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Feuilleton
Vor 150 Jahren starb der Entdecker des Cocains
Zwei Namensvettern
Das angebliche Porträt Albert Niemanns erschien erstmals 1901 in der "History of Coca" des amerikanischen Arztes William Golden Mortimer (1854 – 1933), der als Quelle vermerkte: "From a Copper-plate Print at the Bibliotheque Nationale, Paris." Freilich handelt es sich um die Darstellung des Opernsängers Albert Niemann (1831 – 1917), der sich übrigens nebenher zum eigenen Vergnügen als Chemiker betätigte.
Die beiden Namensvettern könnten weitläufig verwandt gewesen sein. Der Tenor war der Sohn eines Gastwirtes aus Erxleben bei Magdeburg. In der gleichen Region, und zwar in Klein-Wanzleben, wuchs Christoph Gotthilf Carl Niemann (1782 – 1865), der Vater des Cocainentdeckers, auf. Er wurde 1816 Bürger in Goslar, wo er ab 1833 als Rektor des Progymnasiums wirkte. In Goslar brachte seine Ehefrau Christiana Sophie Caroline geb. Klee am 20. Mai 1834 einen Sohn zur Welt, der am 15. Juni in der evangelische Stephanikirche auf den Namen Friedrich Albert Emil getauft wurde.
Von der Apotheke in Wöhlers Laboratorium
Der Knabe besuchte das Goslarer Progymnasium und trat 1849 als Lehrling in die Göttinger Ratsapotheke ein, die damals im Besitz von Dr. Gerhard Jordan (1806 – 1875) war. Drei Jahre später nahm Albert Niemann nebenher ein Studium an der Göttinger Georgia Augusta auf. Er besuchte die Vorlesungen zur Chemie von Friedrich Wöhler (1800 – 1882), zur Pharmazie von Heinrich August Wiggers (1803 – 1880) und zur Botanik von Heinrich Rudolf August Grisebach (1814 – 1879). Ab Herbst 1853 arbeitete Niemann in der Krankenhausapotheke (1833 eröffnet) von Linden bei Hannover, danach in der 1846 gegründeten Ägidien-Apotheke von A. Hildebrand in Hannover. Zur Vorbereitung auf sein pharmazeutisches Staatsexamen nahm Niemann im Herbst 1858 seine Studien an der Göttinger Universität wieder auf, wo er nun auch noch Vorlesungen zu Mineralogie und Physik besuchte. Vor allem widmete er sich der experimentellen Arbeit in Wöhlers chemischem Laboratorium.
Experimente mit Senfgas
Niemann forschte eigenständig und dokumentierte ein wichtiges Ergebnis in der 1859 fertig gestellten und im folgenden Frühjahr geduckten Abhandlung: "Ueber die Einwirkung des braunen Chlorschwefels auf Elaylgas". Bei dieser Reaktion von Dischwefeldichlorid mit Ethylen fand er ein "dem Meerettigöl [Meerrettichöl] gleichendes und mit einem ähnlichen, wenn gleich nicht so heftigen penetranten Geruche begabtes Öl". Es handelte sich um Senfgas (Dichlordiethylsulfid, C4 H8 Cl2 S), das Niemann laut Conrad Stich (1934) als erster dargestellt haben soll. Heute gilt indessen César-Mansuète Despretz (ca. 1791 – 1863) als Entdecker dieser Verbindung. Über deren außerordentliche Giftigkeit schrieb Niemann in seiner Abhandlung: "Die charakteristischste Eigenschaft dieses Öles ist zugleich eine sehr gefährliche. Sie besteht darin, daß selbst die geringste Spur, die zufällig auf irgend eine Stelle der Haut kommt, anfangs zwar keinen Schmerz hervorruft, nach Verlauf einiger Stunden aber eine Röthung derselben bewirkt und bis zum folgenden Tage eine Brandblase hervorbringt, die sehr lange eitert und außerordentlich schwer heilt, unter Hinterlassung starker Narben – eine Wirkung, welche dieser Körper auf gleiche Weise bei verschiedenen Individuen hervorbrachte. Es ist deßhalb auch beim Arbeiten mit demselben große Vorsicht erforderlich."
Ein aufregendes Prinzip höchst flüchtiger Natur
Wöhler nahm Niemanns Publikation wohlwollend zur Kenntnis, ernannte ihn zu seinem Assistenten und gab ihm ein Thema für die Doktorarbeit, nämlich die Isolierung der physiologisch wirksamen Base in den Blättern des südamerikanischen Cocastrauchs (Erythroxylum coca). Dieses Thema war aktuell, seitdem der deutsche Arzt Eduard Friedrich Poeppig (1798 – 1868) seine "Reise in Chile, Peru und auf dem Amazonenstrome während der Jahre 1827 – 32" herausgebracht hatte (1835). Darin heißt es:
"Die Coca ist dem Peruaner eine Quelle seiner besten Freuden, denn unter ihrer Einwirkung weicht der gewöhnte Trübsinn von ihm und seine schlaffe Phantasie stellt ihm dann Bilder auf, deren er sich im gewöhnlichen Zustand nie zu erfreuen hat. Kann sie auch nicht ganz das Gefühl der Überreizung hervorbringen, wie das Opium, so versetzt sie doch in einen nicht unähnlichen Zustand, welcher darum doppelt gefährlich ist, weil er, im schwächeren Grade zwar, weit längere Zeit anhält." Längere Zeit verbrachte Poeppig in einer Cocapflanzung, um die "Zauberkraft des Krautes" zu ergründen, und kam zu der Feststellung: "Das aufregende Prinzip der Coca ist höchst flüchtiger Natur, und scheint sich in geringerer Menge in den Blättern vorzufinden […] Ob je die weitgediehene Chemie unserer Zeit dasselbe darzustellen vermögen werde, bleibt sehr zu bezweifeln, denn im Lande selbst erklärt man die zwölf oder mehr Monate alte Coca für unbrauchbar."
Eine neue organische Base
Ein Vierteljahrhundert später löste Niemann das Geheimnis "höchst flüchtiger Natur". Das dokumentierte er in seiner 52-seitigen, mit einer Bildtafel versehenen Abhandlung: "Über eine neue organische Base in den Cocablättern. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doctorwürde in Göttingen von Albert Niemann aus Goslar. Göttingen, Druck der Universitäts-Buchdruckerei von E. A. Huth. 1860."
Gegliedert hatte Niemann seine Abhandlung wie folgt:
"Einleitendes. I. Botanische Verhältnisse. 1. Abstammung; Geographische Verbreitung; Allgemeinere Charaktere der Gattung und der Art. 2. Cultur, Gebrauch und Wirkung der Blätter. II. Chemische Untersuchung der Cocablätter. 1. Bisherige Vorarbeiten. 2. Darstellung eines Alkaloides. 3. Eigenschaften des Cocains. 3. Darstellung von Salzen. 4. Verhalten des Cocains gegen Reagentien. 5. Bestimmung des Atomgewichts. 6. Zusammensetzung des Cocains. 7. Darstellung des Pflanzenwachses aus Cocablättern. 8. Darstellung und Eigenschaften der Gerbsäure der Cocablätter. 9. Versuch zur Isolierung des riechenden Princips."
In der Einleitung gelangte Niemann zu der Feststellung: "Seitdem durch die im Jahre 1804 durch Sertürner erfolgte Entdeckung des Morphins im Opium der erste Beweis von der Existenz organischer Salzbasen in den Pflanzen, als Producte des vegetabilischen Lebens, geliefert […] war, […] hat man es oft versucht, auch in anderen heftig und eigenthümlich auf den Organismus wirkenden Pflanzentheilen ähnliche Körper aufzusuchen, in der Vermuthung, dass auch bei diesen vielleicht die physiologische Wirksamkeit an solche basische Körper geknüpft sei. […] Mit der Isolirung und Reindarstellung der Alkaloide bereicherte die chemische Forschung die materia medica mit einer Reihe der schätzbarsten Arzneimittel."
Noch bevor die Dissertation gedruckt wurde, hatte Wöhler in den "Nachrichten von der Georg-Augusts-Universität und der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen" Nr. 10 vom 21. März 1860 einen ersten Bericht über Niemanns Entdeckung gegeben ("Über eine organische Base in der Coca"), der in mehreren deutschen und französischen Periodika referiert wurde. Darin hatte Wöhler auch die anästhesierende Wirkung des Cocains erwähnt: "Es schmeckt bitterlich und übt auf die Zungennerven die eigenthümliche Wirkung aus, dass die Berührungsstelle vorübergehend wie betäubt, fast gefühllos wird."
Eine "ganz bedeutende Arbeit"
Wenige Tage später, am 28. März 1860, erstellte Wöhler sein Gutachten zu Niemanns "ganz bedeutende[r] Arbeit", wobei er bemerkte. "Ich hatte die Absicht, die Arbeit selbst vorzunehmen, mußte sie aber – geplagt wie ich bin mit Geschäften aller Art – unterlassen. Das Material dazu, die durch ihre wunderbaren, physiologischen Wirkungen berühmte und namentlich in Peru allgemein als aufregendes Mittel gebrauchte und kultivierte Coca, hatte auf meinen Wunsch der Direktor der geologischen Reichsanstalt in Wien, W. Haidinger, von Dr. Scherzer auf der Fahrt der österreichischen Fregatte Novara von Lima mitbringen lassen." Zudem kündigte Wöhler "Versuche an Thieren und Menschen" an, um festzustellen, "ob das Cocain, wie übrigens nicht zu zweifeln ist, wirklich den specifisch wirksamen Bestandtheil der Cocablätter ausmacht, […] Versuche, die vielleicht auch für die practische Medizin wichtige Resultate geben können."
Tod mit 26 Jahren
Auch diese Arbeiten übernahm Niemann, doch schon bald verschlechterte sich rasch sein Gesundheitszustand. Er kehrte schwerkrank nach Goslar in sein Elternhaus zurück, wo er am 19. Januar 1861 starb – laut Sterberegister der Stephanipfarrei an einer "Lungenvereiterung". Dazu stellte Rudolph Zaunick (1949), der Niemann zum "erste[n] Opfer einer Dichlordiäthylsulfid-Vergiftung" erklärte, fest: "Unter dieser diffusen Diagnose kann durchaus eine letzte, letale Schädigung durch Dichlordiäthyl-Schwefel-Verbindungen verstanden werden. Denn das Dichlordiäthylsulfid wird durch die Lungen absorbiert, wo es in die Zellen eindringt und in deren wässeriger Phase wahrscheinlich Salzsäure abspaltet, die dann das Gewebe angreift und der Anlaß zu Eiterungen wird. Das nekrotische Gewebe stellt ein gutes Nährsubstrat für Krankheitserreger aller Art dar, so daß es auf dem Boden der lokalen Schädigung nach F. Flury und H. Wieland leicht zur Infektion kommt, die schwer übersehbare Komplikationen schaffen kann. Gerade bei den Lungen liegt die Gefahr weniger in der direkten Wirkung des Giftstoffes selbst, als vor allem in sich anschließenden Infektionen."
Wöhler unterrichtete die Fachwelt von Niemanns Tod durch die Notiz "Fortsetzung der Untersuchungen über die Coca und das Cocain" in den "Nachrichten von der Georg-Augusts-Universität"; darin teilte er auch mit, dass die Untersuchungen nun an "Herrn W. Lossen übertragen" seien. Wilhelm Lossen (1838 – 1906) schrieb darauf die 1862 in Göttingen gedruckte, 32-seitige Dissertation "Über das Cocain", die wie folgt aufgebaut war: "Über die Darstellung und die Eigenschaften des Cocains. Salze des Cocains. Über das Ecgonin, ein Zersetzungsprodukt des Cocains. Über das Hygrin, eine flüchtige Base in den Cocablättern. Über die in den Cocablättern enthaltenen Säuren."
Cocain seit 1862 im Handel …
Lossen beschrieb ein neues, preiswerteres Verfahren zur Gewinnung von Cocain, das kommerziell nutzbar war, sodass Cocain noch im selben Jahr in den Handel kam: Erstmals erschien es in der Preisliste der Firma E. Merck, Darmstadt, vom Herbst 1862.
Nachfolgend experimentierten verschiedene Mediziner mit dem Cocain, und 1880 resümierte der in Würzburg tätige baltische Mediziner Dr. Basil von Anrep (1852 – 1927) in seiner Abhandlung "Über die physiologische Wirkung des Cocain", "dass noch viele Widersprüche zwischen den einzelnen Angaben vorhanden sind und dass es wohl nicht überflüssig ist, nochmals die Cocainwirkung einer experimentellen Prüfung zu unterwerfen und zu sehen, ob es nicht möglich ist, die wunderbare Cocawirkung aus der physiologischen Wirkung des Cocain zu begreifen."
Cocain spielte vorerst keine nennenswerte Rolle in der Therapie; etwas bedeutender waren Cocawein und andere Präparate, die den Fluidextrakt der Cocablätter enthielten und als Appetitanreger dienten.
… und seit 1884 als Anästhetikum etabliert
Am 21. April 1884 schrieb Sigmund Freud (1856 – 1939), damals noch als Arzt am Allgemeinen Krankenhaus in Wien beschäftigt, an seine Braut Martha: "Ein Deutscher [es war von Anreps Kollege Dr. Theodor Aschenbrandt] hat nun dieses Mittel bei Soldaten versucht und wirklich angeben, dass es wunderbar kräftig und leistungsfähig mache." Er selbst verfasste danach seine Schrift "Über Coca", in der er die Anwendung von Cocapräparaten zur Morphin- und Alkoholentwöhnung empfahl, was zu erheblichen Kontroversen führte; zudem verwies Freud auf die anästhesierenden Eigenschaften des Cocains und nannte denkbare Anwendungen. Zeitgleich, aber unabhängig von Freud begannen Dr. Leopold Königstein (1850 – 1924) und Dr. Carl Koller (1857 – 1944) die anästhesierende Wirkung des Cocains bei Eingriffen am Auge, in der Nase und im Rachen zu nutzen.
Karriere als Rauschgift
In wenigen Jahren stieg der Import von Cocablättern auf das Hundert- bis Tausendfache. Zudem entstanden ab 1885 auch in Peru Cocainfabriken. Mit der Verfügbarkeit cocainhaltiger Arzneimittel begann auch ihr Missbrauch, auf den der Staat mit der Betäubungsmittelgesetzgebung reagierte. Damit begann die steile Karriere des illegalen Rauschgifts Cocain, deren Ende nicht abzusehen ist.
Autor
Andreas Hentschel, M.A.
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