem Buch "Vergiss Alzheimer" aufzeigt. Ihre Fundamentalkritik wird von der Tatsache untermauert, dass die inzwischen mögliche Auflösung der für das Leiden verantwortlich gemachten Beta-Amyloid-Ablagerungen nichts bringt. Allenfalls, so die "Ärzte Zeitung" in ihrer Online-Ausgabe vom 9. Juli 2013, sei eine medikamentöse Therapie ein bis zwei Jahrzehnte früher sinnvoll, wenn die Ablagerungen gerade erst anfangen, sich zu bilden. Hierzu soll es drei Präventionsstudien geben, am zugrundeliegenden Paradigma wurde nichts geändert. Und warum auch? Der Präventionsgedanke rechtfertigt heute alle möglichen Arzneimitteltherapien, kritisch hinterfragt wird da nur ganz selten etwas.

Doch zurück zu den falsch positiven Epilepsiediagnosen. Kommt ein solcher Patient in Ihre Apotheke, erhält er von Ihnen ein Medikament gegen eine Krankheit, die er gar nicht hat. Sie geben es ab und sagen ihm, er soll es regelmäßig einnehmen, mit Alkohol sparsam umgehen und das Auto am besten in der Garage lassen. Was sich halt jemand sagen lässt, der ein Neuroleptikum verordnet bekommen hat, das seine Lebensqualität einschränkt, seine Reaktionen verlangsamt, seinen Alltag bestimmt und sein Berufsleben erschwert, weil ihm Leistungen abverlangt werden, die er jetzt unter viel größeren Anstrengungen zu erbringen hat. Er wird dazu neigen, seine Erschöpfungszustände mit gesteigerter Kalorienzufuhr auszugleichen, und handelt sich damit auch die Gefahr von Übergewicht, Fehlernährung und Stoffwechselerkrankungen ein, und das alles wegen einer falschen Diagnose.

Auf die Gefahr einer möglicherweise überflüssigen Medikation müssten Sie ihren Kunden eigentlich hinweisen dürfen. Doch wenn Sie ihn fragen, ob es nicht sein könnte, dass die vom Arzt erhaltene Diagnose gar nicht stimmt, begeben Sie sich auf vermintes Gelände. Der Gesetzgeber verbietet Ihnen, eine Diagnose zu stellen, und auch der Hinweis auf eine eventuelle Fehldiagnose wird als unzulässige Einmischung in die ärztliche Kunst verstanden.

So können Ansätze wie Pharmaceutical Care, Medikationsmanagement und patientenorientierte Pharmazie ihre Möglichkeiten gar nicht erst entfalten. Die Chronologie und Bedeutung dieser Begriffe brachte DAZ-Herausgeber Peter Ditzel im Editorial der DAZ 2013, Nr. 28 auf den Punkt. Nun gesellt sich noch der Apotheker 2.0 dazu. Leeres Gerede? Plastikworte? Das sehen viele ganz anders. Zu den Nationen, die sich auf den Weg zum Apotheker des 21. Jahrhunderts gemacht haben, zählen unter anderem die Niederlande, Belgien, Australien, Neuseeland und verschiedene Staaten der USA. Wem es ernst damit ist, die Arzneimitteltherapie zu verbessern und in einer alternden, multimorbiden Gesellschaft die Heil- und Gesundheitskosten im Griff zu behalten, der müsste sich eigentlich die Apotheker ins Boot holen. Aber der Weg dahin ist hierzulande steil und steinig.

Wollen die Apotheker Heilberufler sein, wäre im oben geschilderten Fall Einmischung gefragt. Das funktioniert aber nur in einer fundamental anderen Apothekenkultur, in der ein Berufsprofil und ein Honorierungsmodell verwirklicht wären, das wohlüberlegte Kritik vorsieht, kein passives Hinnehmen unsinniger Maßnahmen.

Unser Gesundheitssystem ist fehlerhaft, aber es ist auch lernfähig. Dass alles Wissen nur Vermutungswissen ist, wie der Philosoph Karl Popper es formulierte, ist eine gern vergessene Selbstverständlichkeit. Sie muss bei jeder Fehldiagnose, bei jedem falsch verordneten Medikament in Erinnerung gebracht werden. Aber von wem? Ärzteschaft und Pharmaindustrie brauchen einen Counterpart, der genug Sachverstand hat, um Fehler aufzuzeigen und Alternativen zu entwickeln. Der globale Trend zum Apotheker 2.0 ist längst unterwegs. Wie lange noch ohne Deutschland?


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.

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