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Evidenzbasierte Pharmazie oder "Obst"?
Es begann mit der evidenz-basierten Medizin
Nach ihrem Begründer David Sackett gehören drei wesentliche Aspekte der evidenzbasierten Medizin (Evidence-based Medicine, EbM) zwingend zusammen, die in der kontrovers geführten Debatte immer wieder verzerrt werden:
1. Externe Evidenz verlangt wissenschaftlich fundierte Belege für eine Aussage.
2. Interne Evidenz ist die individuelle klinische Expertise der Ärzte: Eine gute Ausbildung und viel Erfahrung sind unverzichtbar, um wissenschaftliche Erkenntnisse in Therapie umzusetzen.
3. Vorstellungen und Wünsche der Patienten sind Bestandteil jeder Therapie.
Es ist das Verdienst des Deutschen Netzwerks evidenzbasierte Medizin (DNebM) und einiger engagierter Pharmazeutinnen, dass sich dort die Sektion evidenzbasierte Pharmazie (EbP) gegründet hat. Ihre Definition knüpft an Sackett an: EbP ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der pharmazeutischen Versorgung und Beratung. Dazu gehören systematische Beurteilung der wissenschaftlichen Literatur, pharmazeutische Erfahrung und die Berücksichtigung der Vorstellungen der Patienten und der Versorgungssituation.
In der berufspolitischen Auseinandersetzung findet EbP zu wenig Raum: so wird EbP im Jahresbericht 2011/12 der ABDA noch nicht einmal erwähnt!
Alte Forderungen noch aktuell
Mit Blick auf unsere arzneimittelpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte stellten wir fest: Der Begriff EbP ist neu und in der aktuellen Auseinandersetzung wichtig. Im Prinzip knüpft er an unsere immer wieder formulierten Forderungen an:
- Arzneimittelversorgung nach objektivem gesellschaftlichem Bedarf!
- Positivliste!
- Keine nutzlosen, riskanten Arzneimittel!
- Rationale Pharmakotherapie!
Das waren die alten Begriffe, die nach wie vor aktuell sind, denn auch in der Beratung immer noch vorherrschend ist die Orientierung an "Obst"-Literatur ("Old boys sitting together"): Diese Werke der "Eminence-based Medicine" bilden nicht das notwendige kritische Gegengewicht zu aggressiver und irreführender Arzneimittelwerbung.
"Spekulativer Unfug"
Schon Ignaz Semmelweis, der den Nutzen der Händedesinfektion mit Chlorkalk dokumentierte, war der Polemik seiner Fachkollegen ausgesetzt: "Spekulativer Unfug!"
Vor allem Standesinteressen und Vermarktungsstrategien der Pharmahersteller bilden bis zum heutigen Tage Hindernisse für evidenzbasierte Arbeit in der Pharmazie: Viele Studienergebnisse, insbesondere negative, werden nicht veröffentlicht. So zeigte sich im Falle von Pfizers Reboxetin nach Veröffentlichung aller Daten, dass sich die Wirkung des Antidepressivums nicht von der eines Placebos unterscheidet. ("Berliner Erklärung 2012: An die Bürgerinnen und Bürger in Europa: Die Verheimlichung von klinischen Studiendaten stoppen." Der VdPP hat mit gezeichnet.) Ghostwriter von wissenschaftlichen Artikeln sorgen für einseitige und verzerrte Darstellungen; selbst in renommierten Blättern kann Vorsicht geboten sein. Medizinisch-pharmazeutische Forschung in privater Hand ist orientiert an Verwertungsinteressen und weniger am medizinischen Bedarf der Menschen.
Evidenzbasierte Medizin ins SGB V eingezogen
Für viele im Sozialgesetzbuch V (SGB V) enthaltene Versorgungsbereiche werden seit dem Jahr 2000 gesicherte evidenzbasierte Grundlagen verlangt. Dazu gehört die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel gemäß AMNOG seit 2011. Für neue Arzneimittel muss in validen wissenschaftlichen Studien dargelegt werden, ob sie gegenüber bereits bestehenden Therapiestandards einen zusätzlichen Nutzen haben. Mit der Bewertung ist u. a. das 2004 gegründete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln beauftragt. Es ist verpflichtet, nach den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin zu arbeiten. Auf der Basis systematischer weltweiter Literaturrecherchen wird die wissenschaftliche Datenlage gesichtet. Während inzwischen auch eingeführte, patentgeschützte Arzneimittel dieser Bewertung unterzogen werden, gibt es noch starke Widerstände gegen vergleichbare Anforderungen an Medizinprodukte.
Die Inhalte der (hier kurz zusammengefassten) Vorträge und ihre lebhafte Diskussion in Arbeitsgruppen machten deutlich, dass noch viel zu tun ist, um eine wissenschaftlich fundierte, patientenorientierte Pharmazie voranzubringen. Abschließend sei noch ein Schwerpunkt herausgehoben:
EbP in der Beratung zur Selbstmedikation
Die Beratung in der Selbstmedikation ist eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder der in der Offizin arbeitenden Apothekerinnen und Apotheker. Ist sie evidenzbasiert, also durch wissenschaftliche Erkenntnisse gesichert? Nein, viel zu wenig. Gibt es dafür genügend fachliche Grundlagen, z. B. in der Aus- und Weiterbildung? Nein. Gibt es dafür gut geeignete Leitlinien? Nein. Gibt es eine darauf ausgerichtete Berufspolitik der ABDA? Nein. Das waren – leider – die Ergebnisse der Diskussion in der Arbeitsgruppe.
Natürlich gibt es viele gute Ansätze: engagierte Kolleginnen und Kollegen, die Evidenz zur Grundlage ihrer Empfehlungen machen (inklusive Sichtwahl und Schaufensterwerbung), auch schon ein Fachbuch "Evidenzbasierte Selbstmedikation" und gute evidenzbasierte Literatur zur Weiterempfehlung für Patientinnen und Patienten, zum Beispiel "Gute Pillen – schlechte Pillen" sowie IQWiG-Patienteninformationen.
Der VdPP bleibt dran an der evidenzbasierten Pharmazie
Am Donnerstag, den 7. November 2013, findet in Hamburg eine öffentliche Abendveranstaltung zum Thema "Evidenzbasierte Pharmazie in der Selbstmedikation" statt. Zusammen mit Dr. Judith Günther (Sprecherin des Fachbereichs "Evidenzbasierte Pharmazie" im Deutschen Netzwerk evidenzbasierte Medizin, DNEbM) und Dr. Monika Neubeck (Offizinapothekerin und Autorin des Buches "Evidenzbasierte Selbstmedikation") will der VdPP über Probleme und ihre Lösungen diskutieren.
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