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Klinische Pharmazie
Die Priscus-Liste im Test
Eine Arbeitsgruppe um Dr. Martin Smollich vom St. Franziskus-Hospital in Münster führte die breit angelegte Untersuchung in Kooperation mit Prof. Dr. G. Hempel (Fachbereich Chemie und Pharmazie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster) und der Klinik für Geriatrische Rehabilitation Maria Frieden Telgte (Dr. B. Elkeles) durch. Dazu wurden verlaufsrelevante Daten sowie die Gesamtmedikation von 308 geriatrischen Patienten (≥ 65 Jahre, Durchschnittsalter 81 Jahre) im Rahmen ihres stationären Aufenthaltes erfasst; die anschließende Risikobewertung der Medikation erfolgte mittels deutscher Priscus-Liste sowie anhand der drei international verbreiteten Beers-, START-, und STOPP-Listen.
Übersicht der verwendeten Screening-Tools
Priscus-Liste
Die speziell für den deutschen Arzneimittelmarkt konzipierte Priscus-Liste [2] aus dem Jahr 2010 stuft 83 Arzneistoffe teilweise dosisabhängig als potenziell inadäquate Medikation ein. Als Methode zur Erstellung der Priscus-Liste wurde ein modifiziertes Delphi-Verfahren gewählt, bestehend aus einer mehrfachen schriftlichen Expertenbefragung sowie einer abschließenden Konferenz. Für jeden der gelisteten Wirkstoffe werden Gründe für die Negativlistung genannt, es werden sinnvollere Therapiealternativen vorgeschlagen, und es werden Vorsichtsmaßnahmen aufgeführt, falls der gelistete Wirkstoff trotz bestehender Bedenken eingesetzt werden soll. Weiterhin werden für jeden Wirkstoff zu vermeidende Komorbiditäten gelistet, also Begleiterkrankungen, bei denen die entsprechende Substanz aufgrund einer deutlichen Risikoerhöhung erst recht nicht eingesetzt werden sollte. Beispielsweise wird innerhalb der nicht-steroidalen Antirheumatika Indometacin als ein "kritisches" Analgetikum gelistet (Tab. 1); Grund für die Listung ist das hohe Risiko gastrointestinaler Komplikationen und zentralnervöser Störungen insbesondere bei älteren Patienten. An dieser Stelle aufgeführte Alternativen sind Paracetamol, schwach wirksame Opioide oder bestimmte Koanalgetika. Als Maßnahmen zur Risikoreduktion bei medizinisch alternativlosem Einsatz nennt die Priscus-Liste unter anderem die Kombinationstherapie mit protektiven Wirkstoffen (z. B. Protonenpumpeninhibitoren) sowie die Kontrolle von gastrointestinalen Ulcera und Nierenfunktion. Die naheliegenden, zu vermeidenden Komorbiditäten werden explizit genannt, ergeben sich aber grundsätzlich aus den Kontraindikationen – also vorbestehende Ulcera, schwere Herzinsuffizienz usw. Die in der Priscus-Liste genannten 83 Wirkstoffe sind nach Wirkstoffgruppen entsprechend der Roten Liste geordnet.
Tab. 1: Wirkstoffbeispiele aus der Priscus-Liste | ||||
Arzneistoff |
Begründung |
Therapiealternativen |
Maßnahmen, falls das Arzneimittel trotzdem angewendet werden soll |
zu vermeidende Komorbiditäten |
Indometacin |
höheres Risiko für GI-Blutungen, Ulzerationen oder Perforationen, auch mit letalem Ausgang |
Paracetamol
(schwach wirksame) Opioide (Tramadol, Codein)
Koanalgetika wie Antidepressiva, Antikonvulsiva bei entsprechender Symptomatik ggf. schwächere NSAID (z. B. Ibuprofen) Metamizol (nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung)
nicht-medikamentöse Maßnahmen |
Gabe von Protonenpumpeninhibitoren,
Kontrolle von Magen-Darm-Ulcera, Nierenfunktion und Blutdruck,
Dosisreduktion |
Magen- oder Darm-
Ulcera, Leber-/Nierenfunktionsstörungen
|
Pethidin |
Delir-Risiko |
Tilidin/Naloxon, Morphin, Oxycodon, Buprenorphin, Hydromorphon |
klinische Kontrolle (z.B. Opioid-Effekte, ZNS-Funktion), Dosisanpassung |
ZNS-Funktionsstörungen, Niereninsuffizienz |
Fluoxetin |
Hyponatriämie, Übelkeit, Schlafstörungen |
andere SSRI (Sertralin, Citalopram), Trazodon, Mirtazapin |
Kontrolle der Nierenfunktion und klinischer Verträglichkeit |
Harnverhalt, Harninkontinenz, ZNS-Funktionsstörungen, schwere Obstipation, Hyponatriämie u. a. |
Beers-Liste
Die amerikanische Beers-Liste [3] aus dem Jahr 1991, die die potenziell inadäquate Medikation für den geriatrischen Patienten zusammenfasst, geht auf den Geriater Mark Beers zurück und wurde in den Jahren 2003 und 2012 noch einmal deutlich modifiziert [4, 5]. Methodische Grundlage der Beers-Liste war wie bei der Priscus-Liste die Kombination von Delphi-Verfahren und Expertenkonferenz. Von besonderem Wert für deutsche Apotheker und Ärzte ist die Übersetzung und Adaption der ursprünglich amerikanischen Beers-Liste auf die Gegebenheiten und Präparate des deutschen Arzneimittelmarktes, die 2007 durch den Arbeitskreis Klinische Pharmazie der Freien Universität Berlin und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erfolgte [6].
Die modifizierte Beers-Liste aus dem Jahr 2003 besteht aus zwei Tabellen: Die Beers-Tabelle 1 listet zum Teil dosisabhängig und unabhängig von der Diagnose 48 Arzneistoffe oder Arzneistoffklassen auf, die bei geriatrischen Patienten wegen eines ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses grundsätzlich nicht eingesetzt werden sollten. Hierbei handelt es sich um Substanzen, die bei geriatrischen Patienten besonders häufig zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen führen, deren Wirksamkeit nicht nachgewiesen ist oder für die bessere und risikoärmere Alternativen zur Verfügung stehen. Die in Beers-Tabelle 1 gelisteten Arzneistoffe werden gemäß ihrem Risikoprofil in einen niedrigen oder hohen Schweregrad eingeteilt (siehe Tab. 2). In dieser Liste finden sich beispielsweise ältere Antihistaminika mit ausgeprägten anticholinergen Wirkungen (Diphenhydramin, Promethazin), Cimetidin wegen häufiger unerwünschter ZNS-Wirkungen oder Ergotaminderivate wegen zweifelhafter Wirksamkeit. Die Beers-Tabelle 2 führt potenziell inadäquate Arzneimittel diagnoseabhängig an, nennt also Grunderkrankungen, bei denen bestimmte Wirkstoffe vermieden werden sollten. Hierzu zählen z. B. Olanzapin bei Adipositas (weitere Appetitsteigerung), trizyklische Antidepressiva bei Herzrhythmusstörungen (zusätzliches arrhythmogenes Potenzial) oder Metoclopramid bei Morbus Parkinson (antidopaminerge Wirkungen). Arzneistoffe, die der neuesten Überarbeitung der Beers-Liste aus dem Jahr 2012 hinzugefügt wurden, sind z. B. Dabigatran und Spironolacton (beide diagnoseunabhängig). Ebenfalls neu hinzugekommen sind Trospium bei chronischer Obstipation und Acetylcholinesterasehemmer bei Synkopen.
Tab. 2: Wirkstoffbeispiele aus der Beers-Liste | |||
Arzneistoff |
Begründung |
kontraindiziert |
Schweregrad |
Antihistaminika (z. B. Diphenhydramin, Hydroxyzin, Promethazin) |
anticholinerge Wirkungen |
diagnoseunabhängig |
hoch |
Ticlopidin |
keine Überlegenheit gegenüber ASS, bessere und sicherere Alternativen verfügbar |
diagnoseunabhängig |
hoch |
Olanzapin |
Appetitanregend, fördert Gewichtszunahme |
nicht bei Adipositas |
niedrig |
Calcium-Kanal-Blocker |
Verstärkung einer Obstipation |
nicht bei chronischer Obstipation |
niedrig |
STOPP-Liste
Die irische STOPP-Liste (screening tool of older people‘s inappropriate prescriptions) enthält 64 Bewertungskriterien, die bei der Identifizierung kritischer Arzneimitteltherapien helfen und die dazu dienen, inadäquate Therapien zu stoppen [7]. Kriterien sind hier beispielsweise fehlende Indikationen, bestimmte Diagnosen oder risikoreiche Arzneistoffkombinationen (Tab. 3). Dabei wird nahezu vollständig auf die explizite Nennung von Arzneistoffen verzichtet, wodurch die STOPP-Liste sehr flexibel und arzneimittelmarktunabhängig einsetzbar ist. Die STOPP-Kriterien unterteilen sich nach Organsystemen; beispielsweise ist ein STOPP-Kriterium für das kardiovaskuläre System die Gabe von Digoxin (> 125 µg/d) bei eingeschränkter Nierenfunktion, da es bei entsprechenden Patienten schnell zu Herzglykosid-Intoxikationen kommen kann. Die Anwendung von Theophyllin als Monotherapie bei COPD wird im Bereich des respiratorischen Systems als inadäquat bewertet, da es sicherere und wirksamere Alternativen gibt.
Tab. 3: Beispiele für die STOPP-Kriterien | |
Kriterium |
Begründung |
kardiovaskuläres System | |
Digoxin > 125 µg/d bei eingeschränkter Nierenfunktion |
erhöhtes Intoxikationsrisiko |
Betablocker in Kombination mit Verapamil |
erhöhtes Risiko eines AV-Blocks |
zentrales Nervensystem | |
trizyklische Antidepressiva bei Demenz |
Gefahr der Verschlechterung der Kognition |
trizyklische Antidepressiva bei Glaukom |
Glaukomverschlechterung |
gastrointestinales System | |
Metoclopramid bei Parkinson |
Verschlechterung der Parkinsonsymptomatik |
START-Liste
Komplementär zu den STOPP-Kriterien dienen die START-Kriterien dazu, eine medikamentöse Untertherapie/Unterversorgung zu erkennen und Indikationen für den Start einer Arzneimitteltherapie zu ermitteln; START-Kriterien dienen also der Identifizierung einer fehlenden Therapie bei bestehender Indikation (siehe Tab. 4) [8]. Auch hier findet sich die Einteilung nach Organsystemen wieder. So wird z. B. Diabetes mellitus mit bestehender Nephropathie als START-Kriterium für die Therapie mit einem ACE-Hemmer bzw. Sartan bewertet; gleiches gilt beispielsweise für den Einsatz eines Beta-Blockers bei Patienten mit chronisch stabiler Angina pectoris.
Tab. 4: Beispiele für die START-Kriterien |
kardiovaskuläres System |
chronische Herzinsuffizienz: START-Kriterium für einen ACE-Hemmer
Angina pectoris: START-Kriterium für einen Betablocker
|
endokrines System |
Diabetes mellitus mit Nephropathie: START-Kriterium für einen ACE-Hemmer oder einen ARB
Diabetes mellitus mit > 1 Risikofaktor (z. B. Hypertonie): START-Kriterium für eine Statintherapie
|
Zusammenfassung der Studienergebnisse
Die 308 geriatrischen Patienten, die in die Untersuchung der Münsteraner Arbeitsgruppe eingeschlossen wurden, erhielten während des stationären Aufenthalts durchschnittlich 11,7 Arzneistoffe; 43% dieser Patienten erhielten gemäß Definition der Priscus-Liste eine inadäquate Medikation. Besonders häufig wurden dabei inadäquate Benzodiazepine, Amitriptylin und (Acetyl-)Digoxin angewendet. Als einziges ungeeignetes Opioid-Analgetikum führt die Priscus-Liste aufgrund des erhöhten Delir-Risikos Pethidin auf; Pethidin spielt in der aktuellen Schmerztherapie jedoch praktisch keine Rolle mehr und wurde zum Zeitpunkt der Untersuchung keinem Patienten verordnet. Bei Anwendung der Beers-Liste auf die verordnete Medikation der Patienten fanden die Autoren bei 35% der Patienten mindestens eine inadäquate Medikation. Auffällig waren auch hier die Benzodiazepine, Amitriptylin und Amlodipin. Basierend auf den STOPP-Kriterien erhielt jeder Patient durchschnittlich 1,2 ungeeignete Arzneistoffe; so nahm eine Vielzahl sturzgefährdeter Patienten beispielsweise einen Arzneistoff ein, der das Sturzrisiko erhöht (Benzodiazepine, Antihistaminika der ersten Generation, Opioide).
Die Autoren konnten außerdem gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen PIM-Listen aufzeigen: Hinsichtlich ihrer Praktikabilität erwiesen sich Priscus-Liste und Beers-Liste zwar als gleichwertig, doch war die Priscus-Liste hinsichtlich der Anzahl ermittelter potenziell inadäquater Arzneimittel eindeutig überlegen. Hauptgrund hierfür ist die Anpassung der Priscus-Liste an den deutschen Arzneimittelmarkt, während die Beers-Liste für den amerikanischen Arzneimittelmarkt konzipiert wurde. Ein Schwachpunkt der Priscus-Liste wurde jedoch ebenfalls deutlich: Während sie die kritischen Arzneistoffe diagnoseunabhängig als potenziell inadäquate Medikation einordnet, definiert die Beers-Liste das Risiko angepasst an die Diagnose. Dieser Nachteil der Priscus-Liste kommt auch im Vergleich mit den STOPP-Kriterien zum Tragen, die auf pauschale Wirkstoff-Indizierung zugunsten komplexerer – und damit klinisch relevanterer – Bewertungskriterien verzichten. So kann die fehlende Nennung kritischer NSAR (z. B. Diclofenac) in der Priscus-Liste zur Annahme führen, diese seien bei geriatrischen Patienten bedenkenlos anwendbar. Umgekehrt ist mitunter auch die Gabe von Wirkstoffen notwendig, die die Priscus-Liste undifferenziert als potenziell inadäquate Medikation einstuft.
Darüber hinaus wurde in der vorliegenden Untersuchung der besondere Stellenwert der klinischen Pharmazie deutlich, da die Bewertung und Anpassung der geriatrischen Medikation erst durch die Zusammenarbeit zwischen klinisch tätigen Stationsapothekern und den behandelnden geriatrischen Ärzten erfolgreich umgesetzt werden konnte.
Fazit: Arzneistoffe diagnoseabhängig bewerten
Die vorliegende Untersuchung bestätigt den klinischen Stellenwert der Priscus-Liste, benennt aber auch wesentliche Schritte zu ihrer weiteren Optimierung. Hierzu zählt insbesondere ihre Erweiterung um diagnoseabhängige STOPP-Kriterien, womit die bislang pauschale Wirkstofflistung sinnvoll ergänzt werden könnte. Nach Ansicht der Autoren würde eine entsprechende Anpassung den Stellenwert der Priscus-Liste deutlich erhöhen und zu mehr Arzneimitteltherapiesicherheit bei geriatrischen Patienten beitragen.
Quellen
[1] Siebert S, et al.: Die Priscus-Liste im klinischen Test. Praktikabilität und Vergleich mit internationalen PIM-Listen. Z Gerontol Geriat (2012) DOI 10.1007/s00391-012-0324-4.
[2] Holt S, et al.: Potentiell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die Priscus-Liste. Dtsch Ärztebl Int (2010) 107: 543 – 551.
[3] Beers MH: Explicit criteria for determining potentially inappropriate medication use by the elderly. Arch Intern Med (1997) 157: 1531 – 1536.
[4] Fick DM, et al.: Updating the beers criteria for potentially inappropriate medication use in older adults - results of a US consensus panel of experts. Arch Intern Med (2003) 163: 2716 – 2724.
[5] Fick DM, Semla TP: American Geriatrics Society Beers Criteria: new year, new criteria, new perspective. J Am Geriatr Soc (2012) 60: 614 – 615.
[6] Schwalbe O, et al.: (2007) Die Beers-Liste. Ein Instrument zur Optimierung der Arzneimitteltherapie geriatrischer Patienten. MMP 7: 244 – 248.
[7] Gallagher P, et al.: STOPP (Screening Tool of Older Person’s Prescriptions) and START (Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment). Consensus validation. Int J Clin Pharmacol Ther (2008) 46: 72 – 83.
[8] Barry PJ, et al.: START (Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment). An evidence-based screenng tool to detect prescribing omissions in elderly patients. Age
Ageing (2007) 36: 628 – 631.
Autoren
Svenja Siebert, Dr. Martin Smollich
St. Franziskus-Hospital, Münster Priv.-Doz. Dr. Barbara Elkeles
Klinik für Geriatrische Rehabilitation Maria Frieden, TelgteProf. Dr. Georg Hempel, Dr. Julia Kruse
Institut für Pharmazeutische und Medizinische Chemie, Klinische Pharmazie, Münster
Korrespondenzadresse
Dr. Martin SmollichSt. Franziskus-Hospital Münster Hohenzollernring 72 48145 Münster
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