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Medizin
Insektenstiche
Stiche durch Insekten mit einem Giftstachel oder durch blutsaugende Insekten lösen beim Menschen in den meisten Fällen eine örtliche Hautreaktion aus, können aber auch mit Krankheitserscheinungen einhergehen, die toxisch oder allergisch verursacht und potenziell lebensbedrohlich sind. In Deutschland am häufigsten sind Lokalreaktionen auf Stiche von Stechmücken (Culicidae), pathogenetisch bedingt durch eine allergische Reaktion auf Proteine des Insektenspeichels. Bei etwa 75% der Betroffenen bildet sich eine Quaddel (Sofortreaktion) und bei etwa 50% eine Papel (Spätreaktion).
Wespen- oder Bienenstiche am häufigsten
Klinisch bei Weitem bedeutsamer ist die klassische IgE-vermittelte systemische Reaktion auf einen Insektenstich mit den Symptomen der Allergie vom Soforttyp (Anaphylaxie). Hervorgerufen wird die Insektenallergie in der Regel durch Stiche von Insekten aus der Ordnung Hymenoptera (Hautflügler). Hierbei handelt es sich in den meisten Fällen um die Honigbiene (Apis mellifera) und Faltenwespen (Vespula vulgaris und V. germanica), seltener um Hummeln (Bombus spp.), Hornissen (Vespa crabro) oder Ameisen (Formicidae).
Mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung erfährt im Lauf des Lebens mindestens einmal einen Hymenopterenstich (siehe Abb. 1 in der Printausabe, Seite 55). Die Angaben zur Häufigkeit systemischer Reaktionen liegen zwischen 1,2 und 3,5%, wobei schwere Anaphylaxien vor allem durch Wespenstiche ausgelöst zu sein scheinen. Durch Allergietests oder Bestimmung der spezifischen IgE-Antikörper im Serum ließ sich eine IgE-vermittelte Insektengiftsensibilisierung bei bis zu 25% der Bevölkerung nachweisen, bei Kindern sogar bis zu 50%. Laut Statistischem Bundesamt kam es in den Jahren 1990 bis 2006 zu 335 Sterbefällen nach Kontakt mit Wespen, Bienen oder Hornissen – dies entspricht rund 20 Fällen pro Jahr. Männer waren mit 68,4% deutlich häufiger betroffen als Frauen. Aufgrund der hohen Dunkelziffer kann die tatsächliche Prävalenz der Insektengiftallergie und die damit verbundene Mortalität nicht genau beziffert werden.
Stechmücken als Krankheitsüberträger
Auch wenn die Übertragung von Krankheitserregern von Insekten auf Menschen nicht Gegenstand dieses Beitrags ist, soll auf die weltweite Gefahr von Stechmücken als Vektoren für Infektionskrankheiten hingewiesen werden, die vor allem in Afrika, Asien und Südamerika verbreitet sind. Genannt seien die Anopheles-Mücken (Malaria), die Ägyptische und die Asiatische Tigermücke (Aëdes aegypti bzw. A. albopticus; Gelbfieber, Dengue-Fieber und Chikungunya-Erkrankung, eine mit Fieber und Gelenkschmerzen einhergehende Infektion). Die Asiatische Tigermücke wurde 2007 in Baden-Württemberg einmalig nachgewiesen; im selben Jahr gab es in Norditalien einen länger dauernden Chikungunya-Krankheitsfall. Denkbar ist, dass der zunehmende internationale Personen-, Tier- und Warenverkehr sowie der globale Klimawandel auch in gemäßigten Zonen wie Mitteleuropa das Auftreten von Infektionen begünstigen, deren Verbreitung sich bislang auf tropische und subtropische Regionen beschränkte. Aufgrund der fortschreitenden Erwärmung mit sommerlichen Hitzewellen und relativ milden Wintern dürften als Vektoren fungierende Insekten künftig auch in unseren Breiten verbesserte Brutbedingungen vorfinden. So konnte sich Aëdes albopticus zwischenzeitlich auch im Mittelmeerraum und Teilen der Schweiz etablieren, allerdings schreibt ihr das Robert-Koch-Institut ein relativ geringes Potenzial zur Übertragung des Dengue-Virus zu.
Toxinwirkung des Insektengiftes
Entwicklungsgeschichtlich leitet sich der Stachel der Hymenopteren aus einem Organ zur Eiablage ab und findet sich daher nur bei den Weibchen. Bei einem Bienenstich bleiben Stachel und Giftapparat meist in der Haut zurück, es werden bis zu 140 μg Gift abgegeben. Dagegen ziehen Wespen ihren Stachel meist wieder zurück, die injizierte Giftmenge liegt bei bis zu 3 μg. Hymenopterengifte enthalten niedermolekulare Verbindungen wie das biogene Amin Histamin sowie potenziell allergene Peptide und Proteine, die speziesspezifisch sind. Die Hauptallergene bei IgE-vermittelter Anaphylaxie sind
im Bienengift Phospholipase A2, Hyaluronidase sowie wahrscheinlich saure Phosphatase und eine Serinprotease,
im Wespengift Phospholipase A1, Hyaluronidase und Antigen 5.
Bienengift ist mit Wespen- oder Hummelgift demnach verwandt, aber nicht identisch. Immunologische Kreuzreaktionen auf Allergene in Bienen- und Wespengift bzw. anderen Giften von Hautflüglern sind häufig, möglich sind auch Kreuzreaktionen auf Pollen- oder Nahrungsmittelallergene.
Erleidet der Betroffene eine große Anzahl von Stichen, kann die Toxinwirkung in seltenen Fällen zu schweren, manchmal tödlich verlaufenden Krankheitsbildern führen. Hier stehen Ereignisse wie Rhabdomyolyse, Hämolyse, zerebrale Störungen sowie Leber- und Nierenparenchymschäden im Vordergrund.
Schmerzhafte Lokalreaktion
An der Stichstelle zeigt sich die toxische Wirkung des bei einem Bienen- oder Wespenstich abgegebenen Giftes als schmerzhafte Rötung und Schwellung, die meist einen Durchmesser von wenigen Zentimetern aufweist (Abb. 2) und sich innerhalb eines Tages deutlich zurückbildet. Eine gesteigerte Lokalreaktion zeigt eine mehr als 10 cm große erythematöse Schwellung, die länger als 24 Stunden persistiert und eine nichtinfektiöse Lymphangitis sowie milde Allgemeinbeschwerden wie Krankheitsgefühl oder Frösteln hervorrufen kann. Die Diagnose ergibt sich aus der Anamnese und dem Befund; eine allergologische Diagnostik ist in der Regel nicht indiziert.
Örtliche Stichreaktionen werden symptombezogen behandelt:
topisch stark wirksames Glucocorticoid als Creme oder Gel, gegebenenfalls als feuchter Umschlag (etwa 20 Minuten, gegebenenfalls bis zu zweimal in mehrstündigem Abstand wiederholen),
orales H1-blockierendes Antihistaminikum,
bei ausgeprägter lokaler Reaktion: orales Glucocorticoid, Prednisolonäquivalent 0,5 bis 1 mg/kg Körpergewicht (rasche Dosisreduktion, Absetzen nach 3 bis 5 Tagen),
bei gesteigerter lokaler Reaktion im Kopf- oder Halsbereich: zusätzlich Nachbeobachtung, symptombezogene Therapie bei Obstruktion der Luftwege.
Stachel entfernen!Im Fall eines Insektenstichs die Stichstelle mit der Hand bedecken. Einen in der Haut steckengebliebenen Stachel möglichst rasch entfernen. Achtung: Um ein Ausdrücken des Giftsacks zu vermeiden, den Stachelapparat nicht mit den Fingern zusammenpressen, sondern mit einem Fingernagel wegkratzen! |
Bedrohliche Anaphylaxie
Eine systemische oder Überempfindlichkeitsreaktion auf einen Hymenopterenstich ist dadurch gekennzeichnet, dass ihre Symptome keinen örtlichen Zusammenhang mit der Stichstelle aufweisen. Die klinisch bedeutsamste Form ist die meist durch einen einzigen Stich ausgelöste Anaphylaxie. Pathogenetisch handelt es sich hierbei um eine typische Allergie vom Soforttyp: Durch spezifische, gegen Komponenten des Insektengiftes gerichtete IgE-Antikörper werden Mastzellen und basophile Granulozyten aktiviert und setzen Mediatoren wie Histamin frei, die zur akuten Reaktion führen. Der Schweregrad I bis IV der Anaphylaxie ergibt sich aus den jeweiligen Symptomen (Tab. 1). Typisch, aber keinesfalls obligat sind Hautsymptome – oft beginnend mit Juckreiz an Handflächen, Fußsohlen, Kopfhaut und Genitalbereich.
Tab. 1: Schweregrade anaphylaktischer Reaktionen [nach 6, 7] | ||||
Grad I |
Grad II |
Grad III |
Grad IV |
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Haut |
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ZNS |
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Abdomen |
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Respirations- trakt |
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Herz- Kreislauf-System |
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Ein anaphylaktischer Schock ist ein lebensbedrohlicher Notfall, der einer Akuttherapie bedarf. Die je nach Schweregrad unverzüglich einzuleitenden Maßnahmen sind die kardiopulmonale Reanimation (bei Grad IV), Adrenalingabe (bei Grad ≥ II; durch Ersthelfer im Allgemeinen intramuskulär), sobald wie möglich die Anlage eines intravenösen Zuganges (bei allen Schweregraden) und falls erforderlich die Intubation und Beatmung (Therapiealgorithmus für Erwachsene siehe Abb. 3).
Da eine abgeklungene anaphylaktische Reaktion rezidivieren kann (biphasische Anaphylaxie), ist eine stationäre Nachbeobachtung von mindestens zehn Stunden erforderlich.
Identifizierung des auslösenden Insektes
Bei einer typischen Lokalreaktion nach Insektenstich ist eine Diagnostik über den aktuellen Befund hinaus in der Regel nicht notwendig. Anders bei einer (seltenen) Intoxikation und vor allem bei einer Anaphylaxie: Hier ist wegen des Risikos erneuter, potenziell lebensbedrohlicher Reaktionen eine rasche allergologische Diagnostik zur Identifizierung des Anaphylaxieauslösers indiziert. Bei Wespen- oder Bienengiftallergie wird sich in den meisten Fällen eine spezifische Immuntherapie (Hyposensibilisierung) anschließen.
Die diagnostischen Möglichkeiten nach Stichen, die nicht von Bienen oder Wespen vollführt wurden, sind begrenzt, da die Allergene anderer Insekten nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Bei Verdacht auf einen Hummel- oder Hornissenstich können Tests mit Bienen- und Wespengift hilfreich sein, da zwischen den Giften eine enge Verwandtschaft sowie eine partielle Kreuzreaktivität bestehen.
Anamnestisch wird der Patient in den meisten Fällen angeben, dass er von einer Biene oder Wespe gestochen wurde. Manchmal allerdings ist die Unterscheidung nicht sicher möglich und die Angabe möglicherweise nicht korrekt. Hinweise auf das fragliche Insekt (s. Abb. 4 in der Printausgabe, Seite 58) können sich aus folgenden Kriterien ergeben:
Bienen verhalten sich (außer am Bienenstock) eher "friedlich"; im Vergleich zu Wespen sind sie stärker behaart und haben ein eher gleichmäßig bräunlich gestreiftes Abdomen. Ihr Stachel ist mit einem Widerhaken versehen und bleibt nach dem Stich meist in der Haut zurück. In der Nähe von Bienenstöcken und blühenden Pflanzen sind sie besonders häufig. Die Flugzeit reicht vom Frühjahr bis zum Spätsommer.
Wespen zeigen eine auffällige schwarz-gelbe Warnfärbung und sind aggressiver; ihr Stachel bleibt nach dem Stich meist nicht in der Haut zurück. Sie haben eine Vorliebe für menschliche Nahrungsmittel oder Abfall und bauen ihre Nester gerne am Boden (z. B. Mauselöcher), aber auch in Rolladenkästen, Estrichen oder Dachstühlen. Ihre Flugzeit ist vor allem im Sommer bis Spätherbst.
Hummeln sind stark behaart, haben – im Gegensatz zu Bienen, Wespen und Hornissen – einen rundlich-ovalen Körper und sind mehrfarbig, meist gelb-schwarz gestreift. Sie leben am Boden und bilden wesentlich kleinere Völker, ernähren sich von Pollen und Nektar und fliegen im Gegensatz zu Bienen auch bei schlechtem Wetter Blüten an. Auch ihr Stachel verbleibt nach dem Stich nicht in der Haut.
Hornissen gehören zur Familie der Faltenwespen. Sie sind meist auffällig gefärbt, mit brauner bis schwärzlichbrauner Grundfarbe und kräftig gelber Musterung auf dem Abdomen. Sie leben gerne in Baumstümpfen und interessieren sich kaum für menschliche Nahrung. Im Wesentlichen ernähren sie sich karnivor, d. h. sie jagen und erbeuten andere Insekten. Ansonsten bevorzugen sie kohlenhydratreiche Nahrung in Form von süßen Baumsäften (z. B. Eichen oder Eschen), gärendem Fallobst und Blütennektar.
Risikoprofil von Betroffenen
Um die künftige Gefährdung eines Betroffenen einzuschätzen, sollte sein individuelles Risikoprofil erfasst werden. Eine stärkere Gefährdung besteht grundsätzlich für Menschen mit häufiger Insektenexposition, Disposition zu schwerer Anaphylaxie sowie vorbestehenden, vor allem kardiovaskulären Erkrankungen. Die wichtigsten individuellen Risikofaktoren zeigt Tabelle 2.
Tab. 2: Individuelle Risikofaktoren für Anaphylaxie durch Insektenstich [nach 1] |
Risiko häufiger Exposition |
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Erhöhtes Risiko für schwere Anaphylaxie |
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Ein besonders hohes Risiko haben erwachsene Patienten mit einer systemischen Mastozytose, die durch Anhäufungen von Mastzellen in der Haut oder in den inneren Organen wie Darm, Leber oder Milz gekennzeichnet ist. Bei 3 bis 5% der Menschen mit Insektengiftanaphylaxie besteht eine Mastozytose, und bei rund 80% dieser Patienten kommt es nach Insektenstich zur Anaphylaxie des Schweregrads III oder IV. Bei etwa 10% der Betroffenen wird eine erhöhte basale Serumtryptasekonzentration (bST) über 11,4 μg/l gefunden. Zur Diagnostik gehören daher auch eine Hautinspektion zur Erkennung einer kutanen Mastozytose sowie die Bestimmung der bST (Blutprobe frühestens 24 Stunden nach der anaphylaktischen Reaktion).
Allergologische Diagnostik
Die spezifische Diagnostik zur Identifizierung des auslösenden Allergens beginnt in der Regel mit Hautpricktests und/oder Intradermaltests mit den Giften von Biene und Wespe, die als Arzneimittel zur Verfügung stehen. Um die individuelle Reaktionsschwelle zu ermitteln, haben sich beim Pricktest Giftkonzentrationen von 1,0 μg/ml, 10 μg/ml und 100 μg/ml bewährt, falls notwendig zusätzlich auch 300 μg/ml. Bei negativem Pricktest sollte (außer bei Kindern im Vorschulalter) ein Intradermaltest mit 1,0 μg/ml durchgeführt werden.
Alternativ dazu ist ein ausschließlicher Intradermaltest möglich; die Konzentrationen betragen dann 0,001 μg/ml, 0,01 μg/ml, 0,1 μg/ml und 1,0 μg/ml. Eine zusätzliche Testung auf andere Allergene ist sinnvoll, vor allem auf weit verbreitete Aeroallergene, z. B. von Haustieren, Hausstaubmilben und Gräserpollen.
Ebenfalls werden die spezifischen IgE-Antikörper im Serum gegen Bienen- und Wespengift bestimmt, falls erforderlich auch gegen andere Insektenallergene. Idealerweise wird die Bestimmung (ebenso wie die Hauttests) etwa vier bis sechs Wochen nach dem Stich wiederholt, da die Antikörperkonzentration infolge der Boosterung durch die Antigenexposition in diesem Intervall deutlich ansteigen kann.
Führt die Basisdiagnostik nicht zum Ziel, sollten die Hauttests mit einer anderen Testzubereitung wiederholt und die spezifischen IgE-Antikörper gegen relevante rekombinant hergestellte Einzelallergene bestimmt werden (derzeit verfügbar sind Api m 1, Ves v 1, Ves v 5). Besteht immer noch kein eindeutiger Befund, stehen spezialisierten allergologischen Zentren als zelluläre Zusatzuntersuchungen ein Basophilenaktivierungstest, ein Leukotrienfreisetzungstest oder ein Histaminfreisetzungstest zur Verfügung. Eine individuelle Sensibilisierung liegt nahe, wenn die Inkubation mit Insektengift zu einer spezifischen Basophilenaktivierung oder Leukotrien- bzw. Histaminfreisetzung führt.
In etwa der Hälfte der Fälle wird eine Sensibilisierung sowohl gegen Bienen- als auch gegen Wespengift gefunden; dies kann auf einer primären Sensibilisierung gegen beide Gifte oder auf kreuzreagierenden Antikörpern beruhen. Grundsätzlich sind bei allen Testverfahren falsch positive oder falsch negative Resultate möglich. Zu beachten ist auch, dass zwischen dem ermittelten Sensibilisierungsgrad einerseits und dem (bisherigen oder künftigen) Schweregrad anaphylaktischer Reaktionen andererseits in der Regel keine klinisch verwertbare Korrelation besteht.
NotfallsetNotfallset bei früherer gesteigerter Hautreaktion:
Notfallset bei früherer systemischer anaphylaktischer Reaktion:
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Spezifische Immuntherapie
Die langfristige Therapie nach systemischer anaphylaktischer Insektenstichreaktion besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten, zunächst der Allergenvermeidung (s. Tab. 4), dann aus Selbsthilfemaßnahmen bei erneutem Stich (s. Kasten Notfallset) und als wichtigstem Schritt aus der spezifischen Immuntherapie (SIT) mit Bienen- oder Wespengift. Bei Erwachsenen ist die SIT nach Insektenstichreaktion indiziert bei:
Anaphylaxie Schweregrad ≥ II oder Schweregrad I plus Risikofaktor (s. Tab. 2) bzw. eingeschränkter Lebensqualität durch die Insektengiftallergie sowie
Nachweis einer Sensibilisierung (Hauttest, spezifisches IgE) auf das auslösende Gift.
Zur subkutanen Injektion stehen wässrige Allergenzubereitungen sowie an Aluminiumhydroxid adsorbierte Depotpräparate zur Verfügung, mit der Standarderhaltungsdosis von 100 μg Insektengift lassen sich etwa 75 bis 95% der Behandelten vor einer erneuten Stichanaphylaxie schützen. Da die Therapie mit Bienengift weniger wirksam ist als diejenige mit Wespengift, sollten Patienten mit Bienengiftallergie und Risikofaktoren (Imker, Mastozytose) von vornherein mit einer erhöhten Erhaltungsdosis von 200 μg behandelt werden. Für die Phase der Dosissteigerung gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Vorgehensweisen:
Schnellhyposensibilisierung: stationär mit wässriger Allergenzubereitung, Erreichen der Erhaltungsdosis nach Stunden (Ultra-Rush) bis wenigen Tagen (Rush),
konventionelle SIT: ambulant mit wässriger oder aluminiumhydroxidadsorbierter Allergenzubereitung), Erreichen der Erhaltungsdosis nach Wochen bis Monaten.
Tab. 3: Steigerung der Erhaltungsdosis von 100 µg auf 200 µg mit wässriger Insektengiftzubereitung über drei Tage (nach [1]) | ||
Zeit |
Dosierung |
|
1. Tag |
0 min |
100 µg |
+ 30 min |
20 µg |
|
+ 30 min |
30 µg |
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2. Tag |
0 min |
150 µg |
+ 30 min |
20 µg |
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+ 30 min |
30 µg |
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3. Tag |
0 min |
200 µg |
Tab. 4: Maßnahmen zur Vermeidung von Insektenstichen |
Allgemeines Verhalten im Freien |
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Kleidung |
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Wohnräume |
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Verhalten in der Nähe von Nestern und Futterquellen |
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Im Allgemeinen – vor allem bei Patienten mit erhöhtem Risiko schwerer Anaphylaxie – wird die stationäre Schnellhyposensibilisierung empfohlen, bei der die Erhaltungsdosis in drei bis fünf Tagen erreicht wird. Nachteile der ambulanten SIT über Wochen oder Monate sind der verzögerte Beginn der Schutzwirkung und die erschwerte Therapie systemischer Nebenwirkungen. Ein Therapieprotokoll zur Steigerung der üblichen Erhaltungsdosis von 100 µg auf 200 µg aus der aktuellen Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Bienen- und Wespengiftallergie zeigt Tabelle 3.
Vor allem in der Steigerungsphase kann sich eine Schwellung und Rötung an der Injektionsstelle ausbilden; ebenfalls kann es häufiger zu einmaligen systemischen anaphylaktischen Nebenwirkungen kommen, die jedoch meist mild verlaufen und problemlos therapierbar sind. Wiederholte systemische anaphylaktische Nebenwirkungen – wenn auch selten auftretend – deuten dagegen auf ein Versagen der spezifischen Immuntherapie hin. Bringt eine Modifikation der SIT keine Besserung, besteht "off label" die Möglichkeit, den rekombinanten monoklonalen Anti-IgE-Antikörper Omalizumab einzusetzen, um die SIT-Nebenwirkungen zu vermeiden. Mangels Laborparameter wird zur Erfolgskontrolle der spezifischen Immuntherapie ein Stichprovokationstest mit einem lebenden Insekt empfohlen. Dieser wird in der Regel 6 bis 18 Monate nach Erreichen der Erhaltungsdosis in intensivmedizinischer Notfallbereitschaft durchgeführt. Falls der Patient immer noch mit systemischen anaphylaktischen Symptomen reagiert, wird umgehend die SIT-Erhaltungsdosis erhöht, wodurch sich in den meisten Fällen ein vollständiger Schutz erreichen lässt.
Literatur[1] Przybilla B, Ruëff F, Walker A, et al. Diagnose und Therapie der Bienen- und Wespengiftallergie. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI), des Ärzteverbandes Deutscher Allergologen (ÄDA), der Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin (GPA), der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (ÖGAI) und der Schweizerischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (SGAI). Allergo J 2011;20:318 – 339. [2] Schäfer T. Epidemiologie der Insektengiftallergie. Allergo J 2009;18:353 – 358. [3] Przybilla B, Ruëff F. Insektenstiche – klinisches Bild und Management. Dtsch Ärztebl 2012;109(13):238 – 248. [4] Petri E. Notsituation anaphylaktischer Schock bei Insektengiftallergie. Notfall & Hausarztmedizin 2005;31:72 – 75. [5] Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI), Ärzteverband Deutscher Allergologen (ÄDA), Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin (GPA), Deutsche Akademie für Allergologie und Umweltmedizin (DAAU). Akuttherapie anaphylaktischer Reaktionen. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 061/025. Allergo J 2007;16:420 – 434. [6] Müller-Werdan U, Werdan K. Anaphylaktischer Schock. In: Eckart, Forst, Burchardi (Hrsg). Intensivmedizin. Landsberg 2004. [7] Ring J, Messmer K. Incidence and Severity of Anaphylactoid Reactions to Colloid Volume Substitutes. Lancet 1977;1:466 – 469.
Autor
Clemens Bilharz, Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Stuttgart
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