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Kreative Aufarbeitung
Der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Prof. Dr. Walter Schwerdtfeger, beglückwünschte die Kooperation zu ihrem wissenschaftlichen und politischen Input. Er verwies auf die mannigfaltigen Beziehungen fachlicher Art zwischen Amt und Kooperation, unter anderem zum wichtigen Thema der Genotoxizität. Die Ergebnisse der Unternehmen seien für die europäische Traditionsliste sehr gut nutzbar, obwohl sich die Anzahl der Registrierungen für traditionelle pflanzliche Arzneimittel in der EU mit derzeit rund 750 durchaus bereits sehen lassen kann. Das BfArM hat laut Schwerdtfeger entschieden, die harmonisierten europäischen HMPC-Monographien unmittelbar als Entscheidungsgrundlage zu nehmen, und bereits 160 Registrierungen positiv beschieden. Demgegenüber bewegen sich die europäischen Zulassungsverfahren für pflanzliche Arzneimittel auf Basis der langjährigen medizinischen Anwendung (well-established use) immer noch im unteren zweistelligen Bereich.
"Dyspeptische Beschwerden"
Prof. Dr. Volker Fintelmann, Hamburg, langjähriger Vorsitzender der Aufbereitungskommission E beim BGA bzw. BfArM, verwies darauf, dass der Gesetzgeber damals im Auge hatte, die besonderen Therapierichtungen nach ihren Regeln beurteilen zu lassen, ein Ansatz, der jedoch im Laufe der Jahre immer mehr zurückstehen musste hinter der Herausforderung, den harten Kriterien der Schulmedizin genügen zu müssen. In den Anfangszeiten der Arbeit der Kommission E entstand, angestoßen durch Prof. Dr. Günter Vogel, die Kooperation Phytopharmaka, die der Kommission in der Folge die entscheidende Grundlage für die Erstellung der Monographien zu den Arzneidrogen geliefert und sich dabei "immer im Hintergrund gehalten" hat. Als ein Beispiel für die kreative Aufarbeitung der therapeutischen Erfahrung und deren Umsetzung in wissenschaftlich greifbare Termini führte Fintelmann den Begriff der "dyspeptischen Beschwerden" ein, den es damals noch nicht gab. Fintelmanns Vortrag war ein deutliches Plädoyer für die ärztliche Beobachtung und Erfahrung in der Phytotherapie, die sich seiner Überzeugung nach nicht dem Diktat der wissenschaftlichen Medizin hätte beugen sollen. Fintelmann forderte mehr Selbstbewusstsein, das methodische Prinzip pflanzlicher Arzneimittel zu betonen, dass darin besteht, mit den Regulationsmechanismen des Körpers und nicht dagegen zu wirken.
Viel ungenutztes Wissen
Über seine eigenen Erfahrungen mit Phytopharmaka und der Phytotherapie zwischen 1950 und 1976 berichtete Prof. Dr. Dr. mult. h. c. Heinz Schilcher, Immenstadt/Allgäu. Er brach eine Lanze für die nach seiner Auffassung unterbewerteten Kenntnisse der nichtakademischen Kräuterexperten. Er könne sich sogar vorstellen, "versandetes" Wissen über eine Ergänzung des DAB und des Europäischen Arzneibuchs um weitere Monographien aus dem DAB 6 und Vorläufern der Ph. Eur. zu reaktivieren. Schilcher forderte darüber hinaus mehr Phytotherapie-Vorlesungen und -Seminare für Medizinstudierende sowie eine Öffnung der Wissenschaft hin zu Laienvorträgen, Kräuterwanderungen, Artikel in Lokalzeitungen etc. Außerdem mahnte er einen kritischeren Umgang mit der Berichterstattung in Laien-Medien zum Nutzen und zur Wirksamkeit von Phytopharmaka an.
Auf die Facetten des Begriffs der "traditionelle Anwendung von Phytopharmaka" ging Priv.-Doz Dr. Axel Helmstädter, Marburg, ein. Seiner Einschätzung nach ist heute noch viel Wissen im Rahmen der Zulassung und Registrierung pflanzlicher Arzneimittel ungenutzt. Als weitere Ebene der evidenz-basierten Medizin sollte die "soziale Validierung" eingeführt werden. Diese beschreibt das Festhalten der Anwender an einem Verfahren, möglicherweise trotz besseren Wissens.
Monographien mit hohem Stellenwert
Die Situation pflanzlicher Arzneimittel aus regulatorischer Sicht beleuchtete Priv.-Doz. Dr. Werner Knöß, Leiter der Abteilung Besondere Therapierichtungen im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Bonn. Für ihn ist das Bekenntnis zu den besonderen Therapierichtungen nicht zuletzt erkennbar daran, dass die Monographien der Kommission E auch außerhalb von Deutschland einen hohen Stellenwert erreicht haben. Als gutes Zeichen für die Zukunft der Phytotherapie in Europa wertete Knöß zudem die Einrichtung des festen Ausschusses für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) bei der Europäischen Arzneimittelagentur, deren Arbeit sich mittlerweile in einer beträchtlichen Anzahl harmonisierter Monographien für Arzneidrogen niedergeschlagen hat. Als Berührungspunkt mit der Kooperation Phyto führte Knöß die Diskussion zu Genotox-Prüfungen für pflanzliche Arzneimittel an und begrüßte, dass es gelungen sei, gemeinsam vernünftige Regelungen für die Testung aufzustellen.
Knöß sieht eine schwindende Bedeutung der Phytotherapie an den Hochschulen verbunden mit "Gefahren" durch andere Produktklassen und die hieraus resultierende kompetitive Situation. "Während die Pharmazeuten an den Hochschulen eher in Richtung Molekularbiologie gehen, besetzen die Lebensmittelwissenschaftler diesen Bereich und nennen dies Neutraceuticals", meinte Knöß. Er mahnte, die Überlappungen zwischen den Bereichen so gering wie möglich zu halten, um die Erosion der pflanzlichen Arzneimittel in Grenzen zu halten.
PhytoVIS und Jugend forscht
Ein neues Dienstleistungsangebot der Kooperation Phytopharmaka, die PhytoVIS-Erfahrungsdatenbank, stellte Dr. Günter Meng, Karlsruhe vor. PhytoVIS gehört in den Bereich der Versorgungsforschung und soll Daten über den Nutzen der Behandlung mit pflanzlichen Arzneimitteln unter den Bedingungen des realen Patientenalltags gewinnen. Die Kooperation sucht engagierte Ärzte und Apotheker, die sich an dem Projekt beteiligen wollen. Die erhobenen Daten werden beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) verwaltet und sind auch nur dort auf Einzelanfrage gegen Gebühr abrufbar.
Schüler des Wiedtal-Gymnasiums in Neustadt berichteten von ihren Jugend-forscht-Arbeiten zu Pflanzenwirkstoffen in Schulprojekten in Zusammenarbeit mit der Kooperation Phytopharmaka. Das herausragende Engagement der Schule im naturwissenschaftlichen Bereich wurde 2012 mit dem Jugend-forscht-Schulpreis ausgezeichnet.
Arian Klein und Nadine Saam erläuterten ihre Versuche zur antibakteriellen Wirkung von Salbei, Thymian und Knoblauch, und Yanik Söltzer und Nils Kröll zeigten, wie man die Konzentrationsfähigkeit von Schülern selbst am Montagmorgen mit griechischem Bergtee verbessern kann.
Birgit Becker vom Wiedtal-Gymnasium Neustadt stellte ihre positiven Erfahrungen mit dem Einsatz der "Bildungskiste" zu pflanzlichen Arzneimitteln an den Schulen dar, einem weiteren Angebot der Kooperation Phytopharmaka. Das in der Kiste enthaltene Lehrmaterial wurde nicht nur von den Lehrern, sondern auch von den Schülern überwiegend als gut bis sehr gut bewertet.
Nicht locker lassen
Die Leiterin der Geschäftsstelle der Kooperation Phytopharmaka, Cornelia Schwöppe, zeigte die Geschichte der Kooperation Phytopharmaka auf. Die Kooperation Phytopharmaka ist eine wissenschaftliche Gesellschaft, die sich für die Belange und den Erhalt von pflanzlichen Arzneimitteln einsetzt. Auf ihrer Webseite (http://www.koop-phyto.org/) bietet sie wissenschaftliche Informationen für Fachkreise (z. B. Ärzte, Apotheker, Pharmahersteller) und Ratgeberseiten für Verbraucher über Arzneipflanzen an. Ausgehend von ihrer ersten "Bestimmung" bei der Gründung, dem Zusammentragen wissenschaftlichen Erkenntnismaterials für Arzneidrogen zur Unterstützung der Aufbereitung, hat sich die Kooperation Phytopharmaka in der Folge immer wieder neuen Aufgabenstellungen gewidmet wie etwa der Erstellung von Gutachten zur Unbedenklichkeit und zur Genotoxizität. Weitere Aushängeschilder sind das Online-Arzneipflanzenlexikon, das von Prof. Dr. Elisabeth Stahl-Biskup betreut wird, die "Bildungskiste" als Lehrmaterial für pflanzliche Arzneimittel zum Einsatz in Schulen sowie die zahlreichen Symposien und Stellungnahmen, mit denen sich die Kooperation immer wieder in die Diskussion um pflanzliche Arzneimittel einmischt. Diesbezüglich werde die Kooperation auch in Zukunft nicht locker lassen, versprach Schwöppe.
Denken hilft
Als Festredner hatten die Veranstalter Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Leiter des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Universität Ulm, eingeladen. Deutschlandweit ist der Psychiater und Gehirnforscher in den letzten Monaten mit seinem Buch "Digitale Demenz" bekannt geworden. Seine These: zu viel Fernsehen, zu viel Computer und digitale Medien machen Kinder dumm. Tests konnten zeigen, dass die Fähigkeit zu lernen und sich zu entwickeln durch einen starken Konsum an digitalen Medien leiden.
Interessante Ergebnisse berichtete er aus der Forschung. Untersuchungen haben gezeigt: Einsamkeit schmerzt. Einsame Menschen ohne familiäre oder freundschaftliche Bindungen vertragen weniger Schmerzen als Menschen, die in eine Gemeinschaft oder Familie eingebunden sind. Folgerichtig lassen sich auch aufgrund von Einsamkeit entstandene Schmerzen durch Einnahme von Analgetika lindern. Eine doppelblinde randomisierte Studie mit Paracetamol konnte dies nachweisen. Diese Erkenntnis sollte bei der Dosierung von Analgetika berücksichtigt werden.
Zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns bestätigte Spitzer: Das Hirn wächst um so mehr, je mehr man es benutzt. Spitzer: "Das Gehirn ist wie ein paradoxer Schuhkarton: je mehr drin ist, umso mehr passt rein." Durch Lernen und Denken bilden sich vermehrt Synapsen, über die Neurone miteinander kommunizieren. Vor diesem Hintergrund ist es auch für Kinder besser, statt sich häufig mit dem Computer zu beschäftigen, mehr zu lesen, Theater zu spielen, zu malen oder handwerkliche Fähigkeiten einzuüben.
Macht Google dumm? fragte Spitzer. Ja, meint der Hirnforscher, weil Google dazu verleitet, weniger zu lernen. Allerdings: je mehr man weiß, je mehr man aus Büchern und Zeitschriften gelernt hat, umso besser kann man googlen. Denn ein gutes Vorwissen hilft, um die Suchmaschine sinnvoll zu gebrauchen.
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